Religionsunterricht in der Westschweiz

In der französischsprachigen Schweiz hängt das Angebot von Katechese, Religionsunterricht und Ethik stärker von der politischen Einstellung des jeweiligen Kantons ab als in der Deutschschweiz.

 

Die Schweiz ist ein säkularer Staat,1 der allen Bürgerinnen und Bürgern Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert, ihre Würde unabhängig von ihrer Religion anerkennt und die Gleichbehandlung aller Mitglieder religiöser Bewegungen sicherstellt. Sie anerkennt mindestens zwei Kirchen aufgrund derer historischen und gesellschaftlichen Präsenz als gemeinnützig: die katholische Kirche und die kantonalen evangelisch-reformierten Kirchen. Was den Unterricht betrifft, so sieht der «Plan d‘études romand» (PER) ein Fach mit dem Titel «Ethik und religiöse Kulturen» (ECR) vor, jedoch entscheiden die Kantone darüber, ob sie es in ihre Stundentafel aufnehmen oder nicht. Wenn ja, ist es wie die anderen Fächer ein Pflichtfach.

Ziel dieses konfessionsunabhängigen Fachs ist es, «verschiedene Kulturen und Denkweisen in Raum und Zeit zu entdecken; das Beziehungssystem, das jedes Individuum und jede soziale Gruppe mit der Welt und mit anderen verbindet, zu identifizieren und zu analysieren»2. Für den Zyklus I geht es darum, «sich dem Anderssein zu öffnen und sich in seinem sozio-religiösen Kontext zu verorten [...]», indem man Personen und Geschichten aus der Bibel und anderen Traditionen analysiert und sich dazu existenzielle Fragen stellt. In Zyklus II werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, die religiöse Tatsache und die humanistischen Werte, die die Hauptreligionen teilen, zu identifizieren. In Zyklus III sollen die Schülerinnen und Schüler eine Analyse eines ethischen Problems entwickeln.

Grosse Vielfalt

Was den konfessionellen Religionsunterricht – oder die Katechese – betrifft, so hängt dieser von verschiedenen Faktoren ab: Einerseits kann ihn die Majoritätstradition des Kantons beeinflussen. So sehen zum Beispiel die Kantone Freiburg, Jura und Wallis, die eine katholische Tradition haben, für die Katechese ECR und die Bereitstellung von Räumlichkeiten während der Schulzeit vor. Dagegen steht ECR in den Kantonen Neuenburg und Genf, die eine protestantische Tradition haben, nicht auf dem Stundenplan. In den anderen Kantonen ist dieser Unterricht im schulischen Umfeld präsent oder nicht, je nachdem, welche politische Entscheidung bezüglich der Form des Laizismus in jedem Kanton getroffen wird. Schliesslich variiert auch die Art der Katechese je nach pastoralen, theologischen, didaktischen und politischen Entscheidungen. Hier eine Zusammenfassung (s. Tabelle).

Stärken der Katechese in der Westschweiz

Die Katechese stützt sich einerseits auf theologische und pastorale Beiträge für den Inhalt und andererseits auf Erziehungswissenschaften und Religionspädagogik für die Form. Was die Form (wie der PER oder LeRUKa) anbelangt, so entwickeln die Kantonalkirchen die Lehrpläne mit Blick auf die zu erreichenden Kompetenzen. Für den Inhalt verweisen die Katholikinnen und Katholiken auf zwei Dokumente: das «Direktorium für die Katechese» (2020) und «Eléments de discernement des orientations et des moyens pour la pastorale catéchétique en Suisse romande» (2018)3, das von der Konferenz der französischsprachigen Ordinarien in Auftrag gegeben wurde. Aus reformierter Sicht ist jede Kantonalkirche autonom, aber die Verantwortlichen treffen sich und reflektieren ihre gemeinsame Ausrichtung durch eine von der «Conférence des Églises romandes» beauftragte Plattform von Fachleuten.

Auf beiden Seiten zielt die Katechese darauf ab, die folgenden Kompetenzen zu entwickeln:

  • Ein besonderes Augenmerk auf die biblischen Texte und deren Aneignung durch die Kinder als ein zu entdeckender Schatz. Die Bibel wird als Ressource für das geistliche und gemeinschaftliche Leben der Schülerinnen und Schüler betrachtet, als entscheidende Instanz für das Glaubensleben und die Katechese.
  • Eine Sprache und eine Vertiefung des Glaubens sowie eine Möglichkeit, dem Leben einen Sinn zu geben.
  • Eine Einführung in das christliche Leben in seiner Gesamtheit, in die Nachfolge Jesu Christi heute. So setzt sich beispielsweise der Kanton Waadt dafür ein, dass die gesamte Katechese auf die Familie und die Gemeinschaft ausgerichtet ist.
  • Einen Dialog mit allen Christinnen und Christen und nicht nur mit jenen, die Gottesdienste, Veranstaltungen usw. besuchen.

