Schon viele Jahre ist eine Fürbitte zu Niklaus und Dorothee Teil meiner täglichen Morgenbesinnung: «Heiliger Niklaus und heilige Dorothee, bittet für uns alle, für alle Menschen und für unsere Welt!»
Vor 30 Jahren, als ich erstmals in einem Besinnungstag von Nikolaus von Flüe hörte, hätte ich dazu keinen Anlass gespürt. Damals war meine innere Antwort ein zweijähriges Unverständnis und Hadern darüber, wie die Kirche einen Mann heiligsprechen kann, der Frau und Kinder verlässt. Der Schriftleiter einer Landvolk-Zeitschrift sagte dann einen Schlüsselsatz, der mein Verstehen anbahnte: «Weil eine Frau ihren Mann freigab, mussten so viele Frauen und Mütter ihre Männer und Söhne nicht freigeben für kriegerische Handlungen.»
Von da an begann ich mich näher mit diesem aussergewöhnlichen Ehepaar zu beschäftigen, zum 500. Todestag von Niklaus sagte ich eine Anfrage zur Erstellung eines «Werkblattes» über Dorothee von Flüe zu. Durch diese intensive Beschäftigung, durch Wallfahrten nach Flüe, Führungen in Geburts- und Wohnhaus, durch viele Gespräche und wohl auch durch die eigenen fortschreitenden Lebens- und Familienerfahrungen wurden Niklaus und Dorothee zu Lebensbegleitern für mich und auch für meinen Mann. 1983 haben wir eins unserer fünf Kinder auf Dorothee von Flüe getauft! Aus der Vielfalt und Tiefe dieser beiden Leben tritt für mich besonders hervor und spricht mich besonders an:
Niklaus geht seinen eigenen Weg, unerschrocken, aufrecht
Er ist ein tüchtiger, fortschrittlicher Bauer, baut für seine Familie ein eigenes Haus, heiratet spät, engagiert sich bis zu einer gewissen Grenze in Gemeinde und Volk, scheut es nicht, für die «Leute» unverständlich zu handeln, er nimmt das Angebot des Landamanns nicht an, ja er tritt von all seinen Ämtern zurück, als er spürt, dass sich in den öffentlichen Aufgaben sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und die Wahrheit nicht verwirklichen lassen. Obwohl sehr gläubig, führt er einen Prozess gegen den Pfarrer – er ist widerstandsfähig, wo es ihm geboten erscheint.
Niklaus ist immer und intensiv auf der Suche nach dem Willen Gottes, Unsicherheiten und Anfechtungen bespricht er mit seinem «Seelenführer». Er wird von «Visionen» heimgesucht, gestärkt, erschüttert, verunsichert, geprägt, zeitweise dadurch sicher auch unnahbarer und manchmal unverständlich für seine Frau und seine Familie. Die radikale Entscheidung, von all seinen Ämtern zurückzutreten, hat eine zweijährige persönliche Krise zur Folge. Diese muss ausgehalten werden von ihm, von seiner Frau, von seinen Kindern, von der Hausgemeinschaft. Die Leute werden vieles darüber munkeln. Er steht oft nachts auf und betet beim Ofen, er geht in dieser Zeit schon in den Ranft hinab, sucht die Stille, die Nähe und die Wegweisung seines Gottes.
Niklaus ist ein horchsamer Mensch, ein gehorsamer Mensch. Als er – auch durch Gespräche mit seinem Seelenführer – für sich zu der Entscheidung kommt, von daheim weggehen und in die Einsamkeit ziehen zu müssen – kann er nicht gehen, ohne das Einverständnis seiner Frau Dorothee zu erbitten und zu erlangen.
