Unmittelbare Eschatologie versus dynamische Eschatologie
1. Einführung in das Thema und die Methoden
Am Anfang möchte ich einen alten jüdischen Witz erzählen, um den Begriff «Unmittelbare Eschatologie » zu erläutern: Moshe sagt zu seinem Freund in der Synagoge: «Chaim, unserer Rabbi hat erklärt, der Messias werde bald kommen!» Chaim erschrickt: «Gott bewahre! Da wird doch meine ganze Verwandtschaft seit der Erschaffung der Welt auferstehen – und sie werden alle zusammen herkommen und bei mir wohnen wollen!» An diesen Witz werden wir uns während des Vortrags noch erinnern! Der grösste Teil der Überlieferung, die wir über die Lehre Jesu haben, ist im Neuen Testament auf der Basis der Septuaginta in griechischer Sprache bewahrt worden. Allerdings ist vorauszusetzen, dass Jesus in hebräischer Sprache gelernt und gelehrt hat, wie sie am Ende der Periode des Zweiten Tempels gesprochen wurde.1 Diese Sprache sowie die Themen und Begriffe, in denen sich diese Zeit widerspiegeln, sind u. a. in den Rollen vom Toten Meer, in der mündlichen Tora (Mischna) und in jüdischen Gebeten (Sidurim) erhalten. In diesem mischnischen Hebräisch (der Sprache der Mischna) diskutierten Jesus und seine Zeitgenossen. Dieses mischnische Hebräisch füllt die Lücke zwischen der Bibel in Hebräisch und dem Neuen Testament in Griechisch.
Zunächst versuche ich, die folgenden Fragen zu beantworten: Wie kann man das Authentische der Lehre Jesu in seiner Muttersprache unter der griechischen Oberfläche identifizieren? In den jüdischen Traditionen verflechten sich die Stimmen der verschiedenen Toralehrer, der Gegner einer bestimmten Auffassung sowie der Anhänger. Es geht also um Konfrontation beziehungsweise den Streit um die richtige Auslegung der Schriften der Tora. Auch im griechischen Neuen Testament können wir ähnliche Auseinandersetzungen erkennen. Wie können wir versuchen, den Meinungsknäuel zu entwirren und diese Auseinandersetzungen klar zu identifizieren, um die Lehre Jesu in seiner ursprünglichen Sprache besser zu verstehen? Das will ich an einem Beispiel deutlich machen: Im Neuen Testament lassen sich Unterschiede zwischen der Lehre Jesu und der Lehre Johannes des Täufers bereits in griechischen Texten feststellen. Heute können wir durch die Betrachtung des jüdischen Hintergrundes die eigene Lehre Jesu besser erkennen, die sich in der Konfrontation mit der Lehre des Johannes des Täufers herausgebildet hat. Dies lässt sich besonders in dem lukanischen Doppelwerk beobachten.
Damit stellen sich folgende Fragen: Was berichten die synoptischen Evangelien über das Verhältnis zwischen Johannes dem Täufer und Jesus von Nazaret? Wie entsprechen diese Informationen dem historischen jüdischen Kontext? Zu welchen zeitgenössischen jüdischen Bewegungen zeigen die eschatologischen Aspekte der Lehre des Johannes und der Lehre Jesu eine besondere Nähe? Vor der Entdeckung der Rollen vom Toten Meer konnte man nicht sicher sein, ob zwischen Johannes und Jesus in Bezug auf die Eschatologie eine Spannung existierte. Jetzt scheint es klar zu sein, dass Johannes zur faszinierenden geistigen Welt des essenischen Denkens gehört.2 Auf der anderen Seite zeigt sich immer deutlicher ein enger Zusammenhang der Lehre Jesu mit dem Pharisäismus.3 Wie wandte Johannes der Täufer Grundsätze der Essener im Kontext der Eschatologie für seine Auslegung an? Wie wandte Jesus pharisäische Grundsätze für seine Auslegung an? Die Untersuchung der Rollen vom Toten Meer und der mündlichen Tora einerseits sowie der Zeugnisse der synoptischen Evangelien andererseits lässt uns von neuem den jüdischen Hintergrund des Neuen Testaments entdecken. Jetzt können wir versuchen, die Stimmen Johannes des Täufers und Jesu von Nazaret in ihrer eigenen Muttersprache zu hören und zu unterscheiden. Damit lässt sich besser erkennen, welch spannende Diskussion zwischen diesen beiden grossen Lehrern in Israel über Art und Weise des Eintreffens der kommenden Welt «a-Olam a-Ba» sich unter der heiss umstrittenen Frage des Johannes verbirgt: «Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?» (Lk 7,19/Mt 11,3).