Was die Besonderheiten betrifft

Auf katholischer Seite hat die Katechese andere und spezifischere Akzente. Sie ist konzipiert als:

  • «pastoral d’engendrement» («lebenzeugende Pastoral»): «Gott zeugt zu seinem eigenen Leben! Alles ist gegeben; wir sind Zeugen dessen, was bereits da ist, und unsere Aufgabe ist es, das bereits Vorhandene zu entdecken und zu offenbaren. Gott hat uns nach seinem Ebenbild geschaffen, damit wir an seinem Leben teilhaben können.»4
  • eine mystagogische Haltung: Die Katechetin resp. der Katechet ist eingeladen, eine Haltung des Zeugnisses einzunehmen, damit die Glaubenden – Kinder oder Jugendliche – durch ihre resp. seine Worte und Taten Christus entdecken können.
  • eine kerygmatische und trinitarische Haltung: Es ist eine Katechese, die die Person Jesu Christi in die Mitte stellt, der immer mit dem Vater und dem Heiligen Geist handelt.
  • einen sakramentalen Weg, der es den Glaubenden ermöglicht, sich auf die Sakramente (Vergebung, Eucharistie, Firmung) vorzubereiten.

In den Kirchen der Reformation ist die Katechese:

  • mit einem erfahrungsorientierten Ansatz und mit einem «sozio-interaktionistischen/konstruktivistischen» Ziel auf Kinder und Jugendliche zentriert: Eine Katechese, die als eine Begleitung bei der Entdeckung Christi im täglichen Leben und durch eine gemeinsame Interpretation der biblischen Texte konzipiert ist. Die Erfahrungen, Kenntnisse und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler bilden den Ausgangspunkt der Katechese: Das Wissen wird mit und dank der anderen Teilnehmenden aufgebaut.
  • eine Theologie für und von den Kindern: Entwickelt in den letzten zehn Jahren, vor allem in Genf, ist dies eine Haltung der unterrichtenden Person, die das Kind nach seinen Vorstellungen befragt und alle seine Vorstellungen von Gott wertschätzt, ohne sie zu beurteilen, um sie mit Gleichaltrigen ins Gespräch zu bringen. Wir sprechen vom Kindertheologen analog dem Kinderphilosophen. Auf dieser Basis wurden die «Theopopetten» entwickelt: Zwei Puppen stellen in einer Szene ein Thema dar; die Kinder werden dann eingeladen, ihre Überlegungen und Argumente durch eine Diskussion zu entwickeln.
  • gemeinschaftlich: Katechese ist nicht nur eine Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, sondern auch ein Laboratorium des Lebens und der Erfahrung. Sie richtet sich an Gruppen von Schülerinnen und Schülern und wird im Prinzip von einem Team von Katechetinnen und Katecheten gehalten. Sie schlägt Aktivitäten vor, die das Leben der Gruppe als erste Gemeinschaft fördern und stellt eine Verbindung zur Pfarrgemeinde und zur Familie her.
  • getragen von Katechetinnen und Katecheten, die eine Ausbildung durchlaufen (zumindest in den Kantonen, die hauptamtliche Katechetinnen und Katecheten anstellen), die es ihnen ermöglichen soll, das pädagogische, theologische und geistliche Rüstzeug zu erwerben, das notwendig ist, um die Gläubigen zu Christus zu führen.

Der besondere Fall Freiburg

In Freiburg ist die Situation interessant, da das Schulcurriculum während der gesamten Pflichtschulzeit sowohl konfessionellen als auch nicht-konfessionellen Unterricht anbietet. Die Schülerinnen und Schüler werden in der Schule von Personen unterrichtet, die von einer der beiden anerkannten Kirchen entsandt werden, und der konfessionslose Kurs wird von einer Lehrperson unterrichtet. Dies macht es möglich, Komplementarität in den erkenntnistheoretischen Ansätzen zu erleben – Worüber sprechen wir? Was sind die Referenzen? Was die wissenschaftliche Gemeinschaft, auf die sich der Unterricht bezieht? –, einen spirituellen Ansatz für alle Schülerinnen und Schüler, die Mitglieder einer der beiden Kirchen sind, und nicht nur für diejenigen, die zu ihrer Religionsgemeinschaft gehen, sowie eine Vertiefung der Würde jeder Person unter Achtung der Vielfalt und Heterogenität.5

Nicole Awais

 

1 Säkular im Sinne einer politischen Organisationsform für einen weltanschaulich neutralen Staat, die weder eine Gleichgültigkeit gegenüber der religiösen Frage noch eine Ablehnung aller Werte impliziert, sondern eine Autonomie des Staates und eine Unparteilichkeit gegenüber unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Überzeugungen.

2 www.plandetudes.ch/web/guest/ethique-et-cultures-religieuses

3 Service Romand de la Catéchèse et du Catéchuménat, Eléments de discernement des orientations et des moyens pour la pastorale catéchétique en Suisse romande, 2018.

4 Ebd. 3.

5 Vgl. Ruffieux, Céline, Awais, Nicole, C’est quoi le caté? Engagement des Églises dans le canton de Fribourg,
  Tramelan 2021.

 

 


Nicole Awais

PD Dr. Nicole Awais (Jg. 1969) ist Didaktikerin für religiöse und staatsbürgerliche Bildung. Sie ist Dozentin für Religionspädagogik an der Universität Freiburg i. Ü. sowie an der dominikanischen Hochschule Domuni.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente