Reflexionen zu Stadt-Texten aus der Bibel
1. Einleitung
Als Gymnasiast habe ich den Roman «Berlin Alexanderplatz » von Alfred Döblin gelesen1. Die Beschreibung der Grossstadt Berlin in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, dieser collageartige Wirrwarr von Szenebeschreibungen, Werbung, politischen Aufrufen, präzisen Schilderungen von akustischen und visuellen Wahrnehmungen in der Grossstadt haben mich fasziniert. Fast alles war so anders als das beschauliche Leben in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war. Die Faszination für die grossen Städte blieb erhalten, als ich später die urbanistischen Entwürfe von Le Corbusier kennenlernte, als ich Fellinis Episodenfilm «Roma» sah und als ich Theologie zu studieren begann – und während des Studiums selbst immer wieder in grossen Städten verweilte. Die Erfahrungen von Beheimatung und Verlorenheit, von Zusammenleben und Vereinzelung der Menschen, die mich als Theologen im Horizont von Erinnern und Erwarten beschäftigen, bilden sich – so schien mir – nirgends so vielfältig, aber auch nirgends so abgründig ab wie unter den Bedingungen der Stadt.
Heute lebt die Mehrheit der Menschen weltweit in grossen, teilweise riesigen Städten mit über 10 Mio. Einwohnern. In Europa wohnen mittlerweile 68 Prozent der Bevölkerung in städtischen Gebieten. Bis 2050 sollen es 85 Prozent sein. Die EU investierte 2013 mehrere hundert Mio. Euro in die Entwicklung von Städten zu nachhaltigen Lebensräumen. In der Schweiz plädieren Architekten für eine urbanere Schweiz, um die Zersiedelung zu stoppen.
Doch: Nach wie vor erweist sich die Urbanisierung als ambivalent: Neben die Verheissung eines besseren Lebens treten Negativerfahrungen und apokalyptische Ängste. Diese Ambivalenz fordert mich als Theologen und Alttestamentler heraus. Befragt man biblische Texte zum Thema Stadt, so herrscht zuerst der Eindruck vor, sie verstärkten die gängigen Klischees: Niniveh und Babel, Sodom und Gomorrha auf der einen Seite, himmlisches Jerusalem auf der andern. Woher kommt diese Ambivalenz, und welche Einsichten bieten biblische Texte darüber hinaus? Dazu möchten fünf Textgruppen, die zum Schluss aktualisierend noch um einige Aspekte weitergeführt werden, Denkanstösse liefern.
2. Das neue Jerusalem ist nicht im Himmel gebaut
Ich beginne mit einer ermutigenden Utopie aus der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament. Oft ist im Zusammenhang mit dieser Vision vom – sprichwörtlich gewordenen – «himmlischen Jerusalem » die Rede. Doch der Seher sieht etwas anderes:
1 Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen. Das Meer ist nicht mehr.
2 Die heilige Stadt Jerusalem, die neue, sah ich aus dem Himmel herabsteigen, von Gott bereitet wie eine Braut, geschmückt für ihren Mann.
3 Ich hörte eine laute Stimme vom Thron: Da! die Behausung Gottes bei den Menschen. Gott wird bei ihnen wohnen. Sie werden Gottes Völker sein, und Gott – Gott wird bei ihnen sein. (Offb 21,1–3)
Versprochen wird hier nicht ein himmlisches Jerusalem: «Das Zentrum der theologischen Vision und der rhetorischen Bewegung der Johannesoffenbarung ist – die Erde.»2 Die Vision des Sehers Johannes ist utopisch, doch hält er durch die Aufnahme biblischer Verheissungen an der Hoffnung auf eine konkrete Erneuerung Jerusalems fest. Was beschrieben wird, ist eine neue Erde im Bild einer Stadt.
Dabei ist Offenbarung 21 ohne die hebräische Bibel als ihrer kulturellen Matrix gar nicht zu verstehen. Zwei Texte des Alten Testaments prägen die neutestamentliche Vision besonders: Einerseits orientiert sich die Johannesoffenbarung stark an der Tempelvision des Ezechiel: Wie in Ez 40–48 wird der Seher durch göttliche Hand auf einen Berg geführt, wo er das Herabsteigen der heiligen Stadt Jerusalem erlebt. Und wie im Tempelentwurf des Ezechiel basiert die Beschreibung der Stadt auf einem quadratischen Grundriss (Offb 21,10–14). Die Masse und kostbaren Baumaterialien weisen das neue Jerusalem als «Gottes Gesamtkunstwerk» aus. Gegenüber dem Tempelentwurf Ezechiels sind die Ausmasse der neuen Stadt ins Gigantische gesteigert. 12 000 Stadien – das sind ca. 2400 km – umfasst die Seitenlänge des riesigen Kubus.
