Vorreiterrolle beim Religionsunterricht?

Impulse aus der Schweizer Diskussion für andere Länder Europas

Die religionspädagogische Landschaft und Lage in der Schweiz ist in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt sowohl der deutschsprachigen und der europäischen Fachzunft1 wie auch der medialen Öffentlichkeit geraten.“2

In der Tat: Brennpunktartig bündeln sich im schweizerischen Raum Tendenzen, die für Deutschland, ja für viele Länder Europas typisch sind:

– ein markanter Bedeutungsverlust von Religion oder besser Konfession in der privaten Lebensführung; ein signifikanter Rückgang des Einflusses christlicher Kirchen in der Gesellschaft

– was man als Säkularisierung bezeichnen kann; dazu gegenläufig eine Aufwertung der religiösen Thematik im öffentlichen Diskurs; und schliesslich eine fortschreitende religiöse Pluralisierung. Wie geht eine „pluralitätsgewohnte Nation“3 wie die Schweiz mit dem Phänomen einer wachsenden Vielfalt von Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen in Bezug auf Bildungsprozesse um? Es lohnt sich, dass das „Europa im Grossen“ – und darin Deutschland – auf entsprechende Entwicklungen im „Europa im Kleinen“ kritisch-konstruktive Blicke wirft, um im Sinne eines Lernens am Modell Erkenntnisse zu gewinnen. Ich beginne mit einem kurzen Vergleich religionsunterrichtlicher Konzeptionen in der Schweiz und in Deutschland (1). Danach markiere ich zentrale Erträge der schweizerischen Diskussion um den Religionsunterricht (2) und schliesse in einem letzten Schritt einige kritische Rückfragen an (3).

1. Deutschland – Schweiz: Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Selbstverständlich gibt es nicht den Religionsunterricht in der Schweiz, genauso wenig wie es nur ein einziges religionsunterrichtliches Konzept in Deutschland gibt. Dennoch lässt sich grosso modo folgendes Bild erheben:

– In Deutschland und in der Mehrzahl der Schweizer Kantone ist Religionsunterricht eine obligatorische Veranstaltung. Allerdings sind die Begründungen für die verpflichtende Teilnahme ganz unterschiedlich: Während der Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an Verfassungsrang besass, ist der obligatorische Religionsunterricht in der Schweiz erst in jüngerer Zeit aus dem kulturellen und religiösen Pluralisierungsdruck erwachsen.

– In Deutschland haben die Bundesländer ein Ersatzfach, meist „Ethik“ genannt, für diejenigen Schülerinnen und Schuler eingerichtet, die nicht am konfessionellen Religionsunterricht teilnehmen können oder wollen. In Brandenburg gibt es das Schulfach LER: Lebensorientierung – Ethik – Religionskunde. Solche Fächer sind gewissermassen „bekenntnisunabhängig „. Und doch ist der Sinn des Wortes hier ein anderer als in der Schweiz. Die Fächer „Ethik“ und LER richten sich nämlich primär an Schülerinnen und Schüler, die nicht konfessionell gebunden sind oder sich von ihrer Konfession distanzieren. Bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht in der Schweiz hingegen versammelt alle Schülerinnen und Schüler, auch und gerade solche, die bestimmten Religionen bzw. Konfessionen angehören.

– In der Schweiz wie in Deutschland ist die Religionsfreiheit als Grundrecht anerkannt. Allerdings unterscheiden sich die Lesarten dieses Grundrechts erheblich: Die schweizerische Bundesverfassung buchstabiert in Artikel 15 die Religionsfreiheit tendenziell negativ aus; sie verbietet jeden Zwang, „religiösem Unterricht zu folgen“. Das deutsche Grundgesetz favorisiert in Artikel 7,3 hingegen eine positive Auslegung. Religionsunterricht erscheint in diesem Kontext als die Eröffnung der Möglichkeit, das Grundrecht auf Religionsfreiheit adäquat wahrzunehmen. 4

– Religionsunterricht ist in beiden Staaten explizit ein Bildungsfach, in der Schweiz erst seit kürzerer Zeit, in Deutschland seit 1974, als das Dokument „Der Religionsunterricht in der Schule“ von der Würzburger Synode beschlossen wurde. Während der bekenntnisunabhängige Religionsunterricht in der Schweiz aber ausschliesslich pädagogisch begründet ist, wurde dem deutschen Religionsunterricht eine Konvergenzargumentation unterlegt, in der mit gleichem Gewicht pädagogische und theologische Begründungen aufgeboten und miteinander verschränkt werden.

