Ihre Geburtstage lagen nur wenige Tage auseinander: derjenige des Dominikaners Yves Congar und der des Jesuiten Karl Rahner. Beide waren Wegbereiter kirchlichen Lebens in eine neue Zeit: der Deutsche von derjenigen der Konfrontation mit den Fragestellungen der Transzendental- und Existenzphilosophie, der Franzose im unablässigen Bemühen, kirchliche Tradition zu verlebendigen. Congars Schaffen hat nicht die Originalität des philosophisch- theologischen Ansatzes von Rahner; doch im beharrlichen Umkreisen der Realität Kirche in ihrer konkreten Gestalt heute, in ihren geschichtlichen Ausformungen, in der Besinnung auf den biblischen Ursprung, hat er Verfestigtes aus der Erstarrung gelost und alte Wahrheiten des Glaubens neu erschlossen. Im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils war Congars Einfluss – wie überhaupt derjenige der französischen Theologie – grosser als derjenige, der von deutschsprachigen Theologen ausging. Uber den biografischen Rahmen hinaus erinnert dieses Portrat an den heute etwas in Vergessenheit geratenen Beitrag der französischen Theologie.
Die Herkunft
Yves Congar wurde am 13. April 1904 in Sedan an der Ostgrenze Frankreichs (Ardennen) in bürgerlichen Verhältnissen geboren. Pflichterfüllung und Arbeitsdisziplin gehörten zu den prägenden Elementen des elterlichen Hauses. Es kam hinzu ein spontaner, für Verhältnisse eher ungewohnter Umgang mit der Heiligen Schrift. Dazu mag die Nachbarschaft beigetragen haben: Das elterliche Haus lag neben der protestantischen Kirche. Von Jugend auf hatte Congar Umgang mit Protestanten und Nichtchristen. Er studierte drei Jahre Philosophie am Institut Catholique – wohl in der Absicht, Weltpriester zu werden. Im Militärdienst in Mainz wahrend der französischen Besetzung der Rheinlande – er war in Saint-Cyr zum Reserve-Offizier ausgebildet worden – reifte 1926 der Entschluss, in den Dominikanerorden einzutreten.
Im Orden ging der bestimmende Einfluss von Marie Dominique Chenu im Studienhaus Le Saulchoir (bei Tournai) aus: Chenu, der Erforscher der mittelalterlichen Scholastik, aber auch einer der geistigen Wegbereiter der Arbeiterpriester, ist in seiner Verbindung von historischer Forschung mit wacher Offenheit für Zeitfragen lebenslanges Vorbild für Congar. Congar selber wird sich der „Kirche“ zuwenden, der Ekklesiologie, wie das in der Fachsprache der Theologen heisst; der Kirche als Geheimnis des Tempels, der Erforschung ihrer Strukturen, dem Volke Gottes als dem Kern der kirchlichen Gemeinschaft, dem Bruch der kirchlichen Einheit, der Reform der Kirche, der Kirche im Heiligen Geist. 1931 bereits wurde er Lehrer an der Ordensschule von Le Saulchoir – damals noch in Belgien, später nach Paris verlegt, heute verkauft. Neben dem Unterricht entfaltete er eine ungemein aktive Predigt-, Vortrags- und publizistische Tätigkeit, getragen von einer Equipe von Mitbürgern und Freunden, aber auch beargwöhnt in- und ausserhalb des Ordens.
Seine Hauptleidenschaft galt der Überwindung der Kirchenspaltung und der Wiederherstellung der kirchlichen Einheit. Friedrich Heilers hochkirchliche Zeitschrift, die ihm bei einem Studienaufenthalt in Düsseldorf in die Hände fiel, gab den theologischen Einstieg. Zu den frühen Freunden gehörten auch Schweizer wie Roland de Pury, Jean de Saussure, die an der Protestantischen Theologischen Fakultät in Paris studierten. Bereits 1934 lud Congar Karl Barth zu einer Gesprächsrunde ein. Congar hat mehr als ein anderer in Frankreich dazu beigetragen, den Protestantismus, vor allem lutherischer Ausprägung, bekannt zu machen und ihn in den Dialog einzubeziehen. Er hat Maritains Verdikt – das Problem Luther und der Reformation sei im Grunde nur dasjenige eines aus dem Kloster entsprungenen Mönchs – als typisch für die französische Unkenntnis der deutschen Probleme ausser Kraft gesetzt. 1937 gründete er die Reihe „Unam Sanctam“, die im Laufe der Jahrzehnte auf 80 Bande anwuchs. Congars Interesse galt aber nicht nur dem Protestantismus. Abbe Gratieux führte ihn dem Studium von Chomiachoff und der orthodoxen Theologie zu. Früh trat er in Verbindung mit den überlebenden Veteranen des Dialogs von 1925 mit den Anglikanern: Abbe Portal, Dom Lambert Beauduin und mit Abbe Couturier, dem Begründer der Gebetswoche für die Einheit der Kirchen. 1937 veröffentlichte er „Chretiens desunis“, eine Fibel des vorkonziliären Ökumenismus.