Dorothee trägt seinen Weg mit
Seine 15 Jahre jüngere Frau Dorothee, seit fast 20 Jahren an seiner Seite, dem Haushalt vorstehend und 10-fache Mutter, hat bis dahin vieles Sichtbare mitgetragen, hat es auszuhalten gelernt, dass «ein Höherer» ihren Mann immer wieder beansprucht und führt, dass er nicht nur der Starke ist, sondern ebenso ein ständig Suchender. Dass sie Niklaus um ihre Zustimmung zu seinem Weggang bittet, zeigt, dass er eine für damalige Zeit aussergewöhnliche – heute würden wir sagen «partnerschaftliche» – Grundhaltung hatte. Vertrauen auf den rufenden Gott und die Liebe zu ihrem Mann – den sie über Monate hinweg leiden sah – werden ihr die Kraft zum Zustimmen gegeben haben.
Die Unsicherheit nimmt kein Ende trotz klarer Entscheidung. Niklaus verlässt die Familie und hat als Ziel die Einsamkeit bei den Gottesfreunden im Elsass. Nach kurzer Wegstrecke sagt ihm ein Bauer, er solle doch zurückgehen, und er macht eine «einschneidende» visionäre Leiberfahrung. Da kehrt er um und irrt auf seiner eigenen Alpe umher, bis er gefunden wird und er nach seinem Seelenführer senden kann. Da erkennt er seinen Weg in den Ranft, seiner Heimat ganz nah. Diese unmittelbare Nähe muss eine sehr grosse Herausforderung gewesen sein. Auch die Erkenntnis, dass er ohne Nahrung zu leben vermag. Und dass er eigentlich von daheim weggegangen ist, um die Stille und die Nähe Gottes zu suchen, und jetzt kommen immer mehr Menschen zu ihm, die die Begegnung mit ihm und seinen Rat suchen.
Die Botschaften für mein Leben
Der eigenen Berufung und dem Auftrag in allen Lebensphasen auf der Spur sein. Ich glaube, dass eine jede und ein jeder von uns vom Schöpfer ins Leben gerufen wurde, ausgestattet mit Gaben und Anlagen und der Berufung, den je eigenen Sinn und Auftrag im Leben zu verwirklichen. Und dabei dürfen wir aus der Verheissung leben: «Fürchte Dich nicht, ich bin mit Dir!» Die verschiedenen Lebensphasen fordern uns zur ständigen Weiterentwicklung und auch immer wieder zu Neuorientierung heraus. Ich stelle mir immer wieder mal die Frage: Was ist jetzt gerade dran in meinem Leben? Was ist wirklich wichtig? Was kann ich lassen? Wo und in welcher Weise ist jetzt gerade mein Auftrag? Was will ER von mir? In grösseren Abständen gönne ich mir für das Nachspüren dieser Fragen einige Exerzitientage und an den meisten Tagen eine Morgenmeditation mit einer Schriftstelle.
Ich bemühe mich um Horchsamkeit und Aufmerksamkeit auf Zeichen und Botschaften. Nicht nur, was mir im eigenen Nachdenken und Nachspüren im Inneren zukommt, sondern auch, was in Gesprächen und Erlebnissen an mein Ohr und vor mein Auge kommt, kann eine Botschaft sein. Nicht jeder so erspürte Auftrag ist bequem, manches ist zunächst widerständig, manches erfordert durchhalten. Beispiele dafür sind: Das Kümmern um die alten Eltern; die Unsicherheit, ob ein Kind die Heimat übernimmt; eine neue umfassende Aufgabe des Ehepartners; die Besorgnis, wie das eigene Älterwerden sich gestaltet. Uns heutigen Menschen ist eine ständige Veränderungsbereitschaft zugemutet, und das persönliche Leben kann sich auch von einem Tag auf den anderen ändern.
Die orientierungslosen Tage des Niklaus auf seiner Alp Klisterli sind für mich ein grosses Zeichen, denn sie machen deutlich: Eine zunächst klare Entscheidung kann wieder erschüttert werden, es herrscht wieder totale Unklarheit, ich weiss weder aus noch ein. In diesem Ringen ist Geduld gefragt – aber der Himmel hat seine «Orientierungsstrahlen» geschickt und den Weg in die Ranft gewiesen. Es war auch hier so: Der Weg wächst unterm Gehen – oder über meinem Schreibtisch hängt seit über 30 Jahren der Spruch: «Ich weiss nicht, wohin mich Gott führt, aber ich weiss, dass Er mich führt!»
