Bruder Klaus - Prophet der Reformation

Als vor einiger Zeit die Idee auftauchte, die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche könnten doch im Jahr 2017 den 600. Geburtstag von Niklaus von Flüe und das 500-Jahr-Jubiläum der Reformation mit einer gemeinsamen Feier begehen, meldeten sich neben positiven auch kritische Stimmen.

Ob es Sinn mache, das Gedenken an die Reformation mit der Feier eines katholischen Heiligen zu verbinden, fragten die einen. Andere äusserten die Befürchtung, dass Bruder Klaus auf diese Weise gewissermassen als katholischer Gegenpol der Reformation erscheinen könnte, was einem Rückfall in einen überholten Konfessionalismus gleichkäme. In der Tat stellt der bevorstehende nationale ökumenische Gedenk- und Feiertag, der katholische und reformierte Christen und Christinnen am 1. April 2017 unter dem Thema «Gemeinsam zur Mitte» in Zug vereinen wird, eine ökumenische Herausforderung dar. Gewiss stehen die beiden Jubiläen zueinander nicht in einer symmetrischen Beziehung. Wenn in der Schweiz der Reformation gedacht wird, stehen das Ereignis und seine Bedeutung im Zentrum, und nicht – wie mitunter in Deutschland – ein quasiheiliger Protagonist.

Von Bedeutung ist jedoch, dass die Wirkungsgeschichte der Reformation und die Wirkungsgeschichte von Niklaus von Flüe auf vielfache Weise miteinander verflochten sind. Mit beiden Phänomenen verbinden sich sowohl auf römisch-katholischer wie auch auf evangelischer Seite identitätsstiftende Erinnerungen. Für den Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit kann die Geschichte der Wahrnehmung von Bruder Klaus geradezu als Paradigma dienen. Manche Züge, die das Bild des Heiligen bis in die Gegenwart prägen, haben sich in der Zeit der Gegenreformation herausgebildet und sind daher mittelbar eine Folge der Kirchenspaltung.1 Insofern haben das Reformations- und das Bruder-Klaus-Jubiläum durchaus miteinander zu tun. Mit der gemeinsamen Feier bringen die beiden Kirchen zum Ausdruck, dass ihnen an einer ökumenischen Erinnerungskultur gelegen ist, die keine blinden Flecken kennt und beiden Seiten gerecht wird.

Zwischen den konfessionellen Fronten

Niklaus von Flüe galt – unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit – in der schweizerischen Eidgenossenschaft zu jeder Zeit als nationale Integrationsfigur und als Symbol des Friedens und der Versöhnung. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist freilich, dass er vom 16. bis ins 20. Jahrhundert zugleich die konfessionelle Zweiteilung der Schweiz personifizierte und dass seine Friedensbotschaft dabei nicht selten auf der Strecke blieb. Gerade im Jubiläumsjahr 2017 wäre es unehrlich, zu verschweigen, dass Bruder Klaus immer wieder zwischen die konfessionellen Fronten geriet. Die Frage, auf welche Seite er sich selber geschlagen hätte, ist müssig, obwohl sich seine historische Gestalt zumindest am Rande bereits dem Zeitalter der Konfessionalisierung zuordnen lässt. Ihn als «Katholiken» oder als «Protestanten» zu vereinnahmen, verbietet sich schon deshalb, weil es zur Zeit Huldrych Zwinglis eine katholische Kirche im späteren, konfessionellen Sinn so wenig gab wie eine evangelische. Aus den Quellen geht immerhin klar hervor, dass die Reformatoren in ihm nicht einen «Andersgläubigen» sahen, sondern einen authentischen Zeugen des Evangeliums, der mit den von ihnen angeprangerten Missständen in der Papstkirche nichts zu tun gehabt hatte.2 Nachdem ihn sein erster nachreformatorischer Biograf Hans Salat, ein streitbarer Verteidiger des «alten Glaubens», wenige Jahre nach dem Zweiten Kappeler Krieg zum Idol katholischer Rechtgläubigkeit und zum Propheten der Glaubensspaltung erklärt hatte,3 wurde der selige Einsiedler seine Rolle als Instrument konfessioneller Polemik – die er selber gewiss am allerwenigsten gesucht hätte – nicht mehr los.

