Dem Sozialismus liege eine ihm eigentümliche Gesellschaftsauffassung zu Grunde, die mit der echten christlichen Auffassung in Widerspruch stehe, war Papst Pius XI. überzeugt: «Religiöser Sozialismus, christlicher Sozialismus sind Widersprüche in sich; es ist unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein.»1 Anders Papst Johannes XXIII. Er hielt es für «durchaus angemessen, bestimmte Bewegungen, die sich mit wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Fragen oder der Politik befassen, zu unterscheiden von falschen philosophischen Lehrmeinungen über das Wesen, den Ursprung und das Ziel der Welt und des Menschen, auch wenn diese Bewegungen aus solchen Lehrmeinungen entstanden und von ihnen angeregt sind».2 Damit wurde lehramtlich ein katholischer Zugang zum Sozialismus eröffnet.
1908: Sozialist und Demokrat
Allerdings hatte bereits 1908 in Westfalen Pfarrvikar Wilhelm Hohoff (1848–1923) als erster Katholik den weltanschaulichen vom wissenschaftlichen Marxismus unterschieden und die These partieller Konvergenz christlicher und sozialistischer Maximen vertreten. Er bezeichnete sich selbst als «Sozialist und Demokrat», setzte sich aber auch klar vom praktischen und theoretischen Atheismus der Linksparteien ab. Mit ihm begann die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung katholischer Sozialethik mit Karl Marx.
Auf protestantischer Seite erfolgte die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus in der Systematischen Theologie bzw. Dogmatik. Wegweisend wurde der württembergische Pfarrer Christoph Blumhardt (1842–1919) mit seiner Reich-Gottes- Theologie und Reich-Gottes-Erwartung. Unter seinem Einfluss wurde für den Bündner Pfarrer Leonhard Ragaz (1868–1945) die Botschaft vom Reich Gottes für diese Welt zur theologischen und politischen Herausforderung. Leonhard Ragaz war an der Entstehung der religiös-sozialen Bewegung sowie an der Gründung der Zeitschrift «Neue Wege» beteiligt, die er von 1921 bis zu seinem Tod als Hauptredaktor betreute. 1908 wurde er Professor für systematische und praktische Theologie an der Universität Zürich. Er näherte sich der Arbeiterbewegung an und unterstützte 1918 in Zürich den Generalstreik. 1921 trat er von seiner Professur zurück und widmete sich der Bildungsarbeit im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl und der religiös-sozialen Bewegung. Auf dem politischen Feld stand die religiös-soziale Bewegung meist der Sozialdemokratie nahe.
Zwischen Kirche und Arbeitswelt
Zur gleichen Zeit entstanden in Belgien und Frankreich katholische Bewegungen und Vereine, um der vor allem in der Arbeiterschaft und unter den Bauern fortschreitenden Entfremdung von Christentum und Kirche entgegenzuwirken. In Belgien gründete Joseph Cardijn die «Jeunesse Ouvrière Chrétienne (JOC )». Die JOC verstand sich als christliche Alternative zur kommunistischen Partei und ihrer Gewerkschaft. Obwohl die Aktivisten der JOC selber Arbeiter waren, gelang es ihr nicht, das Arbeitermilieu zu durchdringen. Anderseits erwies es sich als unmöglich, die Arbeiter in die bestehenden bürgerlichen Pfarreien zu integrieren. Aufgrund dieser Erfahrungen wurde in Frankreich nach neuen Wegen gesucht, um die Kluft zwischen Kirche und Arbeitswelt zu überbrücken. Im Rückblick darf die Arbeiterpriesterbewegung wohl als der originellste Weg bezeichnet werden.3
Diese missionarische Bewegung hat verschiedene Wurzeln. 1942 wurde in Lisieux das Seminar der «Mission de France» eröffnet, das Seelsorger für rurale und urbane entchristlichte Gebiete ausbildete; weitere Seminare wurden in Limoges und Pontigny eröffnet. In Marseille untersuchte der Dominikaner Jacques Loew (1901– 1999) als Teilzeitarbeiter die Arbeitsbedingungen der Dockarbeiter und versuchte in der Folge, deren Situation zu verbessern. Um die rund 800 000 französischen Zwangsarbeiter und Freiwilligen in der deutschen Rüstungsindustrie verbotenerweise seelsorglich zu betreuen, schleusten die französischen Bischöfe 25 Priester als Arbeiter in die Lager ein. Für die Arbeiterpriesterbewegung wurden aber auch Entwicklungen im Bereich der Spiritualität bedeutsam, namentlich der Gedanke der «présence », an der Seite der Armen zu leben. Dafür steht für das Ordensleben der Name Charles de Foucauld (1885–1916) und für das Laienengagement Madeleine Delbrêl (1904–1964), die Kontakte zu Jacques Loew und zur «Mission de France» hatte.
