«Werkstätten der Hoffnung»

Seit der kanonischen Errichtung des Bistums Lugano vor 50 Jahren hat sich in der Kirche viel verändert. Über die Entwicklungen und Herausforderungen im Bistum und über das, was ihn besonders freut, sprach die SKZ mit Bischof Valerio Lazzeri.

Valerio Lazzeri (Jg. 1963) ist seit 2013 Bischof der Diözese Lugano. Er studierte zunächst Theologie in Freiburg i. Ü., danach promovierte er am Päpstlichen Institut für Spiritualität «Teresianum» in Rom. Er arbeitete u. a. im Sekretariat der Kongregation für das katholische Bildungswesen und war Professor für spirituelle Theologie an der Theologischen Fakultät von Lugano. (Bild: zvg)

 

SKZ: Bischof Valerio Lazzeri, was freut Sie besonders in diesem Jubiläumsjahr?
Bischof Valerio Lazzeri: Meine Freude steht in gewisser Weise im Zusammenhang mit der Freude, die aus den Worten von Bischof Giuseppe Martinoli bei der offiziellen Einweihung der Diözese hervorsticht. Tatsächlich gab es nichts Triumphalistisches an dieser Feier, sondern das dankbare Bewusstsein für die Erfüllung eines kirchlichen Weges, der bereits seit langem bestand und von historischen Umständen abhängig war, aber im Wesentlichen von der Hand Gottes geleitet wurde. Bis heute ist es wichtig zu erkennen, dass Kirche-Sein meint, dem Wort Gottes zu folgen, seiner Gnade, die im Stillen wirkt. Vielleicht kann uns, die wir als letzte die kanonische Form der Diözese erhielten, dies aufzeigen, dass die entscheidende Initiative immer nicht unsere ist. Es ist der Herr, der uns als seinen Leib gestaltet, um seine Gegenwart auf einem bestimmten Gebiet zu zeigen. Sich daran zu erinnern, ist auch inmitten der Bedrängnisse eine Quelle der Freude.

Wie hat sich das Bistum Lugano in den letzten 50 Jahren entwickelt?
Es ist schwierig, die Auswirkungen des Übergangs von der Apostolischen Verwaltung zur Diözese auf die Entwicklung der Kirche in Lugano abzuschätzen. Die Entwicklung einer kirchlichen Dynamik hängt nicht von der kanonischen Struktur ab. Es ist Tatsache, dass sich in den letzten 50 Jahren auf allen Ebenen der Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft sehr viel verändert hat, und das ist es, was wir auf jeden Fall erlebt haben. In dieser Zeit ist die ländliche Welt, in der die Pfarrgemeinde gediehen war, praktisch verschwunden. Das Gesicht des Tessiner Katholizismus bewahrt zwar viele noch lebendige, traditionelle religiöse Ausdrucksformen, hat sich aber durch neue Formen, Bewegungen, Wege, Assoziationen und Erfahrungen verschiedener Art bereichert. Das Presbyterium ist stark international geworden. Die grösste Herausforderung besteht darin, in allen Bereichen der Seelsorge ernsthaft und beständig so zu arbeiten, dass Gemeinschaft in der Vielfalt der Charismen wachsen kann. Dies ist ein Engagement, das in diesem halben Jahrhundert begonnen wurde, aber mit Mut, Geduld und Konstanz vorangetrieben werden muss.

Inwieweit wirkt die lange Epoche der indirekten Zugehörigkeit zum Bistum Basel noch nach?
Ich bin nicht in der Lage, eine genaue historische Bewertung vorzunehmen. Mir scheint jedoch, dass die lange Zeit, in der der Bischofstitel von Lugano mit dem von Basel in Verbindung war, nie direkte Auswirkungen auf das Leben der Kirche im Tessin hatte. Die pastorale und administrative Autonomie wurde den Tessiner Hirten damals stets garantiert. Heute wird dieses Element mehr denn je als Tatsache der Vergangenheit in Erinnerung gerufen. Natürlich konnte die Unvollständigkeit des kanonischen Statuts bei den Menschen ein lebendigeres Bewusstsein für die Zugehörigkeit zur Pfarrei als denn zur Diözese bewirken. Auch heute noch kann es vorkommen, dass die Menschen die Bedürfnisse der Diözese weniger spüren als die ihrer Pfarrei. Ich habe jedoch den Eindruck, dass es gegenwärtig andere Faktoren sind, die die Unzufriedenheit der Gläubigen mit dem Weg der Diözese schüren.

