«Damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» (Joh 10,10)

Friedenstaube – Ein Rafa bei Jerusalem (Bild: zvg)

 

Seit dem 24. Februar 2022 ist die Welt eine andere – und zum Thema «Damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» kann ich fast nicht schreiben, mindestens nicht ohne Fragezeichen. Mittlerweile geht es um den unermesslichen Schrecken des Krieges, um die unsägliche Einigkeit, dass Aufrüstung in eine friedlichere Zukunft führen soll, um den Spott über Pazifistinnen und Pazifisten, um das menschenverachtende, autoritäre Regime in Russland, um die Überheblichkeit «des Westens». «Damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» – wie kann ich diesen Satz schreiben, ohne zynisch zu werden oder zu verstummen?

Und da ist auch der dritte Teil des Klimaberichts der UN. Er schlägt noch lauter Alarm und scheint angesichts des Krieges mit allem, was er mit sich bringt, weder ökonomische noch politische Priorität zu haben. Da ist die Erfahrung, dass das Leben behindernde und zerstörende System der katholischen Kirche, der Klerikalismus, die Zwei-Stände-Ordnung nicht mit aller Entschiedenheit von den Wurzeln her angegangen wird. Und ich habe keine Antwort auf die Frage, wie ich es – zumal als Frau – verantworten kann, dieses System weiterhin zu stabilisieren.

«Damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» – mir verschlägt dieses Thema im Moment die Sprache. Wie auch die Tatsache, dass Ende März zwei meiner Neffen durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen wurden.

«Damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» – die Sprache meines Leibes ist zurzeit seelischer Schmerz. Und dieser macht allein und ohnmächtig. Wie nicht darin stecken bleiben?

In meinem «Lebens-Gedicht» seit Jahrzehnten schrieb Dorothee Sölle den Refrain:

«gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache
gib mir das wasser des lebens»

Ja, die Sprache der Tränen, sie ist der Ausgangspunkt. Tränen in Fülle – sie aus-halten zu können ist Gnade. Nicht darin stecken zu bleiben, Sprache zu finden, handlungsfähig zu werden auch.

Die Frage nach dem Warum taugt nicht. Und um mit Hilde Domin weiterzufahren:

«[...] wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht [...].

Es taugt die Bitte,
[...] dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.»

Leben in Fülle hat mit «grenzen-los lieben» zu tun. Auch das lässt sich nicht in Worte fassen, jedoch in Haltungen und im Handeln leben. Immer versehrter und immer heiler. Dazu braucht es Mut zur Demut, zur Dien-muot, den Mut, dem Leben – in Fülle – zu dienen.

Theres Spirig-Huber*

 

* Theres Spirig-Huber (Jg. 1957) ist Theologin und Supervisorin BSO. Sie hat langjährige Erfahrung in spirituell-therapeutischer Begleitung und Exerzitienarbeit. Sie ist Mitglied des «Netzwerk Momentos. Wandel gestalten. Spirituell. Professionell».