Interessanterweise scheint von der Topografie und der Grösse her nicht Jerusalem, sondern eher eine orientalische Metropole wie Babylon oder eine nach dem hippodamischen System erbaute hellenistische Stadt dieser Vision Modell gestanden zu haben. Der wesentliche und verblüffendste Unterschied zu Ezechiel besteht jedoch darin, dass in der neuen Stadt kein Tempel mehr vorhanden ist. Das ganze Stadtgebiet ist der eschatologische Lebensraum der Menschen in der Gegenwart des Gottes Israels:
Einen Tempel sah ich in ihr nicht: Gott, die Macht, die alles beherrscht, ist ja ihr Tempel und das Lamm. (Offb 21,22)
Der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Marquardt kommentiert diesen Satz in seiner theologischen Utopie so: «Der neuen Stadt fehlen mithin Institutionen und Denkmale, die an Gott und seine Heilsgeschichte, an Kirchen und Kirchengeschichte, an religiöse Sammlung und Versammlung erinnern könnten – sie ist Stadt ohne Kirchtürme, goldene Synagogenkuppeln, Glockengeläut, Luther-Denkmal, Kruzifix, Mariensäule, Heiligennische am oder Herrgottswinkel im Haus. In der neuen Stadt Gottes kennt man das alles nicht mehr …»3 Das ganze Stadtgebiet wird zum Heiligtum, das Heiligtum wird zur Stadt.
Neben dem Buch Ezechiel hat auch das Jesajabuch unsern Text nachhaltig beeinflusst. In Jes 65 herrscht Jubel:
17 Ja, schau: Ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. An das Frühere wird nicht mehr gedacht werden, und es wird nicht mehr zu Herzen gehen.
18 Vielmehr freut euch und seid fröhlich immerzu über das, was ich schaffe. Ja, schau: Ich schaffe der Stadt Jerusalem Lachen und ihrem Volk Freude.
19 Dann werde ich über Jerusalem fröhlich sein und mich an meinem Volk freuen. Dort wird kein Weinen mehr gehört werden und kein Klagen. (Jes 65, 17–19)
Wie im Jesajabuch geht es auch dem Autor der Johannesoffenbarung um das Aufrichten von Gerechtigkeit, deren Folge Lebensfreude und ein umfassender Friede ist. In diesen umfassenden Frieden sind – dies macht sowohl der Schluss des Jesajabuches als auch der Johannesoffenbarung klar (Jes 66,18; Offb 22,3) – ausdrücklich auch die Nicht- Israeliten, also die fremden Völker, einbezogen.
In die Erforschung der Geschichte der Stadt Jerusalem sowie ihres religiösen Symbolsystems ist in den letzten Jahrzehnten sehr viel investiert worden. Meine Freiburger Kollegen Othmar Keel und Max Küchler haben dieser Frage einen wesentlichen Teil ihres Lebenswerkes gewidmet.4 In die systematischtheologischen Entwürfe hat das Thema Jerusalem, bezogen auf die konkrete Aktualität dieser Stadt, bisher nur wenig Eingang gefunden. Ausnahmen bilden die bereits zitierte theologische Utopie von Friedrich Wilhelm Marquardt, die poetische Dogmatik des katholischen Grenzgängers Alex Stock5 und eine neuere Studie von Michael Alban Grimm6. Ich bin mit Grimm der Meinung, dass es künftig zur Verantwortung christlicher Theologie gehören muss, zwei Perspektiven im Auge zu behalten, nämlich eine christliche Theologie der Gegenwart des Judentums, die sich als Antwort auf die Schoa begreift, sowie eine befreiende christliche Theologie im palästinensischen Kontext, die nach Gerechtigkeit fragt. Mit dem Beter von Ps 122 ist deshalb zu singen: «Schalom achschav!» – «Frieden jetzt!»:
6 Erbittet für Jerusalem Frieden! Wer dich liebt, sei in dir geborgen.
7 Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Zufriedenheit. (Ps 122,6–7)
3. Besser als ihr Ruf? Zum ambivalenten Image der Stadt in der Bibel
Die Erzählungen der Genesis generieren zunächst ein überaus negatives Image der Stadt:
– Ausgerechnet Kain, der Brudermörder Kain ist der erste Städtegründer. So heisst es in Gen 4,17: «Kain wurde Gründer einer Stadt und benannte sie nach seinem Sohn Henoch.»