Freilassende und doch mittragende Beziehungen leben
Ich stelle mir vor, dass Dorothee als liebende Ehefrau von der besonderen Persönlichkeit ihres Mannes sehr herausgefordert war. Sie hatte zu ihrem grossen Aufgabenbereich hinzu vieles mitzutragen: die gläubige, starke, aber auch kantige – von Visionen geprägte – Persönlichkeit ihres Mannes, seine vielgestaltigen Aufgabenbereiche, die ihn fordern und formen, den Verzicht auf seine Anwesenheit und Hilfe, seine Gottesbeziehung, die seine Zeit beansprucht und die ihn beschlagnahmt und ein existenzielles Ringen auslöst, das mitunter sicher auch verletzende, verständnislose Gerede der Leute. Ich stelle mir vor, dass sie letztlich seine Gottesbeziehung achtet und vertraut auf den Weg, auf den Gott ihren Mann ruft. Dorothee entwickelt nach dem Weggang von Niklaus eine neue Beziehung zu ihrem Mann. Beide stellen sich dem Wollen Gottes zur Verfügung! Mein wichtigster Zugang zu Dorothee ist ihre freigebende Liebe. Sie lebt nicht eine besitzergreifende, sondern eine freigebende Liebe, und ich erachte dies als wichtig nicht nur für die partnerschaftliche Beziehung, sondern auch für die Beziehung zu erwachsenen Kindern, für die Beziehung zu älteren Eltern, letztlich für jede Beziehung. Es ist die Achtung vor der Persönlichkeit und dem je eigenen Weg des Anderen. Deshalb rufe ich sie manchmal als Fürsprecherin an, wenn ich Kleinlichkeit und Enge in mir aufsteigen spüre. Dass Dorothee von einem starken Vertrauen in die Führung Gottes getragen war, schliesse ich auch daraus, dass ihr Besucher der Ranft ein jugendliches, frisches Aussehen bescheinigen, d. h. für mich, dass sie innerlich einwilligen konnte in die zunächst unerwarteten Wege von Bruder Klaus und ihr.
Genügsam leben
Das genügsame Essen des Niklaus und dann im Ranft das Zeichen der Nahrungslosigkeit ist eine starke Botschaft für unsere Generation der Überfülle! Mit unserem sorglosen, unverantwortlichen Verbrauch von Energie, Rohstoffen und Boden und mit unserer Belastung von Luft und Wasser gefährden wir unsere Schöpfung wie keine Generation vor uns. Dabei wird viel Überflüssiges hergestellt, gekauft und wieder weggeworfen; in anderen Ländern herrscht dagegen bittere Armut. Wir müssten uns täglich fragen: wieviel ist genug? Achtsamkeit und Genügsamkeit sind heutige prophetische Grundhaltungen.
Horchsam sein – mein Ranft!?
Von Bruder Klaus ist Gehorsam einmal so überliefert: für alles offen sein. Alles annehmen dürfen, was Gott bringt, was Gott verfügt. Gott gehorsam sein heisst zugleich: auf den Menschen horchen, auf ihn eingehen. Tun, was ihn fördert, was ihn zu sich führt. Wir sagen Gott in unseren Gebeten gerne, was Er zu tun und zu machen hat, was Er ändern soll. Horchsam sein heisst aber zu fragen: Was willst Du, Herr, dass ich tun soll? Unsere lebenslange Aufgabe ist die Suche nach der Übereinstimmung von Berufung und augenblicklichem Lebenswandel. Das bedeutet die Suche nach dem «Ranft» in mir, zu dem Ort, an dem ich in die Tiefe wachsen und mit Gott in Berührung kommen kann. Niklaus und Dorothee von Flüe sind mir dafür ein Vorbild, das mir Kraft und Zuversicht schenkt.