«Du sagst mir nichts, aber vielleicht hör‘ ich auch nicht richtig zu? Hörte denn nicht auch ich genervt weg – bei den Milliarden von Gebeten, die an mich gerichtet werden?» Harte Vorwürfe besingt die Bündner Hip-Hop-Band «Sektion Kuchikäschtli» im Rap «Monolog». Formuliert als Du-Ansprache, ein Gebet, wenn auch nicht in klassischer Gebetssprache. Immerhin: Der Angesprochene ist der Boss, aber wirkt leider mehr wie auf dem hohen Ross statt auf dem Thron. «Herrgott, schäm dich doch!» angesichts der Fragen und des Elends der Welt. Wäre von Gott nicht mehr zu erwarten? Im Klartext: «Beweg deinen Hintern!» – nein, das unterläuft unsere gewohnten Gebetsformulare. Immer wieder, als eine Art Refrain eingespielt, diesmal auf Hochdeutsch: «Wie lange macht Gott wohl noch Ferien?»
Szenenwechsel: Psalm 44 (lateinisch nach der Vulgata Psalm XLIII, 43, Text folgte auf der Rückseite der Abbildung). Der Psalm beginnt fromm mit der Aufzählung von Gottes Wohltaten, kippt aber ab Vers 10. Nun hat Gott uns verstossen, wie Schlachtvieh hat er uns preisgegeben, gar unter Wert «vertschuttet». Eine harte Klagelitanei, und eigentlich nichts anderes als bigott: Uns trifft keine Schuld, aber du, du siehst tatenlos zu. Schlimmer noch: Wir haben dich nicht vergessen, aber du, du hast uns verstossen. Ab Vers 24 dann der Appell: Wach auf! Du bist doch keine Schlafmütze… Steh auf und hilf uns! «Wie lange macht Gott wohl noch Ferien?» in Worten des Psalmisten: «Wach auf! Warum schläfst du?»
Feine Federzeichnungen, höchst expressiv; jeder Psalm in verschiedenen Einzelszenen zu einem Gesamtbild komponiert. Wie würden wir diese dynamisch bewegten Figuren kunstgeschichtlich einordnen? Wahrscheinlich nicht auf Anhieb ins Ende des Frühmittelalters, sondern eher in die Renaissance. Mit dem Utrecht-Psalter stelle ich heute eine der hervorragendsten Schöpfungen der karolingischen Kunst vor. Wir sehen im unteren Bildstreifen Psalm 44, hinter den Mauern steht der Psalmist an der Spitze einer Gruppe von Soldaten; vor sich auf einem Haufen ein Schwert, einen Köcher mit Pfeilen und ein Horn. «Mit deinem Horn stossen wir unsere Feinde nieder», ventilabimus cornu, Vers 6 nach der Vulgata. Links vor dem Altar eines Heiligtums liegen Betende am Boden im Staub: «Unsere Seele ist in den Staub gebeugt, unser Leib klebt am Boden.» (Vers 26). Vor der Mauer drängen sich die Feinde, und dringen bereits durch ein Stadttor ein. Oben rechts und links sitzen die Väter aus Vers 2 und studieren in Schriftrollen und Folianten Gottes Werke aus den vergangenen Tagen. Aber jetzt, was macht Gott jetzt, angesichts der Not? Dargestellt als Christus mit dem Kreuznimbus schläft er friedlich im Himmelbett. Wie lange macht Gott wohl noch Ferien? Wach auf, warum schläfst du? Beweg deinen Hintern (im Hip-Hop-Song noch vulgärer ausgedrückt)!
Wenn wir an den spottenden Elja denken, wie er die Baalspriester verhöhnt – «Betet lauter, vielleicht macht Baal ja bloss ein Nickerchen» (1 Kön 18,27 – Gute Nachricht: Vielleicht hält er gerade seinen Mittagsschlaf) –, merken wir erst die Brisanz dieses psalmistischen Weckrufs. Was dem unwirksamen Ungott Baal angedichtet wird, gerät hier zur Anklage an den Gott Israels. Er schläft! Während vor der Mauer, am unteren Bildrand, weidende, aber auch bereits geschlachtete Schafe dargestellt sind. Unter Preis, für ein Spottgeld, dahingegeben. Steh auf, beweg dich, hilf uns! In Worten des Vaterunsers: Geheiligt werde dein Name – nicht eigentlich eine Preisung, sondern auch ein Weckruf: Lass nicht zu, dass dein Ruf ruiniert wird, dein Name einen schlechten Ruf bekommt.
In Psalm 12,6 wird Gott tatsächlich aufstehen, «Wegen der Unterdrückung der Schwachen stehe ich jetzt auf», spricht die Gottheit. Im Utrecht-Psalter verlässt der Heiland bildkräftig seine Mandorla, verlässt seinen Thron, beugt sich zu helfen. Kurt Martis Maria,1 die «aus ihren bildern [trat]/ und kletterte von ihren Altären herab» von einem
genialen Künstler schon ums Jahr 800 skizziert!
Thomas Markus Meier