«Missionsland»
Den entscheidenden Anstoss gab 1943 die Studie «France, pays de mission?», die Erzbischof Suhard Emmanuel so beeindruckte, dass er konkrete Schritte unternahm. Er gründete die «Prélature de la Mission de Paris» mit Sitz in Pontigny, deren Mitglieder sich ganz der Christianisierung der Arbeiterklasse widmen sollten. Die Erfahrung zeigte aber bald, dass es nicht genügte, einfach in den Arbeiterquartieren präsent zu sein. Die Priester wurden deshalb selber Industriearbeiter und so in den Fabriken präsent. Für viele Arbeiterpriester wurde ein Engagement in einer kommunistischen Gewerkschaft wichtig, um sich im Arbeitermilieu inkulturieren und am Arbeitskampf teilnehmen zu können. Das musste zu Konflikten im bürgerlichen Frankreich und mit dem Vatikan führen. Nach einem Rombesuch erliessen die französischen Bischöfe 1953 und 1954 Weisungen, die den Priestern den Einsatz als Arbeiter verunmöglichte. Rund 50 von ihnen widersetzten sich, teils mit Billigung ihrer Bischöfe, dieser Disziplinierung. 1959 erklärte das Hl. Offizium endgültig, «dass es zum Apostolat im Arbeitermilieu nicht unerlässlich ist, Priester als Arbeiter in das Arbeitsmilieu zu schicken, und dass es nicht möglich ist, die überlieferte Auffassung vom Priestertum zu diesem Zweck zu opfern».
Was nicht vergessen gehen darf
In dieser konfliktgeladenen Zeit trat der Luzerner Bauernsohn Ferdinand Troxler als Spätberufener in das Seminar der «Mission de France» in Pontigny ein. Dort oblag er dem Philosophie- und Theologiestudium, setzte sich auch mit Karl Marx und der Arbeiterbewegung auseinander, leistete einen Einsatz als Bauhandlanger in Grenoble und wandte sich dem Sozialismus zu. Gut zwei Jahre später entschloss er sich zu einem anderen Lebens- und Berufsweg und studierte dann an der Universität Bern Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mit seiner Dissertation nahm er seine Erfahrungen in Frankreich auf: Er unternahm einen Vergleich der Eigentumslehren von Thomas von Aquin und Karl Marx.4 Die längste Zeit seiner Berufstätigkeit arbeitete er als Pressesekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Schon lange im Ruhestand, veröffentlicht er nun ein Plädoyer für einen gesellschaftspolitischen Brückenschlag zwischen Christentum und Sozialismus.5 Darin schreibt er gegen das Vergessen an und erinnert so an Themen, die nicht ad acta gelegt werden dürften: die Auseinandersetzung mit der Eigentumslehre von Karl Marx, die Chance der Arbeiterpriesterbewegung, die Verbindung von kirchlichem bzw. religiösem und politischem Engagement für eine gerechte, ökologische und friedliche Gesellschaft.
Die Themen sind allerdings nicht ganz ad acta gelegt, aber in den Hintergrund gerückt worden. So wurde mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Einsatz der Arbeiterpriester offiziell wieder möglich. Mehr noch, das Modell wurde erweitert und in weiteren Ländern realisiert. Jetzt sind auch theologisch ausgebildete Laien und weitere Engagierte, aber auch Theologinnen und Theologen anderer Kirchenzugehörigkeit beteiligt. Im deutschen Sprachraum nennen sie sich deshalb auch nicht mehr Arbeiterpriester, sondern Arbeitergeschwister. 6 In den Kirchen werden sie aber kaum mehr wahrgenommen. Auch die anderen Themen müssten aus den Nischen geholt werden.
«Kapitalismuskritik» – der Papst besetzt eine Nische
In «Evangelii gaudium» stellt Papst Franziskus fest, dass den Armen im Herzen Gottes ein bevorzugter Platz zukommt (Nr. 197). Dann ist nur logisch, dass er über die Wirtschaft und die notwendige gerechte Verteilung der Einkünfte spricht (Nr. 202–216), sich zur Frage des Allgemeinwohls und des sozialen Friedens äussert (Nr. 217–237) und für den Dialog der Kirche in allen Bereichen plädiert (Nr. 238–258). Im Brief vom 17. Januar 2014 an den WEF-Präsidenten Klaus Schwab betont Franziskus: «Im Rahmen Ihres Treffens möchte ich die Bedeutung der unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Instanzen für die Förderung eines inklusiven Ansatzes, der die Würde jedes Menschen und das Allgemeinwohl berücksichtigt, betonen. Ich beziehe mich auf ein Anliegen, das in jede politische und wirtschaftliche Entscheidung einfliessen sollte (…). Diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, haben eine klare Verantwortung gegenüber anderen, vor allem denjenigen, die am zerbrechlichsten, schwächsten und verwundbarsten sind.» (ufw)