Sie spielt, krabbelt, läuft und rennt, schaut mit den Eltern Kinderbücher an und hört gerne Geschichten. Als sie zweijährig ist, merken ihre Eltern, dass sie ausser Haus nur noch langsam geht und sehr unsicher wirkt. Sie gehen mit ihr zum Arzt.
Karin Oertle ist seit 25 Jahren Spitalseelsorgerin am Waidspital in Zürich. Das Besondere: Sie ist blind, einzig auf dem rechten Auge sieht sie hell-dunkel: einzelne Schatten, starke hell-dunkel Kontraste. Damals mit zwei Jahren diagnostizierten die Ärzte Morbus Crouzon. Eine Erkrankung, bei der die Fontanellen, die Schädelknochennähte zu früh verknöchern. «Das noch wachsende Hirn suchte sich Platz und drückte dabei auf den Sehnerv, nur auf den Sehnerv. Es hätte weitere Bereiche treffen können», betont Oertle im Gespräch, das ich mit ihr in ihrem Büro an einem milden Herbsttag führe.
Analog und digital unterwegs
Sie erwartet mich am Haupteingang. Der Blindenstock macht sie mir sofort erkenntlich. Sie sieht etwas auf sich zukommen, sie kann nur erahnen, dass es ein Mensch ist. Stillstehende Autos erkennt sie an der Höhe, fahrende sieht sie gar nicht. Zielstrebig und sicher gehen wir schweigend durch Gänge und über Treppen zu ihrem Büro hinunter. Kaum sind wir vor Ort, klingelt das Telefon. Ein Patient wünscht ein Gespräch. Sie notiert die Zimmernummer auf der mechanischen Stenomaschine. Diese sei zwar altertümlich, aber ideal für Kurznotizen in Braille- schrift. Die Digitalisierung hat aber auch in ihrem Büro Einzug gehalten und erleichtert ihr die Arbeit immens: Die Umwandlung von geschriebenem Text in Brailleschrift geht heute viel schneller und einfacher als früher. Unter ihrer PC-Tastatur entdecke ich eine Leiste in Brailleschrift. Auf ihr liest sie Texte, E-Mails und Webseiten.
Ob ihr weitere Hilfsmittel zur Verfügung stünden, will ich wissen. «Ja, diese Uhr zum Beispiel. Ich kann das Glas öffnen und die Zeit ertasten. Auf fünf Minuten genau weiss ich, wie spät es ist. Es gibt auch sprechende Uhren, aber diese stören in einem Gespräch oder an einer Sitzung. Diese brauche ich, wenn ich unterwegs bin und die Zeit auf die Minute genau wissen muss, um beispielsweise den Zug rechtzeitig zu erwischen.»
Spitalseelsorgerin sein ist möglich
Nach dem Gymnasium studierte Oertle katholische Theologie an der Theologischen Hochschule in Chur. Das Studium war für sie alles andere als ein «Flohnerleben». Sie musste alle relevante Literatur einlesen lassen. «Ich erfragte die Semesterliteratur jeweils sehr früh bei den Professoren, denn die Bücher musste ich an die Universität in Marburg senden. Dort wurden sie mir auf Kassetten gelesen. Ich hörte mir diese anschliessend an und machte mir Notizen.» Während dem Studium absolvierte sie Zusatzmodule im Blick auf die mögliche Aufgabe als Spitalseelsorgerin. Aber dass sie diese Aufgabe wahrnehmen könnte, musste sie erst noch zeigen. Hierfür absolvierte sie ein unentgeltliches Praktikum im Triemlispital in Zürich. «Ich war damals jung, frisch ab dem Studium, es mangelte mir an Erfahrung. Aber nach diesem Praktikum war meine Sehbehinderung bei den kirchlichen Vorgesetzten kein Thema mehr.»
Den eigenen Eindrücken vertrauen
Nach dem Praktikum kam sie ins Waidspital und begann mit einem Pensum von 20 Prozent, das nach und nach auf 80 Prozent aufgestockt wurde. Inzwischen ist sie hauptamtliche Spitalseelsorgerin und führt Gespräche, gestaltet Gottesdienste und verrichtet alle anfallenden administrativen Arbeiten. An ihrer Aufgabe als Spitalseelsorgerin mag sie besonders, dass sie ihrem Hobby – wörtlich – frönen kann. Sie höre fürs Leben gern Geschichten, Lebensgeschichten. Dafür nimmt sie sich Zeit und freut sich sehr, wenn es im Gespräch mit einem Patienten zu einer persönlichen Begegnung kommt. Der Mensch – sein Wesen – steht für sie im Zentrum, mit dem sie im Gespräch nach seinen Kraftquellen sucht, ihm hilft, einen Weg in der schweren Situation und sich selber wieder zu finden.