2. Erträge der schweizerischen Diskussion um den Religionsunterricht

Die anhaltenden, verzweigten und durchaus kontroversen Diskussionen um den Religionsunterricht in der Schweiz werfen vielfache Erträge ab. Vier scheinen mir besonders wichtig zu sein:

1. Religion hat Bildungswert, und Religionsunterricht ist ein Bildungsfach. Beides war in der Schweiz über lange Zeit nicht selbstverständlich. Oft genug war Religionsunterricht in seinen Grundzügen als Katechese konfiguriert. Das schloss – natürlich! – bildende Momente nicht aus. Aber das Grundkonzept war ein anderes: nämlich Erschliessung und Vertiefung eines vorausgesetzten Glaubens und Beheimatung in der Gemeinde. Die Debatten in der Schweiz haben mit Nachdruck deutlich gemacht, dass Religion – auch und gerade für moderne Gesellschaften – ein Bildungsgut darstellt, dessen Pflege weder dem privaten noch dem kirchlichen Raum allein anheimgestellt werden kann, sondern allgemein pädagogische, ja gesellschaftlich-politische Relevanz besitzt. Noch deutlicher gesagt: Religion hat auch für jene Menschen bildenden Gehalt, die Konfession und Religion im Sinne einer persönlichen Zugehörigkeit Unentschiedenheit, Desinteresse oder sogar Ablehnung entgegenbringen.

2. Für moderne Gesellschaften ist die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion selbstverständlich. Seit den letzten zwei Jahrzehnten zeichnet es sich aber ab, dass es nicht genügt, wenn der Staat gegenüber Religion lediglich eine passive Rolle einnimmt. Dieser Trend ist auch in der Schweiz spürbar. Hier waren es die kantonalen Bildungsdepartementes, die auf eine Neuorganisation religiöser Bildung im Raum der Schule gedrängt haben und noch immer drangen. Der Prozess fortschreitender religiöser Pluralisierung ist offenbar ein Geschehen, dem der Staat nicht tatenlos zusehen kann und will. Ein Zweites kommt hinzu: Der Philosoph Jürgen Habermas hat hervorgehoben, dass moderne Gesellschaften sich der in der Religion geborgenen Vernunft-, Sinn- und Sprachpotenziale nicht entschlagen sollten, wenn sie vor grossen Herausforderungen wie Gentechnik, Friedenssicherung usw. stehen.5 Nicht nur um eines friedlichen Miteinanders in einer Gesellschaft willen, sondern auch wegen der Entbindung des in den Religionen verwahrten Vernunftpotenzials sind moderne Staaten starker als früher aufgefordert, proaktiv Prozesse religiöser Pluralisierung und religiöser Bildung mitzugestalten.

3. Was die Kirchen in der Schweiz zunächst meist als Verlust erfahren, nämlich die Beschneidung ihres Einflusses im Raum der öffentlichen Schule, kann für sie wertvolle, zukunftsweisende Denkanstosse hervorbringen. Eine mögliche Reaktion wäre eine weitere Konzentration auf das „Kerngeschäft“, also die Forcierung katechetischer Angebote, um halbentschiedene oder entschiedene Christinnen und Christen in ihrem Glaubensleben starker zu unterstutzen. Das allein erschiene mir persönlich zu kurz gegriffen. Weit über 1000 Jahre war das Christentum die Bildungsinstitution in weiten Teilen Europas, und auch heute sollten, so meine Überzeugung, Christentum und Bildung aufs Engste miteinander verschwistert bleiben. Für die Kirchen steht daher die Aufgabe an, sich zu fragen, wie jenseits katechetischer Massnahmen die bildende Kraft des Christentums in modernen Gesellschaften zur Geltung gebracht werden kann.

4. Die Entwicklungen in der Schweiz können als Weckruf für die Situation des Religionsunterrichts in Deutschland verstanden werden. Keine Frage: Hier gilt der Religionsunterricht als gut etabliert, die Abmeldezahlen sind gering (ca. 5 Prozent), die Akzeptanz gut, auf der Primarstufe sogar hoch.6 Diese positiven Faktoren scheinen mir aber den Blick für die Wucht der Veränderungen auf religiösem Feld zu verstellen, die sich in Deutschland derzeit ereignen oder noch ereignen werden. Nur eine einzige Zahl: 2011 wurden ca. 51 Prozent der geborenen Kinder in Deutschland christlich getauft.7 Welche Form religiöser Bildung werden die 49 Prozent der Ungetauften geniessen, wenn sie in wenigen Jahren in die Primarschule eintreten? Besuchen sie dann das in ihrem Bundesland vorgesehene Ersatzfach, das aber zunächst nur „zweite Wahl“ neben dem grundgesetzlich priorisierten Religionsunterricht ist? Und konnte es nicht sein, dass bei weiter zurückgehender kirchlicher Bindung irgendwann das Ersatzfach den Regelfall und der konfessionelle Religionsunterricht die Ausnahme darstellt? Hier konnten die Diskussionen in der Schweiz ein kräftiger Anstoss sein, die Konzeption religioser Bildung in Deutschland kritisch zu überdenken.