Vom Propheten der Glaubensspaltung …

Kein anderes Werk hat den national-religiösen Bruder-Klaus-Mythos so nachhaltig geprägt wie die Biografie von Johann Joachim Eichhorn. 1614 kolportierte der zum katholischen Glauben übergetretene ehemalige Lutheraner als Erster die Legende, dass Niklaus von Flüe 1481 persönlich auf der Tagsatzung von Stans erschienen sei und dort seine als «politische Räte» in die Geschichte eingegangenen Mahnungen vorgetragen habe.4 Gemäss der Darstellung Eichhorns fand die Rede des Einsiedlers an die Abgeordneten der Acht Alten Orte ihren Höhepunkt in der Warnung, die ihm bereits Hans Salat in den Mund gelegt hatte: «Es wird sich nach meinem Tod ein grosser Aufruhr und Zwiespalt erheben in der heiligen Christenheit. (…) Bleibt auf dem Weg und in den Fussstapfen unserer frommen Vorfahren!»

Dieser Ausspruch geht so wenig auf Niklaus von Flüe zurück wie der bekannte und vielzitierte Satz «Macht den Zaun nicht zu weit!». Es handelt sich um ein «vaticinium ex eventu», um eine Weissagung, die erst nach dem Eintreten des angeblich vorhergesagten Ereignisses formuliert wurde. Es war gerade diese fingierte Prophezeiung, die den Tag zu Stans in der katholischen Eidgenossenschaft zu einem bedeutsamen Erinnerungsort machte, und nicht etwa die Vermittlertätigkeit von Bruder Klaus. Diese hatte im 16. Jahrhundert zwar ein rühmendes Echo in amtlichen Dokumenten und in mehreren Chroniken gefunden,5 nicht aber in den ältesten Lebensbeschreibungen des Eremiten und schon gar nicht in einer breiteren Öffentlichkeit.6 Mit dem Erscheinen von Eichhorns Biografie veränderte sich die kollektive Wahrnehmung der Tagsatzung geradezu schlagartig: In den Seligsprechungsprozessen von 1621 und 1625 meldeten sich Dutzende von Zeugen zu Wort, die gehört haben wollten, dass Bruder Klaus in Stans die kommende Häresie vorausgesagt und daher empfohlen habe, Freiburg und Solothurn zur künftigen Sicherung des Stimmenmehrs der katholischen Orte als Bündnispartner aufzunehmen.7 In der Tat hatte Eichhorn eine entsprechende Mahnung des Einsiedlers an die Länderorte erwähnt und hinzugefügt, dass sie aus dem Beitritt dieser beiden Stände seither erheblichen Nutzen gezogen hätten. Dieser Hinweis findet sich auch auf dem berühmten Gemälde, das ein unbekannter Meister um 1650 für das Stanser Rathaus schuf und das als Vorlage für fast alle späteren Darstellungen der Tagsatzung diente.8 Der mahnend erhobene Zeigefinger von Bruder Klaus im Zentrum des Bildes gilt zweifellos den Städten Zürich und Bern. Seitens der katholischen Orte konnten diese nun im Nachhinein des Ungehorsams gegenüber seinen Weisungen bezichtigt werden; zugleich sprach man ihnen aufgrund ihres Abfalls die Legitimation ab, sich mit ihren Mahnungen zu eidgenössischer Einheit auf ihn zu berufen. Demgegenüber sahen sich die katholischen Orte durch die angebliche Warnung vor der Reformation in ihrer Überzeugung bestätigt, dass der von Bruder Klaus in Stans gestiftete Friede nur auf der Grundlage des von ihm gelebten und bezeugten «alten, wahren Glaubens» Bestand haben konnte.

… zum Patron der «Rückkehr-Ökumene»

Auf den legendären Bericht über den prophetischen Auftritt des Einsiedlers in Stans griffen die schweizerischen Bischöfe 1869 in einer Bittschrift zurück, in der sie Papst Pius IX. an den jahrhundertealten Wunsch der Schweizer Katholiken erinnerten, den seligen Niklaus von Flüe heiligzusprechen.9 Mit diesem Anliegen verbanden sie die Hoffnung, dass es durch Fürbitte von Bruder Klaus zur Rückkehr des gesamten Schweizervolks zum katholischen Glauben kommen werde. Damit würde die irdische Mission des Seligen ihre endgültige Erfüllung finden.

