3. Fastensonntag: 1 Kor 10,1–6.10–12 (Ex 3,1–8a.13–15; Lk 13,1–9)
Die Welt, in der die Christinnen und Christen der von Paulus gegründeten Gemeinden lebten, war keine religiöse Salzwüste. Zeit und Gesellschaft waren geprägt durch eine Fülle lebendiger Kulte; der Olymp der Götter war nach der Vorstellung der Menschen nicht leer, sondern voll – und beinahe täglich kamen neue Gottheiten hinzu. Die Apostelgeschichte erzählt, wie Paulus einen Spaziergang durch das antike Athen unternimmt und dabei ebenso verwundert wie ratlos eine Vielzahl heidnischer Kultstätten zu sehen bekommt (vgl. Apg 17,16). Das war in Korinth nicht anders. Wir können davon ausgehen, dass das alltägliche Lebensumfeld der an Christus Glaubenden durchdrungen war von heidnischer Weltanschauung und paganer religiöser Praxis. Für die Christinnen und Christen des Anfangs stellte dies eine enorme Herausforderung dar. Wenn sie sich nicht nach Art einer Sekte aus dem öffentlichen Leben komplett zurück ziehen wollten – und diese Wahl liess ihnen das Evangelium nicht –, mussten sie lernen, sich in ihrer heidnischen Umgebung offen zu bewegen, ohne ihre christliche Identität zu verwässern oder gar preiszugeben. Das war freilich leichter gesagt als getan. Konkret bedeutet es, das Alltagsleben je neu auf den Prüfstand zu stellen und genau hinzusehen, was mit dem Christusglauben kompatibel erscheint und was nicht. Der entsprechende Diskussionsbedarf war damals nicht geringer als heute. Auch davon zeugt der Erste Korintherbrief. O ffenkundig gab es nicht wenige in der Gemeinde, deren Berührungsängste mit heidnischen Praktiken eher gering ausfielen. Sie beriefen sich auf das Sakrament der Taufe und der Eucharistie, das sie empfangen hatten, und meinten, diese beiden geistlichen Gaben würden schon hinreichen, um sich gegen mögliche negative Auswirkungen antiker Götzenverehrung auf Geist und Seele zu immunisieren und die Infektionsgefahr des Herzens zu reduzieren. Ihrer Meinung nach können materielle Dinge und Vorgänge geistgewirkte Realitäten nicht beeinflussen. Im Hintergrund steht also ein absonderliches Vertrauen auf die magische Wirkung von Sakramenten. Die Argumentation des Apostels gibt zudem deutliche Hinweise, dass sich diese Einstellung nicht nur auf kultische Lappalien wie Bleigiessen oder Wahrsagerei bezog, sondern auf heidnische Opfer und sexuelle Orgien. 1 K or 10 wendet sich nun gegen die Meinung der Selbstsicheren, Taufe und Herrenmahl wappneten gegen die Gefahren, die durch leichtfertige Teilnahme an solchen Kulten entstehen. Paulus greift dazu auf das Beispiel des alttestamentlichen Gottesvolkes zurück, in dessen Kontinuität er auch die christliche Gemeinde sieht, und erinnert an dessen Geschick beim Exodus. Trotz aller Heilsgaben geriet das Gottesvolk ins Straucheln. An der Realität der Erwählung Israels lässt Paulus dabei keinen Zweifel. Gerade so wird die Israel ereilende Strafe zu einer eindrücklichen Warnung für die Christinnen und Christen in Korinth: Wer sich sehenden Auges in Gefahr begibt, kommt darin um, was das Beispiel der Wüstengeneration eindrucksvoll belegen soll.
Paulus im jüdischen Kontext
Der paulinische Gedankengang ist stringent. 1 K or 10, 1–5 umfasst eine midraschartige Interpretation verschiedener Pentateuchstellen. Die Verse 6–10 leiten daraus entsprechende Mahnungen ab, die in 1 K or 10, 11–13 noch einmal pointiert zusammengefasst werden. Die Auswahl der Beispiele aus verschiedenen biblischen Kontexten gestaltet sich so, dass sie zum eigentlichen Thema der Paränese passen. Indem die alttestamentlichen Ereignisse in das Licht der eschatologischen Christusoffenbarung getaucht und somit quasi vom Ende her gelesen werden, können und sollen sie zudem als fortwährende Topoi der Heilsgeschichte gedeutet werden. D ie Auslegung des Apostels folgt hier der Hermeneutik jüdischer Exegese und orientiert sich strukturell (also ohne direkte literarische Abhängigkeit) an einer panoramaartigen Zusammenschau der Heilsgeschichte, wie sie sich schon im Alten Testament und auch im frühjüdischen Schrifttum findet (vgl. Ps 78; 105; 106; Ez 20; Neh 9, 9–20; Weish 11–12.16.19; äthHen 85–90; besonders 89,21 ff.). Übereinstimmungen zeichnen sich u. a. ab bei der Erwähnung der Väter (Ps 77,12; 105,7; 2Esr 19,9), beim Meerwunder (Ps 77,13; 105,9; 2Esr 19,11; Weish 19,7 f.; äthHen 89,24), bei der Wolke (Ps 77,14; 104,39; 2Esr 19,12.19; Weish 19,7); dem Felsenwasser (Ps 77,15 f.; 104,41; 2Esr 19,15.20; Weish 11,4; äthHen 89,28), dem Himmelsbrot (Ps 77,24 f.; 104,40; 2Esr 9,15.20; Weish 16,20), bei der Erwähnung des Mose (2 Esr 19,14; Dtn 32,44) und der Kennzeichnung von Murren, Götzendienst usw. als Sünde (Ps 77,18; 105,7.14.25.36; Dtn 32,16 f.; äthHen 89,32). Bemerkenswert ist auch, dass die jüdisch-frühjüdische Apokalyptik eine überbietende Wiederholung der Wüstenzeit und ihrer Wunder erwartete (vgl. Hos 2,14–23; 9,3; 12,10; Jer 23, 5–8; Ez 20, 33–38; Jes 43,18; 51,9 f.; 52,12; ausserdem Josephus, Ant 20, 97–99.169–172 und syrBar 29,8, wo die Erwartung eines neuen Exodus bzw. eines neuen Mannawunders zum Ausdruck gebracht wird).
Heute mit Paulus im Gespräch
Es dürfte kaum ein magisches Sakramentsverständnis nach korinthischem Vorbild sein, das Christinnen und Christen heute zum Problem werden könnte. Deutlicher und gewichtiger scheint eine Parallele zu sein, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, den christlichen Glauben in einem zunehmend nicht-christlichen Umfeld leben zu müssen. Wo frühere Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt und Glaubensplausibilitäten längst nicht mehr von allen geteilt werden, wird das Ringen um christliche Identität wieder zum Thema. Die Lösung kann nicht Rückzug aus der Gesellschaft sein – man hätte die Bergpredigt gründlich missverstanden. Die Lösung kann aber auch nicht Anpassung und Angleichung lauten – es sei denn um den Preis der Verflachung des Evangeliums. Von Paulus lernen, heisst, den eigenen geraden Weg zu gehen, ihn aber auch je neu selbstkritisch zu überprüfen; sich zugleich allem Neuen und Andersartigen nicht zu verschliessen, sondern den Dialog zu wagen, ohne darin das Eigene aufzugeben.