3. Anfragen an das bipolare Modell religiöser Bildung in der Schweiz

Mit der Einrichtung eines bekenntnisunabhängigen Religionsunterrichts, zu dem ein kirchlich verantworteter Religionsunterricht hinzutreten kann, haben verschiedene Kantone eine tragfähige Lösung gefunden, die auf die religiöse Pluralisierung reagiert. Dennoch bleiben einige Anfragen:

1. Wie ist das Verhältnis der beiden religionsunterrichtlichen Modelle zu denken: als Zweigleisigkeit, was an ein Nebeneinander denken lasst, oder als Ergänzung bzw. Komplementarität, was die Vorstellung einer Verzahnung wachruft? Dann aber ist zu klaren, wie diese Verschränkung konzeptionell umgesetzt wird. Jedenfalls ist der konfessionelle Religionsunterricht in dieser Verbindung der „Juniorpartner „.

2. Noch immer wird die Bipolaritat religiöser Bildung von bestimmten einseitigen Vorstellungen begleitet. So attestiert man der Religionswissenschaft als der für den bekenntnisunabhängigen Religionsunterricht zuständigen Bezugswissenschaft weltanschauliche Neutralität und Wissenschaftlichkeit. Hingegen wird der Theologie, der Bezugswissenschaft für den konfessionellen Religionsunterricht, wenigstens subkutan Dogmatismus und demzufolge Unwissenschaftlichkeit nachgesagt. Solche Zuschreibungen freilich halten einer wissenschaftstheoretischen Überprüfung nicht stand. So gehört es zu den Grundproblemen der Religionswissenschaft, dass sie keinen in ihrer Disziplin allgemein anerkannten Religionsbegriff vorlegen kann. Darüber hinaus ist auch sie wohl kaum von weltanschaulichen Präsumptionen ganz frei; umgekehrt ist der Theologie mehr Vernunft und Wissenschaftlichkeit zu Eigen, als gemeinhin gedacht wird.8 Indem der bekenntnisunabhängige Religionsunterricht ausschliesslich religionswissenschaftlich fundiert wird, verzichtet er auf Vernunftpotenziale aus dem reichen Erbe der christlichen Theologie, für das die Spannung zwischen Glaube und Vernunft konstitutiv ist.

3. Wie versteht sich der konfessionelle Religionsunterricht: als Katechese oder als Unterricht? Die Antwort auf diese Frage impliziert stark divergierende Konzepte. Inwieweit ist es den Kirchen wichtig, bildungsdiakonisch tatig zu werden, d. h. einen Unterricht in Religion als uneigennütziges Bildungsangebot für junge Menschen zu konzipieren?

4. „Flachenbewässerung plus Tiefenbohrung „9: So bezeichnet Christian Cebulj die Relation der beiden religionsunterrichtlichen Modelle. Man konnte auch sagen: Verschränkung von „learning about religion“ und „learning in religion“. Was trotz dieser Addition in meinen Augen aber nicht erreicht wird, ist – um die Grimmitsche Terminologie weiterzufuhren – ein „learning from religion“. Das Zusammenspannen eines ausschliesslich religionswissenschaftlich fundierten bekenntnisunabhängigen und eines ausschliesslich theologisch fundierten konfessionellen Religionsunterrichts erbringt noch nicht jenen Mehrwert religiöser Bildung, den ein echtes „learning from religion“ erzielen konnte.

Fazit: Die schweizerische Diskussion um den Religionsunterricht ist für die Pädagogik und Religionspädagogik nicht nur in Deutschland, sondern in Europa wichtig und wertvoll. Sie liefert zukunftsweisende Impulse für die Frage nach Stellenwert, Form und Organisation schulischer religiöser Bildung in Europa. Dadurch kann sie eine Reflexion insbesondere in jenen Ländern anregen, in denen der Druck auf den konfessionellen Religionsunterricht aufgrund von Prozessen religiöser Pluralisierung und Entkonfessionalisierung in den nächsten Jahren erheblich wachsen wird.

