Bruder-Klausen-Gebet zwischen Osterbekenntnis und Gottverlassenheit

Seit Beginn der schriftlichen Aufzeichnung wird das Bruder-Klausen-Gebet als Reimgebet übereinstimmend Bruder Niklaus von Flüe zugeschrieben, obwohl zu Lebzeiten keiner seiner Besucher Näheres über ein vom Eremiten bevorzugtes Gebet geschrieben hatte.1

Die philologisch wie theologisch massgebliche Studie zu «Klausens gewonlich bet» publizierte 1981 Heinrich Stirnimann op (1920–2005).2 In seinen detaillierten Texterörterungen kommt er zum Schluss, dass das Gebet zur authentischen Bruder-Klausen-Überlieferung gehöre. Er schliesst einen aktiven Anteil Klausens an der Artikulierung des Gebets nicht aus, obwohl die Authentizität beziehungsweise eben Nicht-Authentizität nur nachweisbar wäre, wenn eine ältere Vorlage des ganzen Wortlauts gefunden würde.

Stirnimann stützte sich vor allem auf die sechs ältesten handschriftlichen Zeugen (um 1500 bis 1530) und die zehn frühesten Drucke (zwischen 1531 und 1586), in denen mit einer Ausnahme das Gebet explizit Bruder Klaus zugeschrieben wird. Bemerkenswert ist, dass von den frühen Druckschriften nur drei von katholischen, sieben dagegen von reformierten Autoren verfasst wurden.

Dies bestätigt eindrücklich die frühe und intensive Beachtung des eidgenössischen Mystikers als «vorbildhaften, unumstrittenen Glaubenszeugen» bei den Anhängern des nüwen glaubens.

Drei Bitten – zwei verschiedene Reihenfolgen

Den frühen Textzeugen des Gebets gemeinsam sind drei Bitten, wobei Anrede, Zahl der verwendeten Wörter und genauer Wortlaut teilweise unterschiedlich ausfallen.

Interessanterweise entspricht in allen frühen Handschriften deren Reihenfolge nicht der heute üblichen Anordnung:

Ältere Version

Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir,
Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.

Jüngere Version

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

Stirnimann geht, in Übereinstimmung mit dem langjährigen Würzburger Professor und Germanisten Kurt Ruh (1914–2002), davon aus, dass diese ältere Version aus einer Prosaversion hervorgegangen sei.3 Bereits 1875 verwies Ernst Ludwig Rochholz (1809–1892)4 auf die inhaltliche Nähe des Bruder- Klausen-Gebets zu Heinrich Seuse (1295/7–1366): «Ich gebe mich dir und nehme dich mir und vereine dich mit mir; du verlierst dich und wirst in mich verwandelt.»5 Dieser Satz findet sich im «Büchlein der ewigen Wahrheit» (Kap. 23), das vom Altarssakrament handelt, einem Thema, das Bruder Klaus besonders beschäftigte. Bei Seuse steht dieser Satz unmittelbar vor dem Diktum von Augustinus (gestorben 354): «Nec tu me in te mutabis …, sed tu mutaberis in me.»6 Ein schlüssiger Beweis, dass das Gebet von Bruder Klaus auf den direkten Einfluss eines älteren Textes zurückzuführen ist, liegt uns allerdings nicht vor.

Der absolute Anspruch

Im Bruder-Klausen-Gebet wie im Zitat Seuses gibt es, ganz im Sinne des platonischen Weltbildes, nur zwei Pole: das eigene Ich und das absolute Du Gottes.7 Diese absolute Übergabe an den Anfang des Gebets zu stellen, lässt erahnen, dass dieser Anspruch möglicherweise zu hoch ist. Tatsächlich entspricht diese Reihenfolge der persönlichen schmerzhaften Erfahrung des späteren Ranfteremiten. Am Anfang seines eremitischen Weges steht nämlich ein existenzielles Scheitern. Dazu gehört, dass er vor seinem Weggang Visionen erlebte, die ihn beunruhigten, die er damals aber nicht verstand. Er wusste, was Gott von ihm wollte. Er war deshalb überzeugt, dass diese verstörenden Erfahrungen Versuchungen des Teufels waren, denen es zu widerstehen galt. Eine Stimme aus der Wolke lachte ihn aus, so könne er Gott nicht gewinnen; drei Edelleute machten sich über seinen Anspruch, ganz Gott zu gehören, lustig, und andere visionäre Erfahrungen mehr. Entspricht sein damaliges Verständnis seiner ersten, so absolut formulierten Bitte: «nim mych min und gib mych ganz zuo aigen dir»?

