Mit dem «Lehrplan Religionsunterricht und Katechese» (LeRUKa) haben Religionsunterricht und Katechese in der Deutschschweiz den Weg in die Kompetenzorientierung angetreten – ungefähr parallel zum ebenfalls kompetenzorientierten Lehrplan 21 der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz. Passend zu den schulischen Lehrplänen steht damit im katholischen Religionsunterricht die Einübung religiöser Kompetenzen im Vordergrund, nicht (mehr) die Erlernung von Sachwissen.
Zwischen «heaven» und «sky»
Das betrifft die Bibel in besonderem Masse: Auch biblische Erzählungen, Themen und Theologien werden im LeRUKa in kompetenzorientierte Lernprozesse eingebracht.1 Dabei kommt dem Vertrautwerden mit der symbolischen Sprache biblischer Texte grosse Bedeutung zu: Die Verfasserinnen und Verfasser biblischer Schriften nutzen diese Sprachform häufig, um über die greifbare Wirklichkeit hinauszuweisen und Erfahrungen, Hoffnungen und Glaubensperspektiven in Worte zu fassen. Der Unterschied zwischen beiden Sprachebenen wird an John Lennons Lied «Imagine» deutlich: «Imagine there‘s no heaven […] Above us only sky […].» «Sky» steht hier, wie meist im Englischen, für den sichtbaren Himmel, der sich über der Erde wölbt. «Heaven» bezeichnet dagegen die symbolischen, religiösen Aspekte des Himmels als Ort von Gottesgegenwart und Gemeinschaft mit Gott, was keine physikalisch-räumliche Dimension haben muss.
Biblische Erzählungen wie z. B. jene von der Himmelfahrt des Auferweckten «spielen» gewissermassen mit den beiden Ebenen und verbinden die reale und die symbolische Dimension – die im deutschen Wort «Himmel» ineinanderfällt – miteinander: Die anschauliche Erzählung in Apg 1 zeichnet das Bild eines konkret-realen Geschehens. Die theologische Dimension der Erzählung liegt jedoch nicht im physischen Aufstieg des Auferweckten in die Stratosphäre oder an einen anderen Ort im «sky», sondern in seiner von Gott gewirkten Aufnahme in den Himmel («heaven») und seiner ebenfalls gottgewirkten, verheissenen Wiederkunft (Apg 1,11).
Mehr als Symboldidaktik
Gerade dieses Beispiel zeigt, dass das Vertrautwerden mit biblischer Symbolsprache nicht einfach mit den Ansätzen der Symboldidaktik2 identisch ist, sondern darüber hinausgeht: Es geht um die intendierten Aussageabsichten biblischer Texte und damit auch um die Wirklichkeitsdimension, die ein Bibeltext in je spezifischer Form in den Blick nimmt. «Die symbolische Sprache erlaubt es, Sphären der religiösen Erfahrung auszudrücken, die dem rein begrifflichen Denken nicht zugänglich, für die Frage nach der Wahrheit aber wertvoll sind. […] Es geht nicht einfach darum, die symbolische Sprache der Bibel zu beschreiben, sondern auf ihren Offenbarungs- und Aufrufs- Charakter einzugehen: in ihr tritt die numinose Realität Gottes in Kontakt mit dem Menschen.»3 Das Erlernen biblischer Symbolsprachlichkeit führt somit zur Frage: Auf welcher Ebene, wie ist die Bibel wahr? Letztlich geht es aber um den Menschen selbst: «Die religiöse Sprache der Bibel ist eine symbolische Sprache, die ‹zu denken gibt›, eine Sprache, deren Sinnreichtum sich nie erschöpft. Es ist eine Sprache, die eine transzendente Realität meint und auf sie verweist und zugleich im Menschen den Sinn für die Tiefendimension seines Seins weckt.»4
Ein ehrgeiziges Ziel …
Es ist eine hohe Kunst, biblische Texte so zum «Lerngegenstand» in kompetenzorientiertem Religionsunterricht und Katechese zu machen, dass
- die vielschichtigen Dimensionen und Sinngehalte erschlossen,
- symbolische Sprache als häufige Eigenart biblischer Sprache erkannt,
- dauerhaft für das angemessene Verständnis biblischer Texte verankert
- und schliesslich für das eigene Leben fruchtbar gemacht werden können.
