Die als «Bistumsartikel» bezeichnete konfessionelle Ausnahmebestimmung kam 1874 als Artikel 50 IV als direkte Folge des Kulturkampfes in die Verfassung. Vorausgegangen war ein regelrechter Coup des engagierten Geistlichen Gaspard Mermillod (1824–1892), der seit 1864 als Weihbischof mit Sitz in Genf wirkte. Dank seiner Beziehungen zur Römischen Kurie erreichte er, dass der Papst 1873 das Gebiet des Kantons Genf aus dem Bistum Lausanne herauslöste und es zur selbstständigen «Apostolischen Administratur» erhob. In der Calvin-Stadt wirkte das einseitige Vorgehen als Provokation und die Genfer Regierung veranlasste den Bundesrat, Mermillod des Landes zu verweisen und ihn auszuschaffen. Der Administrator löste das Problem auf seine Weise: Er liess sich in Ferney auf der französischen Seite der Grenze nieder und verwaltete fortan von hier aus seine Quasi-Diözese.
Staatliche Regelungsansprüche
Die Regierungen des Bundes und des Kantons Genf wollten Veränderungen der Bistumsverhältnisse ohne vorausgehende Konsultation nicht zulassen. In ihren Augen fügte sich der Schritt in eine Serie katholischer Kampfansagen an das moderne Gemeinwesen. Schon in den Jahrzehnten zuvor waren zwischen Kantonen und der katholischen Kirche Konflikte ausgebrochen: Sei es wegen des Wirkens von Ordensleuten in der Schule oder wegen der Lehrmethoden an einem Priesterseminar. Als Fanal wirkte 1870 die Dogmatisierung des päpstlichen Primates auf dem ersten Vatikanischen Konzil, die als Kriegserklärung an den kirchlichen wie an den politischen Liberalismus galt. Der Konflikt um Gaspard Mermillod verband die weltanschauliche Spannung mit gegensätzlichen Positionen zur Frage der Diözesanorganisation. Es handelte sich seit längerer Zeit um einen wunden Punkt in der Beziehung zwischen Kirche und Staat, denn seit dem 18. Jahrhundert strebten weltliche Herrscher nach territorialer Geschlossenheit. Recht, Gesetz und Ordnung sollten innerhalb eines Staatsgebietes aus einer einzigen Quelle kommen – eine zwingende Forderung, von welcher der entstehende Nationalstaat nicht mehr abrücken konnte.
Einheitliche Herrschaftsausübung war unverträglich mit hoheitlicher Einflussnahme über staatliche Grenzen hinweg. Daher beseitigten die europäischen Mächte kirchliche Jurisdiktion von Bischöfen mit Sitz ausserhalb des eigenen Staatsgebietes. Auch die Eidgenossenschaft und ihre Nachbarn sorgten dafür, dass Diözesan- und Landesgrenzen zur Deckung kamen: 1792 trennte die Französische Republik das Elsass vom Bistum Basel, 1809 verlor Chur die Vorarlberger und Tiroler Pfarreien, 1819 wurde das Bistum Genf aufgehoben und seine Schweizer Anteile gingen an den Bischof von Lausanne. Im Fall des Bistums Konstanz erfolgte die Trennung entlang der Landesgrenze 1815 auf Veranlassung der römischen Kurie.
Im Tessin versuchte die Regierung seit der Kantonsgründung 1803, den Einfluss der Oberhirten von Mailand und Como loszuwerden und einen eigenen Sprengel zu schaffen. Erste Verhandlungen fanden 1817 und 1833 statt. Da sie erfolglos blieben und zahlreiche Konflikte entstanden, rief man Bern zu Hilfe, und am 22. Juli 1859 erklärte die Schweizer Regierung «jede auswärtige Episkopaljurisdiktion auf Schweizergebiet» als aufgehoben. Im Zuge der Befriedung nach dem Kulturkampf kamen 1884 zwei Vereinbarungen mit der römischen Kurie zustande, welche die Apostolische Administratur Lugano begründeten. Nach kirchlichem Recht handelte es sich dabei um eine Art Ersatzbistum; erst 1971 war es möglich, auch formal die kanonisch eigenständige Diözese Lugano zu errichten.