Als Niklaus von Flüe um 1465 alle politischen Ämter niederlegte, waren die beiden nächsten Jahre, gemäss seinen eigenen Aussagen, geprägt von Depressionen, Zweifeln und Phasen der Niedergeschlagenheit. In dieser Zeit suchte er den Rat seines priesterlichen Freundes Heinrich Amgrund, der ihm zu regelmässigen Betrachtungsübungen riet. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass in diesen Jahren der langjährige Konflikt zwischen dem erfolgreichen äusseren Lebensweg als Ehemann, Vater, Bauer und Ratsherr und dem inneren Lebensweg als Gottsucher, Fastender und Beter zu einem geradezu gewaltsamen Ausbruch kam und nach einer definitiven Lösung verlangte.

Die mystischere Version oder der dreistufige Weg

Wegen ihres biografischen Bezugs könnte die ältere Version als die stärkere gelten. Durchgesetzt hat sich über die Zeit jedoch die jüngere Version. Sie findet sich erstmals bei Adam Walasser (gestorben 1581), der 1569 den Pilgertraktat von 1488 samt einigen Zusätzen in Dillingen an der Donau (Bayern) neu herausgab.8 In dieser seither nur wenig veränderten Fassung fehlt das Gebet als Zitat, als gestaltetes Wortelement oder auf Kerzen und anderen Kultgegenständen in keiner der über 200 ihm weltweit geweihten Kirchen und Kapellen. Die hohe Wertschätzung für dieses einprägsame Gebet wird auch daraus ersichtlich, dass es Eingang in den katholischen Weltkatechismus gefunden hat und als Nr. 226 im ersten Teil zitiert wird, wo es um den Glauben an den einzigen Gott geht, in prominenter Nachbarschaft von Teresa von Avilas «Nada te turbe» (Nr. 227).9

In seinem Aufbau entspricht das Gebet nun dem dreistufigen Weg der Mystik:10 Die erste Bitte entspricht der Stufe der Reinigung («Nimm alles von mir»). Sie gehört zum anfangenden Menschen und geschieht auf dreifache Weise: Reue und Läuterung von den Sünden, Beichte und vollkommene Busse. Der Mensch muss sich von alldem lösen, das von ihm selbst ist. Davon sprach Johannes Tauler (um 1300–1361), als er schrieb, jeder Ausgang sei der Ausgang aus sich selber, und jeder Eingang sei ein Eingang zu Gott.

Die zweite Bitte entspricht der Stufe der Erleuchtung («Gib alles mir»). Sie gehört zum zunehmenden Menschen und geschieht ebenfalls auf dreifache Weise: Verschmähung der Sünde, Verwirklichung der Tugend und guter Werke und ein williges Erleiden aller Anfechtungen und Widerwärtigkeiten. Es ist der Mensch, der nichts für sich will und darum auch das Missgeschick annehmen kann. Ihm genügt, was Gott für ihn will.

Die dritte Bitte entspricht der Stufe der Vereinigung («Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen Dir»). Sie gehört zum vollkommenen Menschen und äussert sich auf folgende Weise: Reinheit und Lauterkeit des Herzens in göttlicher Liebe und in der Beschauung Gottes, des Schöpfers in allen Dingen. Der vollkommene Mensch, der sich von seiner Ichbezogenheit gelöst hat, wird fähig, die ihn umgebende Welt nicht länger als Objekt seiner selbst, sondern als Schöpfung Gottes und darin Gott selbst zu erkennen.

Der kürzlich verstorbene Kapuziner und Buchautor Anton Rotzetter (1939–2016) ist allerdings der Meinung, dass diese der Überlieferung gemäss jüngere Version dennoch die ältere sei, da sie den Aufstiegsschemata der abendländischen Mystik entspreche. Seine Version des Gebets lautet:11

Via purgativa: Reinigung O mein Gott und mein Herr nimm alles von mir Das mich hindert gegen Dich!

Via illuminativa: Erleuchtung O mein Gott und mein Herr gib alles mir Das mich fördert zu Dir!

Via unitiva: Einigung O mein Gott und mein Herr nimm mich mir Und gib mich ganz zu eigen Dir!

Anerkennung oder Anruf Gottes?