Der LeRUKa formuliert als angestrebte Kompetenz: «Die Symbolsprache der Bibel verstehen, in ihrer Relevanz für die eigene Identität und die Gesellschaft deuten und als Anregung für den eigenen Ausdruck anwenden» (LeRUKa, 35). Mit der Verortung dieses Zieles im Lehrplanzyklus 2, also im Alter von 9 bis 12 Jahren, ist ein entwicklungspsychologisch passender Startpunkt benannt. Zugleich liegt auf der Hand, dass ein so anspruchsvolles Ziel nicht in diesem Alter abgeschlossen werden kann. Es handelt sich vielmehr um eine Aufgabe lebenslangen Lernens.5
… mit gesellschaftspolitischer Relevanz
Der LeRUKa verortet dieses Ziel im Rahmen des Religionsunterrichts, also im schulisch-öffentlichen Raum, und nicht in der stärker pfarreilich ausgerichteten Katechese. Damit ist festgehalten, dass das Vertrautwerden mit den vielfältigen Sinndimensionen biblischer Texte eine gesellschaftspolitisch relevante Bildungsaufgabe ist und nicht «nur» eine Einführung in christliche Glaubenspraxis. Es liegt also aus Sicht der römisch-katholischen Kirche im gemeinsamen Interesse von Kirche und multi-/nichtreligiöser Gesellschaft, dass ein symbolisches und damit nicht-wörtliches, nicht-fundamentalistisches Verständnis biblischer Texte eingeübt wird, das zugleich zur Menschwerdung im umfassenden Sinne einlädt. Damit verpflichtet sich die Kirche zu einer «aufgeklärten» und am Menschen orientierten Auslegung der Bibel nicht nur für den innerkirchlichen Bereich, sondern auch für gesellschaftspolitische Diskurse und das interreligiöse Gespräch.
Lebenslanges, gesamtkirchliches Lernen
Das zeigen auch die biblischen Textbereiche, die der LeRUKa als exemplarische Lerngegenstände zum Vertrautwerden mit biblischer Symbolsprache aufzählt: die Kindheitserzählungen Jesu, Schöpfungs- und Weisheitstexte sowie Wundererzählungen (LeRUKa, 35). Diese Textbereiche sind religionspädagogisch hoch relevant, und zugleich können sich an ihnen Diskussionen um die Wahrheitsdimensionen und Historizität der Bibel entzünden. Sie erfordern deshalb besondere Sorgfalt in der biblisch-theologischen Erschliessung und religionspädagogischen Umsetzung.
Dass das Vertrautwerden mit biblischer Symbolsprache eine Aufgabe lebenslangen, ja gesamtkirchlichen Lernens ist, zeigen beispielhaft die Veränderungen, die die revidierte Einheitsübersetzung 2016 an einer bekannten Wundererzählung vorgenommen hat: In Mk 6,45–52 (Mt 14,22–33) mühen sich die Jüngerinnen und Jünger nachts im Boot mit Gegenwind ab. Jesus kommt über das Wasser zu ihnen, gibt sich zu erkennen und spricht ihnen Vertrauen und Mut zu. Im Licht des Ersten Testaments gelesen klingen darin Erzählungen über die Macht Gottes über die Chaoswasser (Ps 107,28–30; Ps 46,2–6) und Selbstoffenbarungen Gottes an (Ex 3,14, Jes 41,10; 43,1–3). Im Markusevangelium kommt noch das Erscheinen und Vorübergehen Gottes an Mose und Elija hinzu (Ex 33,18–23; 1 Kön 19,11). Die Evangelisten stellen Jesus damit in das Licht der grossen Glaubens- und Bekenntniserfahrungen Israels. Die EÜ 2016 hat die Übersetzung der Wundererzählung an mehreren Stellen präzisiert und korrigiert. Bemerkenswert ist jedoch vor allem der neue Titel, den die EÜ der Erzählung gibt: Die Überschrift «Die Offenbarung des Gottessohnes auf dem Wasser» bringt die symbolische, von intertextuellen Bezügen geprägte Sprache der Wundererzählung auf den theologischen Punkt. Die EÜ 1980 hatte diese Ebene noch ausser Acht gelassen und konkret-historisierend formuliert: «Der Gang Jesu auf dem Wasser».
Religionspädagoginnen und Katecheten leisten Grosses und Anspruchsvolles, wenn sie den Umgang mit biblischer Symbolsprache bereits mit 9- bis 12-jährigen Kindern einüben. Für einen sachgerechten Umgang mit der Bibel ist diese Kompetenz unverzichtbar. Zu wünschen ist, dass Eltern, Grosseltern und alle anderen den Kindern hier nacheifern und auch ihre eigene Kompetenz darin weiterentwickeln.
Detlef Hecking