Wie es dem Gegenüber geht, das nimmt sie über alle ihr zur Verfügung stehenden Sinne wahr. «Aus der Stimme kann ich sehr viel herauslesen. Inzwischen merke ich schnell, ob jemand bedrückt, unglücklich, schüchtern, selbstbestimmt, frei oder ablehnend ist», erzählt sie. Sie achtet auf Nebensätze und was zwischen den Zeilen gesagt wird. Auch die Körperhaltung verrate ihr viel. Ist das Gegenüber ihr zugewandt oder ist dessen Aufmerksamkeit auf anderes gerichtet? Der Händedruck ist ebenso sehr sprechend: die Art des Drucks, die Grösse der Hand. «Ich merke an der Haltung einer Person, ob jemand Wert auf sein Aussehen legt oder sich gehen lässt», erzählt sie weiter. Zu Beginn ihrer Aufgabe als Spitalseelsorgerin besprach sie ihre Eindrücke mit einer sehenden Person und überprüfte dabei, ob ihre Wahrnehmung mit jener der anderen Person übereinstimmte. «Ich habe gelernt, auf meine Wahrnehmung und meinen Eindruck zu vertrauen, auch wenn ich nichts sehe», resümiert sie die Anfangsphase.
Blindsein ist ihre Stärke
Die Patienten reagieren auf sie als blinde Seelsorgerin unterschiedlich. Viele geben sich offener, freier und entspannter, weil sie merken, dass Oertle sie nicht sieht und sie nicht nach ihrem Aussehen beurteilt. Einmal bekundete eine Patientin Mühe, dass es mit ihr keinen Blickkontakt gibt. Nachdem sie darüber gesprochen hatten, kam es zu einem langen persönlichen Gespräch. Gerade dass sie nicht sehen könne, sei ihre Stärke in der Seelsorge. «Denn Blindsein ist eine Schule. Meine Blindheit hat mich in der Konzentration geübt und gestärkt. Ich muss ganz bei der Sache sein, die ich tue. Wenn ich gehe, konzentriere ich mich darauf, wo ich genau bin. Wenn ich an verschiedenes denke, verliere ich die Orientierung und muss mich neu orten, das braucht Zeit.» Diese Schule der Konzentration hilft ihr in Gesprächen. Sie ist ganz beim Patienten, ganz gegenwärtig. Das spüren die Patienten. Wie bei der räumlichen Orientierung geht sie auch im Gespräch vom Detail aus und erkennt tastend nach und nach das Ganze.
Mit allen Sinnen
Weihnachten steht vor der Tür. Oertle mag die Atmosphäre von Weihnachten, das Heimelige, die Wärme im Haus. Auch wenn sie die brennenden Kerzen nicht sieht, ist ihr Licht existenziell wichtig. «Je heller es ist, desto besser kann ich hell und dunkel erkennen.» Ihr selber bedeuten Krippenfiguren sehr viel. Sie ertastet die Figuren, die ihr die Geschichte Jesu erzählen. Sie ist fasziniert von ihrer Vielfalt. Weihnachten sei ein Fest der Sinne wie kein anderes. Weihnachten biete auch Menschen mit einer Seh- oder anderen Behinderung eine sinnliche Erfahrung. Darauf achte sie auch bei der Gestaltung der Patientenweihnacht im Spital. «Wir stellen eine Krippe auf. Ich erzähle eine Geschichte. Dazu gibt es Kaffee, Kuchen, Guetzli und Mandarinen. Alle Sinne sollen angesprochen werden. Es ist ein christliches Fest, das soll zum Ausdruck kommen, und doch soll die Patientenweihnacht offen sein für alle. Mir fällt auf», führt sie weiter aus, «dass die Menschen in der Weihnachtszeit gesprächiger sind. Das beginnt schon im November. Ich mache bei vielen eine gewisse Sehnsucht und Melancholie aus. An Weihnachten ist diese Atmosphäre geballt: Wessen Herz voll ist, dem geht der Mund über. Und dies nehme ich nicht nur im Spital wahr, sondern auch unterwegs.»
Ein Geschenk, sozusagen ein Weihnachtsgeschenk, sind für Oertle jene Begegnungen – auch mitten im Jahr –, wo sie merkt, wie sich im Gespräch das Gemüt des Gegenübers aufhellt, wie bei ihm wieder Harmonie einkehrt. «Ich finde es am Schlimmsten, wenn Menschen verbittert sind. Für mich ist es ein Highlight, wenn ich merke, dass die Verhärtung etwas abbröckelt. Ich freue mich an Menschen, die trotz allem nicht verbittert sind.» Sie selbst strahlt eine grosse innere Freude und Zufriedenheit aus. In ihrer Gegenwart ist Wohlsein.
Erfüllt vom Gespräch verabschiede ich mich von ihr beim Haupteingang, denn ob ich den Weg vom Büro zum Ausgang durchs Labyrinth der Spitalgänge alleine gefunden hätte, ist fraglich.
Maria Hässig