Renouveau und Repression
Nahezu fünf Jahre Kriegsgefangenschaft in Deutschland unterbrachen ein fast gefährlich ausuferndes Apostolat. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich stellte Congar sich mit unverminderter Hingabe den neuen Aufgaben: liturgische Bewegung, katechetischer Aufbruch, Verbreitung der Bibel, Weiterführung des Gesprächs mit den Protestanten, Arbeiterpriesterfrage, neue Präsenz der Kirche in der Gesellschaft. Kurz, er nahm an all dem teil, was die grosse geistige Strömung des „renouveau catholique“ theologisch legitimierte und organisatorisch entfaltete. Die Equipe wuchs: Albert-Marie Avril, P. Maydieu, L. Feret, P. Chifflot, Pere Couturier (nicht zu verwechseln mit dem Abbe aus Lyon). Der „Temoignage chretien“ der Frühzeit; Congar und Chenu gehörten zu den Inspiratoren dieser weit über den französischen Raum hinaus anregenden Bewegung.
Doch auch die Zahl der Neider und Denunzianten wuchs. 1954 wurden die französischen Dominikanerprovinziale und eine Reihe von Ordensbrüdern vom Ordensgeneral im Zusammenhang mit den Massnahmen gegen die Arbeiterpriester ihrer Ämter entsetzt. Congar, der eigentlich nur am Rande mit der Arbeiterpriesterfrage zu tun hatte, wurde mit in die repressiven Massnahmen einbezogen. Er wurde zuerst in einen Konvent nach Jerusalem, dann nach Cambridge exiliert. 1957 bot Mgr. Weber, der Bischof von Strassburg, ihm Asyl in seiner Diözese an.
Das Zweite Vatikanische Konzil brachte nicht nur die Rehabilitierung, sondern den Durchbruch seiner theologischen Ideen. Congar arbeitete mit in verschiedenen Expertenkommissionen und beriet auch die Bischofe ausserhalb der Konzilsaula. In seiner Grundtendenz bestätigte das Konzil diejenigen Neuorientierungen, für die er sich bisher eingesetzt hatte: Abbau des Papalismus, Wiederherstellung des ekklesiologischen Gleichgewichts zwischen Papst und Bischöfen, Wiederbelebung des Gedankens des allgemeinen Priestertums der Laien und vor allem Ausrichtung der Konzilsaussagen auf die getrennten Brüder und Schwestern in anderen christlichen Konfessionen. Wie die Krönung seines eigenen Lebenswerkes mutet 1960 die Gründung des römischen Sekretariates für die Einheit der Christen an.
Congar hat sich auch der konziliären Nacharbeit trotz grosser gesundheitlicher Komplikationen und erschwerter Arbeitsbedingungen nicht entzogen. Der Zeitschrift „Concilium“, die er 1965 mit ins Leben rief, hat er trotz Meinungsverschiedenheiten die Treue gehalten. Sein letztes und abschliessendes grosses Werk über den Heiligen Geist ist in drei Banden 1979 in deutscher Übersetzung erschienen.