 


Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterrricht – Schweizer Vielfalt auch hier

Dominik Helbling / Ulrich Kropač / Monika Jakobs / Stephan Leimgruber (Hrsg.): Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz. (Edition NZN bei TVZ) Zürich 2013, 399 S.

Die sog. Kirchen- und Schulhoheit liegt in der föderalistischen Schweiz seit alters her bei den Kantonen. Je nach historischer und konfessioneller Entwicklung ist deshalb auch der Religionsunterricht unterschiedlich geregelt.

Im thematisch dreigeteilten Buch gibt der Abschnitt «A» Einblicke in die aktuellen Entwicklungen in einzelnen Kantonen oder Sprachregionen (Gesamtüberblick, Westschweiz und die Kantone St. G allen und Zürich). Abschnitt «B» liefert «Reflexionen und didaktische Überlegungen», während Abschnitt «C» sich mit «Lernfeldern und Themenbereichen» beschäftigt (Gottesfrage, Jesus Christus, die Rolle der Hl. Schrift, Ethik, Religionenkunde, Schöpfung und Evolution, Religionenkunde, Feste feiern).

Im Schlussabschnitt «Ergebnisse – Perspektiven – Desiderate» wird betont, dass die Zweigleisigkeit zwischen konfessionellen und bekenntnisunabhängigen Formen des Unterrichts mehr eine theoretische als eine praktische ist. Die Rolle der Lehrpersonen soll deshalb neu durchdacht werden, wobei die Autorinnen und Autoren die Forderung aufstellen, dass die Anforderungen an Lehrpersonen hoch und überprüfbar sein sollen und niemand ausgeschlossen werden dürfe, also auch nicht Pfarrer und Theologinnen bzw. Theologen oder Angehörige von Freikirchen. Was die Didaktik betrifft, sollen Religionen sinnvollerweise in Bezug auf ihren Zusammenhang mit und ihre Bedeutung für die hiesige Gesellschaft thematisiert werden; auch sollen Religionen nicht nur monolithisch, d. h. pauschalisierend gezeigt werden. Wenn der bekenntnisunabhängige Unterricht wirklich unentbehrlich sein soll, ist eine Vernetzung mit anderen Fächern nötig – gleichzeitig muss vor Vereinnahmung geschützt, aber auch die Meinungsäusserungsfreiheit gewährleistet werden.

Urban Fink-Wagner

1 Geringfügig überarbeitete Fassung eines Kurzvortrags, gehalten am 24. Mai 2013 in Zürich, anlässlich der Präsentation des Buches: Dominik Helbling/ Ulrich Kropač/Monika Jakobs / Stephan Leimgruber (Hrsg.): Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz. Zürich 2013 (siehe Kästchen auf Seite 614).

2 Thomas Schlag: Schulische und kirchliche religiöse Bildung im Kanton Zürich. Entwicklungen – Spannungen – Perspektiven, in: Helbling u. a., Religionsunterricht (wie Anm. 1), 87–104, hier 87.

3 Monika Jakobs/Ulrich Riegel/Dominik Helbling u. a. (Hrsg.): Konfessioneller Religionsunterricht in multireligiöser Gesellschaft. Eine empirische Studie für die deutschsprachige Schweiz. Zürich 2009, 57.

4 Vgl. hierzu Andreas Verhülsdonk: Religionsunterricht – Grundlage von Religionsfreiheit, in: Stimmen der Zeit 221 (2003), 329–337.

5 Vgl. Jürgen Habermas: Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den «öffentlichen Vernunftgebrauch» religiöser und säkularer Bürger, in: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfürt a. M . 2005, 119–154.

6 Vgl. Anton A. Bucher: Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe. Eine empirische Untersuchung zum katholischen Religionsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart u. a. 2000.

7 2011 gab es 662 685 Kindergeburten in Deutschland. 166 586 Kinder wurden katholisch, 174 164 evangelisch getauft. Quellen: Statistisches Bundesamt, Deutsche Bischofskonferenz und Evangelische Kirche in Deutschland (EKD).

8 Vgl. Ingolf U. Dalferth: Theologie im Kontext der Religionswissenschaft. Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft, in: Theologischen Literaturzeitung 126 (2001), H.1, 3–20, 4.

9 Christian Cebulj: Alternativ – kreativ – kommunikativ. Zum Bildungskonzept der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, in: Helbling u. a., Religionsunterricht (wie Anm. 1), 105–117, hier 115 (hier kursiviert)