– Bald danach wird die Geschichte vom Turmbau zu Babel erzählt: Babel gilt weithin als Symbol anmassender Grossstadtüberheblichkeit.
– Angst, nicht Gottesfurcht, prägt den Aufenthalt von Abraham oder Isaak mit ihren Familien in der Stadt. Um ihre eigene Haut zu retten, geben sie ihre Frauen als ihre Schwestern aus und überlassen sie der Willkür der Städter .
– In Sodom und Gomorrha treiben Gewalttäter ihr Unwesen derart, dass Gott diese Städte der Zerstörung preisgibt.
In der Bibel sind die Städte jedoch nicht nur Unheilsorte, sondern auch Orte heilvollen Segens. Das zeigt ein Blick in die Archäologie der biblischen Welt: Bereits im 3. Jahrtausend v. Chr., als sich in Mesopotamien und Ägypten eine spezialisierte Stadtkultur entwickelt, gibt es in Palästina Städte. Im zweiten Jahrtausend v. Chr. entwickelt sich in den kanaanäischen Zentren Palästinas eine urbane Gesellschaft, die mit den grossen Nachbarkulturen durchaus konkurrieren kann. Politische und wirtschaftliche Krisen am Ende des 2. Jahrtausends führen dann allerdings zur Entvölkerung in den Städten dieses Gebiets. Das Siedlungsgebiet verschiebt sich zu Gunsten dörflicher Bergrandsiedlungen.
Die früh-israelitischen Siedlungen der Eisenzeit sind deshalb keine Grossstädte. Es sind ummauerte Orte, Dörfer und Kleinstädte, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner Schutz und Sicherheit finden. In den kleinen Städten Judas und Israels gibt es Lebensmöglichkeiten, die sich auf dem Land nicht bieten. Die Bibel spiegelt in diesem Fall den archäologischen Befund: Städte sind bevorzugte Orte, wo Leute Handel treiben, Rat holen, Streitigkeiten beilegen und in Krisenzeiten Schutz finden konnten. Im Samuelbuch wird das Landstädtchen Abel bet Maacha eine «Mutter in Israel» genannt (2 Sam 20,19). Der literarische Reflex der Besiedlung des Landes führt, so könnte man es auf den Punkt bringen, aus der Sklaverei Ägyptens durch die Wüste ins gelobte Land, und weiter in die von Gott erwählte Stadt. So jedenfalls sieht es das theologische Konzept des Buches Deuteronomium:
10 Wenn nun Adonaj, deine Gottheit, dich in das Land bringt und es dir gibt, wie sie es den Familien deiner Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob durch einen Schwur zugesagt hat: grosse und schöne Städte, die du nicht gebaut,
11 Häuser, gefüllt mit Gütern, die du nicht eingebracht, Zisternen, die du nicht ausgehauen, Weinberge und Olivenhaine, die du nicht angelegt hast – wenn du nun isst und satt wirst:
12 Hüte dich davor, Adonaj zu vergessen. Gott hat dich aus Ägypten, dem Land der Sklaverei, befreit. (Dtn 6,10–12)
Im Ps 46,2–6 ist die Stadt – insbesondere Jerusalem – ein Ort intensivsten Lebens, und in ihrer Mitte wohnt Gott in seinem Heiligtum. Das Besingen und die Neuerfindung der Stadt Jerusalem gerade auch nach dem babylonischen Exil geschehen auf Kosten einer anderen grossen Stadt, die ihren Glanz eingebüsst hat. Babel, die Grossstadt Babylon, ihr Wohlstand und ihr Luxus werden zum Synonym für Sünde und Hurerei, zum Inbegriff für Götzenkult und entfremdende Machtherrschaft. – «Braut Jerusalem » und «Hure Babylon» –, ich halte solche polarisierenden Entwürfe des Ersten Testaments für eine Theologie der Komplexität – und eine solche braucht das Thema Stadt, heute – wenig hilfreich.