Vor welchen grossen Herausforderungen steht das Bistum in Zukunft?
Zum grossen Teil geht es um die Herausforderungen, die allen Diözesen unserer säkularisierten Welt gemeinsam sind. Etwas konkreter weise ich auf die Entvölkerung der ärmsten Regionen des Tessins mit allen Folgen hin, wie z. B. den Mangel an Menschen, die sich für die Verwaltung, aber noch mehr für die Evangelisierung zur Verfügung stellen können. Es gibt noch einen langen Weg, um Glockentürme und Besonderheiten aller Art zu überwinden. Ein weiterer Aspekt sind die wirtschaftlichen Ressourcen, um die Seelsorge in ihren derzeitigen Strukturen sicherzustellen. Im Tessin gibt es kein Finanzierungssystem wie in den anderen Teilen der Schweiz, und jede Pfarrei hat diesbezüglich eine besondere Regelung. Die grösste Herausforderung besteht jedoch darin, das Evangelium Jesu Christi in breiter und alles durchdringender Weise hörbar und plausibel zu machen. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen, oft ohne es zu wissen, auf das Wort der Erlösung in Jesus Christus warten. Es sind jedoch oft Christinnen und Christen selbst, die ihrer Taufe als einer Transformation durch Christus, der nun in ihnen handelt, nicht mehr wirklich vertrauen können. Deshalb spreche ich oft von der Dringlichkeit, echte Mystagogie und Hoffnung zurückzugewinnen, und ich wünsche, dass auch kleinste Gemeinschaftserfahrungen als «Werkstätten der Hoffnung» verstanden werden.

Das Tessin weist einen reichen Schatz an Sakralbauten auf. Wie stehen Sie dazu, dass materiell schlecht gestellte Pfarreien bei Renovationen ihrer Kirchen mit Fundraisingfirmen kooperieren?
Wir haben diesbezüglich mehrfach genaue Hinweise gegeben und sie jedes Mal wiederholt, wenn wir die Gelegenheit dazu hatten. Wir halten es für inakzeptabel, dass die Finanzierung der Restaurierung heiliger Gebäude mit Methoden erfolgt, die die Spender in die Irre führen und den Fundraisingunternehmen grosse Gewinnspannen verschaffen. Leider führt die Autonomie der im zivil-kirchlichen Recht vorgesehenen Pfarreiorganisation in vielen Fällen dazu, dass diese gegen unseren Willen verstanden wird.

Welche Kapelle oder Kirche liegt Ihnen besonders am Herzen?
Ich komme ursprünglich aus dem Bleniotal, und es ist selbstverständlich, dass mir die Kirche San Carlo di Negrentino besonders am Herzen liegt. Ihre Fresken sind aussergewöhnlich. Insbesondere die Darstellung des siegreichen Christus über den Tod (11. Jh.), die ich auch als Bild zur Erinnerung an meine Bischofsweihe gewählt habe.1

Wie sehen Sie das Verhältnis zur katholischen Kirche in der Deutschschweiz und der Romandie?
Es ist eine Beziehung, die von vielen historischen und kulturellen Unterschieden, aber auch von so vielen Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung geprägt ist. Wenn man an der Oberfläche bleibt, hat man den Eindruck, dass es auf der Ebene der Sprachregionen unterschiedliche Gewichtungen in ethischen und religiösen Fragen gibt. Die Wurzel verbindet uns jedoch mit dem gleichen Wunsch, auf heimischem Boden präsent zu sein, mit dem Angebot des christlichen Glaubens, der für die Menschen in unserer komplexen Zeit stark und bedeutsam ist.

In welchen Bereichen wünschen Sie sich ein verstärktes Miteinander?
An Zusammenarbeit auf der Ebene verschiedener pastoraler, karitativer und solidarischer Initiativen mangelt es nicht. Es ist schwieriger, eine gemeinsame Sprache zu finden, wenn es darum geht, den gelebten Glauben zu teilen. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen der schweren Krise, die die Kirche und ganz allgemein die Menschheit durchmacht. Um die Realität zu lesen, gehen wir oft von unterschiedlichen Prämissen aus, die wir nicht immer deutlich machen können. Dies kann zu Missverständnissen führen. Kulturelle und sprachliche Hindernisse können uns jedoch nicht abschrecken. Vielmehr sind sie Anreiz, das Gespräch fortzusetzen, auch wenn wir die Ergebnisse nicht sofort sehen.

Wo sehen Sie neues kirchliches Leben im Bistum entstehen?
Es ist nicht leicht, auffällige Manifestationen des neuen kirchlichen Lebens zu erfassen. Oft sind wir versucht, nur auf Anzeichen eines Rückgangs hinzuweisen. Die Pandemie hat viele Initiativen der Jugend- und Familienpastoral zunichte gemacht. Gleichzeitig sind tragfähige alternative Projekte entstanden. Sie wurden in kleinen, aber wachen Pfarreien geboren, um Menschen und Familien in Not zu unterstützen. Die Freiwilligenarbeit in verschiedenen Bereichen ist stets lebendig. Darüber hinaus mangelt es nicht an vielversprechenden Wegen im Bereich der Ausbildung zur Lektorin bzw. zum Lektor, Akolyth oder Diakon und der lebenslangen Erwachsenenbildung. Die Theologische Fakultät Lugano (FTL), die vor kurzem der Universität der italienischen Schweiz angeschlossen wurde, hat sich positiv entwickelt und leistet wertvolle Verdienste in Kirche und Gesellschaft. Was uns die Zukunft verheisst, mag bescheiden erscheinen, wenn man es mit der gesellschaftlichen Relevanz vergleicht, die die Kirche im Tessin in der Vergangenheit hatte. Wichtig ist jedoch, alles zu tun, um den bescheidenen Trieben, mit denen der Herr uns heute seine Treue zu unserem Weg zeigt, zum Wachstum zu verhelfen.

Interview: Maria Hässig

 

1 Einen Abdruck des siegreichen Christus finden Sie in hier und dazu weitere Informationen zur Kirche San Carlo in Negrentino.