Ob jünger oder älter, authentischer oder weniger authentisch, sicherlich entspricht die jüngere Version unserer Logik und erhält eine Harmonie, welche der älteren Fassung abgeht.12 Diese bewahrt sich dafür eine Sperrigkeit, die dem Ranfteremiten selber eigen ist. Und mit der Aufnahme in den Weltkatechismus liegt das Gebet in einer Fassung vor, die in allen übrigen Kultursprachen massgebend werden dürfte.

Aufmerksame LeserInnen haben bemerkt, dass Anton Rotzetter eine andere Einleitung verwendet denn jene, welche im Weltkatechismus steht. Wie heisst es richtig? «O mein Gott und mein Herr» oder «Mein Herr und mein Gott»? Nun, hier gibt es keine «ipsissima verba». Bei den frühen Textzeugen lässt sich keine eindeutige Einstiegsformel definieren. Die heute übliche Version wird zu Recht auf Johannes 20,28 zurückgeführt: «Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!» Es ist der Ausruf des Apostels Thomas vor dem Auferstandenen, das erste explizite Osterbekenntnis und damit eine Schlüsselstelle. Demgegenüber erinnert die Voranstellung des Wortes «Gott» an Markus 15,34: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» und damit an die Stunde grösster (Gott-) Verlassenheit.

 

1 Der vorliegende Beitrag beschreibt die Textvarianten des Bruder-Klausen-Gebets. Dessen Verknüpfungen mit Biografie und Lebenszeugnis von Niklaus von Flüe erläutert der Autor in seinem Artikel «Bruder Clausen gewonliches gebeth», in: Geist und Leben 90 (2017) Heft 2, in dem auch die Zitate im Detail belegt sind.

2 Heinrich Stirnimann: Der Gottesgelehrte Niklaus von Flüe. Drei Studien. Freiburg i. Ue. 1981, 71–140 sowie zu den Quellentexten Amschwand: Quellenwerk, 208–217.

3 Nach Stirnimann aaO. 81 mit Bezug auf Kurt Ruh: Das Reimgebet des Nikolaus von Flüe, in: Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag, Berlin 1970.

4 Ernst Ludwig Rochholz: Die Schweizer Legende des Bruder Klaus von Flüe, Aarau 1875, 270.

5 Zit. nach: Heinrich Seuse: Deutsche mystische Schriften, hg. von Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, 303.

6 «Aber Du wirst mich nicht in Dich … sondern Du wirst Dich in mich verwandeln.» Augustinus: Confessiones VII,10,16. Zit. nach: Alois M. Haas, Heinrich Stirnimann:

Das «Einig Ein»: Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, Saint Paul 1980, 257.

7 Siehe Anton Rotzetter: Die Welt erglänzt in Gottes Farben. Visionen von der Ganzheit der Schöpfung. Freiburg i. e. 2000, 126.

8 Siehe Durrer: Quellenwerk, 757f; Amschwand: Quellenwerk, 212ff und Stirnimann: 76ff.

9 Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, Nr. 226. Nach Ansicht von Peter Spichtig op trug der heutige Erzbischof von Wien und Kardinal Christoph Schönborn op wohl wesentlich dazu bei, das Gebet von Niklaus von Flüe in den Katechismus aufzunehmen. Schönborn wurde 1975–1991 als Professor an der Universität Freiburg i. Ue. tätig mit Niklaus von Flüe vertraut, u. a. durch seinen Mitbruder Heinrich Stirnimann op, der zur selben Zeit in Fribourg lehrte. Vgl. Anm. 2 (E-Mail Peter Spichtig an den Autor, 28. 9. 2014).

10 Roland Gröbli: Die Sehnsucht nach dem Einig Wesen, Zürich 1990, 167, basierend vor allem auf Tauler, ferner Stirnimann aaO. 100f.

11 Rotzetter aaO. 126.

12 «Die Anordnung in (Version) I ist undurchsichtiger, unlogischer nach heutigem Verständnis und hat auf den ersten Blick etwas Ungewohntes und Fragwürdiges. Doch scheint gerade dies – gemäss dem Grundsatz «lectio difficillior praeferenda» – für die Authentizität von Fassung I zu sprechen» (Stirnimann aaO. 80).

Roland Gröbli (Bild: zvg)

Roland Gröbli

Dr. phil. I Roland Gröbli ist Autor des Standardwerks «Die Sehnsucht nach dem Einig Wesen» (Zürich 2006), Präsident des Wissenschaftlichen Beirats für «600 Jahre Niklaus von Flüe», Vorstandsmitglied im gleichnamigen Trägerverein und Projektleiter und Co- Herausgeber der offiziellen Gedenkpublikation.