Hinzu kommt eine weitere Ambivalenz: °Ir, das hebräische Wort für Stadt ist weiblich. Die grammatikalisch weibliche Zuordnung führt nun dazu, dass Städte als Frauen tituliert werden, als «Mutter», «Tochter Zion», als «Herrin und Gebieterin». Die metaphorische Weiblichkeit der Stadt beschreibt eine doppelte, wiederum ambivalente Beziehung zu ihrer Einwohnerschaft und zu Gott. Gegenüber der Bevölkerung gewährt sie Schutz und Nahrung, tröstet die deportierten Kinder und schliesst sie bei der Rückkehr wieder in ihre Arme.
In der Beziehung zu Gott ist die Stadt Tochter, Braut, Ehefrau und Witwe und wird vor allem in den prophetischen Texten als regelrechtes Familien- und Ehedrama von Anziehung und Eroberung, Gewalt, Trennung und Versöhnung inszeniert. Besonders die Analogie von eroberter Stadt und eroberter Frau macht deutlich, dass solche Texte einer patriarchalen Welt entstammen. Gibt es Wege aus dieser Ambivalenz?
4. Beziehungsraum Stadt: «Frau Weisheit», die «fremde Frau» und die «Geliebte» im Hohenlied
Gerade vor dem Hintergrund einer patriarchal strukturierten Gesellschaft hebt vor allem die feministische Exegese das befreiende Potenzial der literarischen Gestalt der «Weisheit» hervor. «Frau Weisheit» tritt in den ersten Kapiteln des Sprüchebuches öffentlich und an symbolisch aufgeladenen Orten auf, in der Oberstadt, wo sich die Notablen und Betuchten ein Stelldichein geben, und an den Toren, wo Recht gesprochen wird, aber auch immer Laufkundschaft vorhanden ist. In Spr 8 hören wir:
1 Ruft nicht die Weisheit? Erhebt nicht die Einsicht ihre Stimme?
2 Auf dem Gipfel des Berges (an hochgelegenen Plätzen, oberhalb des Weges), an der Strasse, an der Wegkreuzung steht sie.
3 An den Toren, am Eingang der Stadt, am Eingang der Torpfosten ertönt ihr lauter Ruf:
4 Euch, Leute, rufe ich; mein Ruf geht an die Menschen:
5 Ihr Unerfahrenen, lernt die Klugheit kennen, ihr Dummen, werdet zur Einsicht gebracht! (Spr 8,1–5)
Doch die schriftgelehrte Gruppe, die «Frau Weisheit» als neue Symbolfigur entwirft, beschreibt ein Kapitel vorher die Gestalt der «fremden Frau» und warnt vor ihr. Diese erscheint als sexuell aktive Frau, die mit schmeichelnden Reden und dem Verweis, dass ihr Ehemann auf Reisen sei, Männer zum Liebesakt einlädt (Spr 7,10–13.17–20). Nicht eine ethnische Zuweisung, sondern dass sie die Frau eines andern ist, macht sie zur «fremden Frau».
Am Ende des Kapitels lässt die Erzählstimme keinen Zweifel daran, dass ihr Weg in tödliches Verderben führt. Problematisch ist, dass die sexuelle Aktivität der Frau verdammt wird, dass der öffentliche Stadtraum als Ort der Verderbnis geschildert und dass er als Aufenthaltsort für Frauen abgewertet wird.7 Dem Text im Sprüchebuch ist deshalb ein Abschnitt aus dem Hohenlied an die Seite zu stellen, wo in der nächtlichen Stadt wieder eine junge Frau sehnsüchtig einen Mann sucht. Auch die Geliebte des Hohenlieds durchbricht gängige Konventionen, wagt sich nachts auf die Strassen der Stadt. Der öffentliche Stadtraum wird zu einem Ort risikoreicher Suche, schlussendlich aber doch auch zu einem Raum des Zusammenfindens:
1 Auf meinem Bett in den Nächten suchte ich den, den ich liebe wie mein Leben. Ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht.
2 Ich will aufstehen, will herumgehen in der Stadt, in Strassen, auf Plätzen suchen will ich den, den ich wie mein Leben liebe. Ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht.
3 Es fanden mich die Wächter, sie sind’s, die in der Stadt herumgehen. Habt ihr den gesehen, den ich wie mein Leben liebe?