Die Tagsatzungslegende diente den Bischöfen gewissermassen als Ausgangspunkt eines heilsgeschichtlichen Konzepts: In der Kanonisierung von Bruder Klaus, der seinerzeit vergeblich versucht hatte, die Nation vor der Glaubensspaltung zu bewahren, sahen sie eine wichtige Etappe auf dem Weg zur konfessionellen Wiedervereinigung der Eidgenossenschaft. Der Prophet der Reformation wurde zum Patron der sogenannten «Rückkehr-Ökumene». In diesem Sinne sah auch der «Bruder-Klausen-Bund», der 1927 zur Förderung des Gebets für die Heiligsprechung des Einsiedlers gegründet wurde, in der «Wiedervereinigung des Schweizervolkes im Glauben durch die Fürbitte des seligen Bruder Klaus» eines seiner Hauptanliegen.10 Solche und ähnliche Äusserungen weckten auf reformierter Seite die Befürchtung, dass die Heiligsprechung des Seligen letztlich die Rekatholisierung der Schweiz zum Ziel habe. Daher begegnete man den Kanonisierungsbestrebungen mit Unbehagen und bisweilen auch mit offener Polemik.

«Ökumenischer Heiliger» oder Prophet einer neuen Reformation?

Die reformierten Ängste verflüchtigten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings rasch. Wegen der fortschreitenden Säkularisierung und weil die katholische Weltkirche dem 1947 endlich heiliggesprochenen Bruder Klaus zu wenig Zeit liess, um ihn als Fürbitter für die Rückkehr des gesamten Schweizervolks in den Schoss der Una sancta wahrzunehmen. Knapp zwei Jahrzehnte später verabschiedete sich das Zweite Vatikanische Konzil in einem Dekret von der traditionellen Lehrmeinung, Ökumene könne nichts anderes bedeuten, als die volle Reintegration der «Irrgläubigen» in die römische Kirche. In der Aufbruchsstimmung nach dem Konzil entwickelte sich ein ökumenischer Dialog und der heilige Bruder Klaus bedrohte den religiösen Frieden in der Schweiz nicht mehr. In den Achtzigerjahren begann man ihn gar als «ökumenischen Heiligen» zu beschwören – eine angesichts des divergierenden Verständnisses von Heiligkeit wenig hilfreiche Leerformel.

Vielleicht eröffnet das gemeinsame Gedenkjahr die Chance, Niklaus von Flüe in einer neuen Weise als Propheten der Reformation zu entdecken – nicht als ein Orakel der Glaubensspaltung, sondern als eine Gestalt, in der sich die Hoffnungen aller Christinnen und Christen auf eine neue, wahrhaft ökumenische Reformation bündeln, die die rückwärtsgewandten Begriffe «Trennung» und «Spaltung» aus dem kirchlichen Vokabular verschwinden lässt und Einheit in versöhnter Verschiedenheit sichtbar und erfahrbar macht.

 

1 Vgl. Pirmin Meier: Ich Bruder Klaus von Flüe, Zürich 1997, 454–459.

2 Vgl. Fritz Gloor: Wie Bruder Klaus katholisch wurde – eine reformierte Perspektive. In: Mystiker Mittler Mensch. 600 Jahre Niklaus von Flüe, hrsg. v. Roland Gröbli u. a., Zürich 2016, 167–170.

3 Text bei Robert Durrer: Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus von Flüe, sein Leben und seinen Einfluss. Bd. 2, Sarnen 1921, 664–691.

4 Text bei Durrer (wie Anm. 3), 982f, und bei Ernst Walder: Das Stanser Verkommnis, Stans 1994, 232–234.

5 Vgl. Walder (wie Anm. 4), 53–74. Quellentexte ebd. 206f.227–232.

6 Vgl. Roland Gröbli: Die Sehnsucht nach dem «einig Wesen», Nachdruck Luzern 2006, 72.

7 Texte bei Johann Ming: Der selige Bruder Nikolaus von Flüe, sein Leben und Wirken. Bd. 3, Luzern 1875, 339–361. – Zur historischen Wertlosigkeit dieser indirekten Zeugenaussagen vgl. Durrer (wie Anm. 3), 993f.

8 URL (5. 11. 2016): http://www.nidwaldner-museum.ch/uploads/images/ Gallery/Sammlung/Stanser- Verkommnis/Stanser-Verkommnis_8797.jpg; auch bei Walder (wie Anm. 4), 242.

9 Text bei Rupert Amschwand: Bruder Klaus. Ergänzungsband zum Quellenwerk von Robert Durrer, Sarnen 1987, 398–401.

10 Vgl. Rolf Weibel: Ökumene in der Schweiz. In: Für die Einheit der Kirche in der Schweiz, hrsg. von der Ökumene-Kommission der SBK, Freiburg o. J. (2005), 9–29, 9.

 

Fritz Gloor

Fritz Gloor ist reformierter Pfarrer im Ruhestand. Früher war er im Kanton Nidwalden und in Engelberg tätig. Sein Buch «Bruder Klaus und die Reformierten. Der Landesheilige zwischen den Konfessionen» erscheint im April 2017 im TVZ-Verlag Zürich.