Das zentrale Thema: Reform der Kirche
Es ist Congar mitunter vorgehalten worden, er verzettele seine Kräfte, verschwende sich an zu viele, auch unbedeutende Fragen. In der Tat hat Congar sich fast allen Fragen des kirchlichen Lebens zugewandt; für die „Revue thomiste“ hat er Tausende von Buchbesprechungen geliefert, für das Nachschlagewerk „Catholicisme“ Hunderte von Artikeln verfasst hin bis zu den Luzernern Alois Gugler und Eduard Herzog, dem ersten altkatholischen Bischof der Schweiz. Er ist dem Kleinen und Konkreten nie ausgewichen, hat theologischen Journalismus besten Stils als Mittel der Glaubensverkündigung und als heilsame Beunruhigung unter Christen betrieben. Aber er hat es auch verstanden, seine Forschung und sein grosses Wissen auf dem Gebiete des mittelalterlichen Kirchenverständnisses in imponierende Synthesen einzubringen. Mehr als andere hat dieser Schuler des Thomas von Aquin, dessen Nachfahren im 20. Jahrhundert sich gerne auf eine zeitlos gültige Philosophie beriefen, um den Problemen ihrer Zeit auszuweichen, die Geschichtlichkeit als Grundkategorie menschlicher Befindlichkeit und damit auch der pilgernden Kirche betont. Erst durch sie wurde die Abkehr von dem Modell der angeblichen Zeitlosigkeit mit seiner Verfestigung historischer Petrefakte endgültig. Es ist die konkrete und leibhaftige Kirche von heute, der seine Bemuhung als Theologe galt, allerdings einer dienenden und armen Kirche, wie er es zur Zeit des Zweiten Vatikanums formulierte, ein Konzilspostulat, das etwas in Vergessenheit geriet, obwohl es fraglos zum vielbeschworenen „Geist des Konzils“ gehört. Anders gesagt: eine Kirche, die zu Veränderungen bereit ist, um sich selber treu zu bleiben.
Congar ist der einzige Theologe, der sich explizit mit der Frage beschäftigt hat, wie eine Reform der Kirche aussehen musste, ohne dass es zur Spaltung komme. Er hat zeitig gewarnt vor den falschen Positionen: Ängstlichkeit, Routine, legalistische Gesinnung, formelhaft erstarrte Theologie auf der einen Seite, und auf der anderen Experimentiersucht ohne Rucksicht auf das Ganze, Verlust der Unterscheidung des Christlichen, Zurückweisung der leibhaftigen Kirche, Ungeduld im Erfassen des rechten Zeitpunktes. Es gehört zu den grossen Ironien der modernen Kirchengeschichte, dass dieses von unerschütterlicher Kirchlichkeit durchtränkte Werk („Vraie et fausse reforme dans l’Eglise“) bald nach seiner Veröffentlichung (1950) aus dem Buchhandel zurückgezogen werden musste und nicht mehr aufgelegt noch auch übersetzt werden durfte. Congar hatte dem Zweiten Vatikanischen Konzil und seinen Reformbestrebungen einen theologisch verantwortlichen Rahmen bieten können: Aber das Buch wurde der Diskussion entzogen. Wohl hatte es nicht die nachkonziliäre Krise vermeiden, aber ihr etwas von jener Schärfe nehmen können, die manche Aufbruche bald zu Brüchen und Zusammenbrüchen entarten liess.
Glaubwürdigkeit im Kreuze
Nur wenige Theologen vom Rang eines Congar hatten Anlass gehabt, über die hierarchische Kirche, lieblose Mitbruder und repressive Massnahmen verärgert zu sein und sich von ihr abzuwenden.
All diese Enttäuschungen haben ihn nicht verbittert, sondern seine innere Glut für die Kirche neu entfacht. Mit der Märtyrerpose hat er nie spekuliert. Dafür waren die Erfahrungen zu leidvoll, die Sache, um die es ging, zu ernst. Er hatte auch mit seinem Gott hadern können, der es zuliess, dass vor 20 Jahren eine Rückenmarkkrankheit bei ihm ausbrach und ihn zunächst an zwei Krucken und in den letzten Jahren an den Rollstuhl fesselte. Die Krankheit brach weder seinen Lebenswillen noch seine unbändige Arbeitslust. Kreuzestheologie nicht als theologische Spekulation doziert oder als historische Exegese dargeboten, sondern zeichenhaft vorgelebt.
Wie Johannes XXIII. entzieht er sich jenen Etikettierungen, mit denen man in unsern Breitengraden das Letzte Gericht über Theologen vorwegzunehmen beliebt: konservativ oder progressiv. Wie jener ist er ein Strahlender eines Glaubens, an den sich auch solche zu erinnern vermögen, die fahnenflüchtig wurden oder an der Kirche zerbrachen. Als vor vielen Jahren ein Oberer ihn des Avantgardismus bezichtigte, antwortete Congar: „Avantgardismus? Im Hinblick auf die Situation und die Probleme der Welt komme ich mir reichlich ruckständig vor, reichlich weit hinter der Linie, die man halten musste.“
Yves Congar verbrachte die letzten Jahre seines Lebens im Hotel des Invalides, dem von Napoleon I. gegrundeten Militarspital in Paris. 1995, ein Jahr vor seinem Tod, ernannte Johannes Paul II. ihn zum Kardinal, eine Auszeichnung, die eher das Kardinalskollegium ehrte als den Geehrten.