4 Gerade als ich an ihnen vorüber war, da fand ich den, den ich liebe wie mein Leben. (Hld 3,1–4a)
«Frau Weisheit» ist nicht ohne die «fremde Frau», die «fremde Frau» nicht ohne die «Geliebte» des Hohenlieds vorzustellen. Die Beteiligung der «Frau Weisheit» an der Warnung vor der «fremden Frau» verrät, dass beide Figuren Ausdruck der Idealbilder bzw. Ängste der herrschenden Männergesellschaft gewesen sind. Das Handlungsmuster der «Geliebten» im Hohenlied spiegelt gleichzeitig die Bedeutung von Frauen – und den Raum, den sie sich in der nachexilischen Gemeinschaft nehmen.8
5. Gewalt in der Stadt oder Fluchträume nach «innen» und «aussen»
Die Stadt ist – besonders nachts – nicht frei von Gewalt. Die Bibel verhehlt diesen Tatbestand nicht, zeigt aber auch klar, wo Fluchträume sind und was dann nottut. Die nächtliche Suche der Geliebten des Hohenlieds hat zunächst fatale Folgen, wie ein Abschnitt im 5. Kapitel verrät:
Ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht. Ich schrie nach ihm, doch er antwortete mir nicht. 7 Es fanden mich die Wächter. Sie sind’s, die in der Stadt herumgehen. Sie schlugen mich, verwundeten mich, sie hoben meinen Rock hoch, die Wächter der Stadt. (Hld 5,6b–7)
Die belebten Plätze beim Tor sowie die nächtlichen Gassen der Stadt bieten keinen guten Raum für das Stelldichein der Liebenden. Es braucht sichere Rückzugsorte wie das Haus der Mutter (vgl. Hld 3,4b–5) in der Stadt oder die ummauerten Gärten und Weinberge vor den Toren der Stadt.
Wehe aber, wenn der städtische Raum der Zugehörigkeit und des Zusammenlebens verletzt wird, wenn Streit und Gewalt in der Stadt herrschen, wenn kriminelle Machenschaften die Märkte erobern, vor allem aber, wenn der Freund oder die Freundin das Vertrauen in der sexuellen Gemeinschaft missbraucht. Dann möchte die Verletzte fliehen, einer Taube gleich fliegen können, hinaus in die Wüste, an den Ort, der normalerweise Tod signalisiert. Dann werden selbst die Klüfte der Felswüsten zum Zufluchtsort, wie das im Psalm 55 eindringlich beklagt wird.
Das Heilmittel gegen die Gewalt, gegen Falschheit und Korruption in der Stadt war damals so klar wie heute: Es ist der Weg der Klage und Anklage, die sich zunächst an die Verantwortlichen in der Stadt und dann an Adonaj als den Gott der Gerechtigkeit wendet. Dass die Beterin angesichts ihres erlittenen Unrechts nicht schweigt, macht bei allem Erlittenen ihre Würde aus.9
Im Textraum der Klage kann das Entsetzen zu Wort kommen, kann ihm im Namen Gottes widersprochen werden:
7 Ich spreche: Hätte ich Flügel gleich der Taube – fliegen wollte ich und Ruhe finden.
8 Weit, weit weg möchte ich flüchten, in der Wüste übernachten,
9 zu meinem Zufluchtsort eilen, fort vom reissenden Wind, vom Sturm.
10 Verwirre, Gott, mächtig über alle, spalte ihre Zunge! Ich sehe rohe Gewalt und Streit in der Stadt.
11 Sie umkreisen sie tags und nachts auf ihren Mauern. Unheil und Leid in ihrer Mitte.
12 Verwüstung in ihrer Mitte. Von ihrem Markt weichen Unterdrückung und Betrug nicht.
13 Wenn ein Feind mich verhöhnte, ich wollte es tragen. Wenn mein erbitterter Gegner über mich grossgetan hätte, ich wollte mich vor ihm verstecken.
14 Du aber – ein Mensch meinesgleichen, mein Freund, mein Vertrauter,
15 die wir miteinander die Gemeinschaft süss machten, im Haus Gottes wandelten in der Menge. (Ps 55,7–15)
6. Stadtkomplexe oder vom Wert der (begrenzten) Torheit
1908 konstatiert der deutsche Soziologe Georg Simmel unter dem Eindruck der modernen Stadt nicht nur eine äussere, sondern auch eine innere Urbanisierung des Menschen: «Wir alle sind Fragmente, nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unser selbst.»10 Wie lässt sich also mit und in diesem urbanen Chaos leben?