Die Streitigkeiten um kirchliche Zuständigkeiten in Genf und im Tessin führten zusammen mit der Ablehnung «ausländischer» Jurisdiktion 1874 zur Aufnahme des Bistumsartikels in die Bundesverfassung. Seither erforderte die Gründung von Diözesen die Zustimmung des Bundesrates. Die Vorschrift kam 1876 im Zusammenhang mit der Errichtung des christkatholischen Bistums der Schweiz zur Anwendung, später gaben nurmehr Gebietsveränderungen bereits bestehender Bistümer dazu Anlass. Die Wirkung blieb beschränkt auf die römisch-katholische und die christkatholische Konfession – andere Kirchen waren nicht betroffen, selbst wenn sie episkopal verfasst waren. So konnten ohne Zustimmung des Bundesrates 1950 in Genf und 1971 in Zürich orthodoxe Bischofssitze entstehen, und auch die evangelisch-methodistische Kirche blieb 1936 bei der Bistumsgründung in Genf von staatlicher Einflussnahme unbehelligt.
Die Aufhebung des Bistumsartikels
Mit dem Wachsen der konfessionellen Toleranz auf allen Seiten seit Mitte des 20. Jahrhunderts trat ins Bewusstsein, dass der Bistumsartikel als Diskriminierung einer Religionsgemeinschaft wirkte, zumal sich niemand mehr ernsthaft vor staatsgefährdenden Aktivitäten der katholischen Seite fürchten musste. Der Freiburger Nationalrat Joseph Ackermann (1901–1987) verlangte 1964 in einem Vorstoss die Streichung der Ausnahmebestimmung, was jedoch nicht zum Erfolg führte. Einen nächsten Anlauf unternahm 1994 der Aargauer Ständerat Hans Jörg Huber (1932–2008): Er forderte, der Bistumsartikel sei im Zuge der Gesamtrevision der Bundesverfassung aufzuheben. Die Umsetzung erfolgte nicht sogleich, vielmehr kam die Bestimmung zunächst unverändert als Art. 72 Abs. 3 in die neue Verfassung von 1999.
Bis zur Aufhebung war eine weitere Hürde zu überwinden. Zwar ergab die Vernehmlassung eine grosse Zustimmung zum Reformvorhaben: 16 Kantone und die vier Bundesratsparteien unterstützten das Streichungsbegehren. Noch immer aber gab es Vorbehalte: Die Regierungen der Kantone Bern, Glarus, Aargau, Genf und Thurgau lehnten die Streichung ab, auch die Evangelische Volkspartei, der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und die Christkatholische Kirche der Schweiz meldeten Vorbehalte an. Sie sahen im Bistumsartikel ein notwendiges Korrektiv zur Sonderstellung und den Vorteilen, welche die diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls in der Schweiz den Katholiken verschaffte. Verlangt wurde unter anderem die vorausgehende Ergänzung der Bundesverfassung um einen eigenen «Religionsartikel», welcher das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zum Staat grundsätzlich und für alle gleich regeln sollte. Zunächst fand die Idee Zuspruch, und der Schweizerische Evangelische Kirchenbund gab dazu eine Studie in Auftrag. Da die Kirchen sich jedoch nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen konnten, verlief das Vorhaben alsbald im Sand.
Die katholische Kirche äusserte sich in der Vernehmlassung überraschend uneinheitlich. Während die Bischofskonferenz die Streichung unterstützte, sprachen sich die Römisch-Katholische Zentralkonferenz und der Schweizerische Katholische Frauenbund dafür aus, sie auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Sie wollten an der Bestimmung vorerst festhalten, um bei der anstehenden Neuordnung der Bistumsgrenzen und der Bischofswahlen die Schweizer Eigenständigkeit gegenüber der Römischen Kurie besser zur Geltung bringen zu können. In der Volksabstimmung vom 10. Juni 2001 blieb das Vorhaben dennoch erfolgreich: 64,2 Prozent der Stimmenden und alle Kantone akzeptierten die Streichung. Damit war die Ausnahmeregelung beseitigt. Seither gelten Gründung oder Veränderung von Bistümern staatsrechtlich als innere Angelegenheit der betroffenen Kirchen. Juristisch steht damit einer Neugestaltung der Bistumsgrenzen nichts mehr im Weg. Wenn es dennoch Hindernisse gibt, die heute einer pastoral notwendigen Anpassung von Strukturen und Wahlverfahren entgegenstehen, so sind diese ohne Ausnahme kirchlich «hausgemacht».
Markus Ries