Während der Arbeit an meinem Kinodokumentarfilm «Bruder Klaus» stand ich den widersprüchlichsten Erwartungen gegenüber. Einige freuten sich auf einen Film, der den Landesvater endlich von seinem Podest holen würde, während andere ihn weiterhin für die geistige Landesverteidigung dienstbar gemacht sehen wollten.
Je länger ich mich mit Niklaus von Flüe befasste und die Quellen1 studierte, desto mehr wurde mir klar, dass es sich um eine schillernde und widersprüchliche, letztlich aber unfassbare Persönlichkeit gehandelt haben musste, die sich gegen Vereinnahmungen, Projektionen und Legendenbildung sperrt. Die Vielfalt der Deutungsversuche drückt sich auch im breiten Spektrum von Bildern aus, die von ihm im Laufe der Jahrhunderte gemacht wurden. Die einen zeichnen ihn weich und stellen ihn dar als entrückt zum Himmel Blickenden; andere porträtieren ihn holzschnittartig mit wild zerzausten Haaren, offenem Mund und beinahe irre gewordenem Blick. Hinter jedem Bildnis steckt eine künstlerische Haltung, die implizit subjektiv und interpretierend ist. Meines Wissens zeigt aber kein Bild Bruder Klaus vor 1467, bevor er in die «Einöde» ging, als Bauer an der täglichen Arbeit oder als Soldat im Alten Zürichkrieg. Meistens hält er sein Bätti oder den Pilgerstab, kniet oder steht mit gefalteten oder verschränkten Händen, trägt eine Kutte. Porträtbilder überwiegen. Nur die Wegkapelle im Ranft zeigt ihn in der Skulptur von Robert Rösli in kriegerischer Pose mit einem Schwert in der Hand.
Jeder Zeit ihr eigenes Bruder-Klausen-Bild
Würde ich meinen Film, den ich zwischen 1987 und 1991 realisiert habe, heute nochmals machen, käme er bestimmt anders heraus. Weil Bruder Klaus ein in Bildern denkender Mensch war, würde ich heute noch mit seinen «unorthodoxen Urvisionen» (C. G. Jung), seinem Radbild2 arbeiten, stärker den Bildern und elliptischen Montageformen vertrauen und auf die erklärende, sich um Deutungshoheit bemühende Informationsebene verzichten. Ein Kinofilm ist keine wissenschaftliche Arbeit. Authentizität ist mir wichtig. Mich interessiert die Relevanz des Lebens und Wirkens Niklaus von Flües im Hier und Jetzt. Reine Information entzaubert. Dieser Stoff darf seines Geheimnisses nicht beraubt werden.
Inspiriert hat mich einerseits die Lektüre von Hans Rudolf Hiltys erzählerischer Recherche «Bruder Klaus oder zwei Männer im Wald»3. Hilty baut eine fiktive Rahmenhandlung: Zwei Männer lernen sich auf Spaziergängen kennen, halten Zwiegespräche über Niklaus von Flüe und seine Zeit. Der eine ist Al Kiser, Kustos des Helvetischen Museums für Altertümer, Departement des Innersten, der andere Andreas Montaschiner, Journalist. Die Figur des Kustos Kiser sichert in assoziativer Gedankenarbeit Spuren, legt Verschüttetes frei, spekuliert und spintisiert über Mystik und Politik, Rezeption und Interpretation, Wirklichkeit und Phantasie – dabei ein dichtes erzählerisches Netz über den Stoff «Bruder Klaus» spannend. Sein Dialogpartner hakt nach, stellt vermeintlich gesicherte Erkenntnisse in Frage, spitzt zu oder widerspricht. Dabei entsteht ein höchst bereicherndes Bruder-Klausen- und Zeit-Bild.
Auch der Papstbesuch im Flüeli-Ranft 1984 inspirierte mich. Papst Wojtyla besuchte das Wohnhaus von Bruder Klaus und das Pilgerhotel Pax Montana. In die Ranftschlucht hinunter ging er aus Sicherheitsgründen nicht. Im Wald hätte sich ein Heckenschütze verstecken können. Dieser Gegensatz berührte mich: hier der Papst, mit dem Armeehelikopter über den Ranft hinwegfliegend, von Leibwächtern beschützt, umgeben von Prominenz aus Politik und Kirche; dort Bruder Klaus, unten in der Schlucht, in sich gekehrt, nur im Innern bewegt.
Hans Rudolf Hiltys Zugang zu Niklaus von Flüe
In den letzten Jahren des kalten Krieges war ein eigenwilliger, künstlerisch herausfordernder Umgang mit Bruder Klaus und seinem Vermächtnis eher verpönt. Hiltys offene Recherche stiess in Obwalden auf Ablehnung; sein Buch war nur unter dem Ladentisch erhältlich. Urs Herzog hingegen attestierte ihm enorme Sachkenntnisse: Auf wenigen, souveränen Seiten werde eine Wirtschaftsgeschichte der spätmittelalterlichen Innerschweiz skizziert, dass es eine Freude sei. Hilty schneide ein Bild von Niklaus von Flüe: die Frömmigkeit des Analphabeten, das «wilde Denken», das «wilde» Schauen von Gesichtern, wie sie die mystische Literatur des Mittelalters so noch kaum gesehen habe.4
Ein Film über Bruder Klaus kommt an seinen Visionen, die man auch als seine ekstatischen Seelenlandschaften deuten kann, nicht vorbei. Mit Hilfe der Visions-Interpretationen der Jung-Schülerin Marie-Louise von Franz5 habe ich versucht, vor allem die Brunnen- und Turm-Vision ins Bild zu holen, um damit meine eigene Projektion des Geheimnisses des Eremiten umzusetzen. Damit – und unter Einbezug seiner Naturverbundenheit – ist Bruder Klaus für mich vor allem ein Mystiker, Visionär und Schamane.