Die Bibel beantwortet die Frage, wer für sie der ideale Stadtmensch sei, zunächst für die Bewohnerinnen und Bewohner Jerusalems: Es ist der weise Mensch, wie er im Modell der personifizierten «Frau Weisheit» bereits vorgestellt wurde. Während die Texte im Sprüchebuch einer weisen Frau und einem weisen Mann langes Leben, Reichtum und Ehre in Aussicht stellen, weist das Buch Kohelet auf Unsicherheitsfaktoren hin, denen auch weise Menschen ausgesetzt sind und die ungewöhnlich modern anmuten. «Zeit und Zufall» – darauf weist Kohelet immer wieder nachdrücklich hin – sind Risikofaktoren, mit denen auch Weise bei ihrem Handeln konfrontiert sind. Aber auch die Torheit der Mitmenschen gehört dazu, und dazu liefert das Koheletbuch im 9. Kapitel ein wenig beachtetes, aber treffendes Exempel:
13 Auch dieses Beispiel von Weisheit sah ich unter der Sonne, und es kam mir gross vor: 14Es war eine kleine Stadt, und wenig Männer waren darin. Gegen die kam ein grosser König, umzingelte sie und baute grosse Belagerungswerke gegen sie. 15 Aber es fand sich darin ein armer weiser Mann, der die Stadt durch seine Weisheit hätte retten können, aber kein Mensch dachte an diesen armen Mann. 16 Da sagte ich: «Weisheit ist besser als Stärke!» Aber die Weisheit des Armen wird verachtet, und seine Worte werden nicht gehört. (Koh 9,13–10,1)
Die kleine Erzählung liest sich zunächst als Lob und Bestätigung der Weisheit. Selbst ein armer Mann kann seine Stadt vor dem fremden Belagerer retten, wenn er denn nur weise ist. Doch die Weisheit des Armen kommt nur deshalb zum Zuge, weil der fremde Herrscher auf ihn aufmerksam wird. Seine eigenen Mitbürger erinnern sich nicht an ihn. Ein Weiser, der nicht beachtet wird, bleibt trotz seiner Weisheit für die Stadt verloren.
Dem ist noch nicht genug. Der Weise ist nicht nur auf die Unterstützung seiner Mitmenschen angewiesen. Seine eigenes Handeln – und mag es noch so perfekt und professionell sein – ist immer auch von den Fehlern seiner Mitmenschen bedroht. Das Beispiel, das Kohelet an diese kleine Geschichte anschliesst, kann drastischer nicht sein, wenn er sagt: «Tote Fliegen lassen das Öl des Salbenmischers stinken und gären. Wertvoller als Weisheit und Ehre ist wenig Torheit. (Koh 10,1)
Es reicht also nicht, wenn der Salbenmischer immer bessere Rezepturen und perfektere Techniken für die Herstellung seiner Parfüms verwendet. Er muss darauf achten, dass die sorgfältige Mischung nicht durch kleinste Verunreinigungen von aussen zunichte gemacht wird. Wie ist das zu erreichen?
Der Zürcher Alttestamentler Thomas Krüger kommt zum Schluss, dass es dem Weisen nicht viel nützt, «wenn er darauf bedacht ist, seine eigene Weisheit zu vergrössern und zu perfektionieren. Soll seine Weisheit Gehör finden und nicht durch die Fehler anderer um ihre Wirkung gebracht werden, so muss er dafür sorgen, dass in seinem Umfeld möglichst wenig Torheit herrscht.»11 Kohelet gibt hier dem Programm einer extensiven Breitenbildung gegenüber dem Programm einer intensiven Bildung für die Oberschicht den Vorzug. Wenig Torheit der breiten Massen ist also wertvoller als viel Weisheit und Ehre einzelner Eliten.
Zum Schluss: Urban Prayers – oder Gottes Ort (mâqôm) in der Stadt
Die heutigen Bezüge zum Thema Stadt sind vielfältig. «Nichts sagt so viel aus über ein Land wie die Städte, die es baut», so ein aktuelles Zitat einer Schweizer Zeitung.12 Theologisch gesprochen bedeutet dies: Christliche Praxis in der Grossstadt antizipiert das neue, eschatologische Jerusalem gerade in der komplexen Lebenswirklichkeit heutiger Städte. Dazu zum Schluss drei kurze Anstösse.
Die Kunst der Preisgabe
Baut Häuser und wohnt darin! Pflanzt Gärten und verzehrt ihren Ertrag. Heiratet und bekommt Söhne und Töchter … Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen. Betet um ihretwillen zu Gott, denn in ihrem Wohl liegt auch euer Wohl. (Jer 29,5.7)
Was für ein Satz Jeremias, der ermutigt, den Neuanfang auch im Exil zu wagen. Offensichtlich ist er überzeugt, dass Gott auch in der Fremde wohnt. Die deportierten Judäer sollen sich auf das fremde Exil einlassen, Häuser bauen, Gärten anlegen und auch in Babylon dem Leben trauen.
Dies erinnert an einen Gedanken des Kultursoziologen Richard Sennett, den er in seinem 1991 erschienenen Buch «Civitas» äussert.13 Er rät, auf die Komplexität menschlichen Lebens, wie sie sich gerade in den Grossstädten zeigt, nicht mit Abkapselung und Rückzug , z. B. in eine oberflächliche Konsumwelt oder in eine religiöse Innerlichkeit zu reagieren, sondern sich in der Kunst der Selbstpreisgabe zu üben. Er meint damit die Ausbildung einer Haltung, die es möglich macht, mit aufgeschlossener Sympathie Fremden und Ungewöhnlichem zu begegnen, mit dem Ziel, Unvollständigkeit und Zweifel in sich aufzunehmen und damit fähig zu werden, mit Komplexität umzugehen und aus ihr zu lernen.
Körperraum und Stadtraum
Freut euch mit Jerusalem und jauchzt alle, die ihr sie liebt! … Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes …, so will ich euch trösten, und an Jerusalem sollt ihr getröstet sein. (Jes 66,10a.11a.13b)
Eine Stadt, die ihre Bewohnerinnen und Bewohner zum Jubeln bringt, ihnen gibt, was sie zum Leben brauchen. Der Bibelvers scheint vorwegzunehmen, was neuerdings die Düsseldorfer Soziologin Martina Löw mit ihren Arbeiten belegt, dass nämlich soziale Strukturen sich sehr wohl als räumliche niederschlagen und dass umgekehrt Strukturen in Form von Architektur soziales Handeln prägen.14
Und eine Theologie, die dem Symbolsystem «Stadt» gebührend Rechnung trägt, ermöglicht nicht nur prophetische und eschatologische Kritik, sie ermöglicht auch ganz konkrete Entwicklung und Regieren in den Städten. Wenn Städte raumsoziologisch als Form der Grenzziehung und Verdichtung bestimmt werden können, so gehört es zu den Aufgaben der Theologie, nach den Kriterien zu fragen, nach denen solche Grenzziehung und Verdichtung erfolgt, damit Vielfalt und Zusammenhalt in unsern Städten sichtbar werden.
Stadtkirche – Gottes Ort (mâqôm) in der Stadt
Wenn die Ewige das Haus nicht baut, mühen sich vergeblich, die daran bauen. Wenn die Ewige die Stadt nicht behütet, wachen vergeblich, die sie behüten. (Ps 127,1)
In der Utopie vom künftigen Jerusalem, die ich an den Anfang meiner Überlegungen gestellt habe, braucht es keinen Tempel mehr. In der Zwischenzeit aber braucht es Citykirchen, zentrale Orte für die Begegnung mit Gott, vor allem in der gemeinschaftlichen und festlichen Feier, aber auch als Orte einer kritisch-theologischen Selbstreflexion. Die grossen Stadt-Kirchen haben aufgehört, mächtige Ausdrucksmittel zur Befestigung des einen, exklusiven Kults zu sein. Aber sie haben nicht aufgehört, emotionale Orte des individuellen Gedächtnisses und der kollektiven Erinnerung zu sein.15 «Nicht das Ganze der Religion und auch nicht das Ganze der Kirche repräsentieren sie, aber ein Angebot, zu sich selbst und zu Gott zu kommen …»,16 eine Kirche offen für alle, die Alteingesessenen und die Zugezogenen, die Alten und die Jungen, die Satten und die Süchtigen, die Weinenden und die Lachenden.