2. Johannes der Täufer und die messianische Auslegung von Jesaja
Die prophetische4 Tätigkeit Johannes des Täufers und Jesu von Nazaret, wie sie am Anfang des Lukasevangeliums vorgestellt wird (Johannes des Täufers in Lk 3,1–18; Jesu von Nazaret in Lk 3,22 und Lk 4,16–30) beruht besonders auf einer messianischen Auslegung des Propheten Jesaja (40,3–5; 42,1 und 61,1). Die parallelen Motive finden wir in den zeitgenössischen hebräischen Kontexten. Hier seien besonders die Gemeinderegeln der priesterlichen Bewegung «Ha-Jahad» (die Gemeinschaft) in Qumran erwähnt. Sie sind Nachbarn Johannes des Täufers in der judäischen Wüste. Eine Regel lautet: «Wenn dies für die Gemeinschaft in Israel geschieht, so sollensie entsprechend diesen Festsetzungen ausgesondert werden aus der Mitte des Wohnsitzes der Männer des Frevels, um in die Wüste zu gehen, dort den Weg des Herrn zu bereiten, wie geschrieben steht: ‹In der Wüste bereitet den Weg des Herrn, macht eben in der Steppe eine Bahn unserem Gott› (Jes. 40,3). Das ist das Studium des Gesetzes (Midrasch a-Tora), welches er durch Mose befohlen hat, zu tun gemäss allem, was geoffenbart ist von Zeit zu Zeit, und wie die Propheten offenbart haben durch seinen heiligen Geist (be-Ruach Kodscho)» (1QS VIII, 12–16). Nach dieser Auslegung blüht die priesterliche Gemeinde des heiligen Geistes («Le-Yesod Ruach a-Kodesch, Serech A-Yachad» Kap. 3, Blatt 9,3-5) während nahezu 200 Jahren: «Und Er sagte, dass man Ihm ein menschliches Heiligtum (Mikdasch Adam) bauen solle, in dem sie Ihm als Rauchopfer vor Ihm Taten des Gesetzes (Maasei Tora) darbringen sollten» (4 QFlor I,1– 13.18 f.). Zu dieser Richtung gehört auch der Kreis der Jünger des Johannes in der Wüste. Lukas betont diese Ähnlichkeit zwischen dem Kreis der qumranischen Gemeinden und dem Kreis des Johannes, indem er die priesterliche Abstammung des Johannes erwähnt: «der zur Priesterklasse des Abija gehörte» (Mischmeret Avia!; Lk 1,5). Nach Lk 3,2 ergeht auch dort in der Wüste das Wort Gottes an Johannes (nicht im Tempel, wie an seinen Vater!), das ihn veranlasst, öffentlich aufzutreten. «In jenen Tagen erschien Johannes der Täufer in der Wüste und verkündete eine Taufe der Busse zur Sündenvergebung. Dies ist, was durch den Propheten Jesaja (40,3) gesagt ward: ‹Die Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe eine Strasse für unseren Gott›.» Auch für die priesterliche Gemeinde von Qumran bedeutet dieses Prophetenwort einen Aufruf, «sie sollen sich absondern von dem Wohnsitz der Männer des Frevels, um in die Wüste zu gehen, dort den Weg des Herrn zu bahnen».4
Dass Johannes der Täufer in der judäischen Wüste auftritt und das Volk Israel zur Taufe im Jordan einlädt, muss als Opposition zum priesterlichen Tempelkult gewertet werden. Sie lehnt sich an die Meinung der qumranischen priesterlichen «Ha-Jachad»-Bewegung an, die durch ein unrechtmässiges Priestertum [Fremdlinge] den Tempel in Jerusalem als entheiligt angesehen hat.5 Das musste als Opposition zu den Kreisen des Hohenpriesters verstanden werden, denn nur dort im Tempel konnte eigentlich der fromme Jude durch Tauchbad (Mikwe) und Tieropfer den durch Sünde zerstörten Bund mit Gott rechtmässig erneuern. Das bedeutet, dass für Johannes den Täufer die Taufe den Charakter nicht nur eines rituellen Reinigungsbades trägt, sondern sie ist die Aufnahme in eine Gemeinschaft, die (…) sich als «ein menschliches Heiligtum», also als geistlicher «menschlicher Tempel»,6 «Gemeinde des Heiligen Geistes» versteht und damit an die Stelle des Tempels in Jerusalem als Ort der Erneuerung des Bundes mit Gott tritt. So versteht sich ja die «Ha-Jachad»- Bewegung.
In diesem Zusammenhang ist die geforderte Busse also eine Rückkehr durch Wasser und Geist zu Gott (vgl. Lk 3,22), dessen endzeitliches Gericht von Johannes dem Täufer erwartet wird. Der Bussruf, die Taufpraxis, das Auftreten in der Wüste, dürfen bei Johannes dem Täufer als Vorbereitung auf die Endzeit, das bald bevorstehende Gericht Gottes, verstanden werden. Ich darf Sie an den alten jüdischen Witz zu Beginn meines Vortrages erinnern. Johannes der Täufer bereitet seine Jünger darauf vor, dass ihre ganze Verwandtschaft seit der Erschaffung der Welt auferstehen wird – und sie werden alle zusammen herkommen, um bei den Jüngern Johannes des Täufers zu wohnen. Deshalb hat Johannes mit seinen Jungen die Wüste als sicheren Ort gewählt. Es gibt viel mehr Platz für die auferstehende Verwandtschaft in der Wüste als in den kleinen Räumen in Jerusalem! Der besprochene Jesajatext ist ursprünglich im Anfang der zweiten Tempelperiode verankert, in der Rückkehr der Exilierten aus Babylon nach Jerusalem, im zweiten Exodus, im Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem. Die spezifische messianische Auslegung dieses Jesajatextes in Lukas 3, der das Volk dazu aufruft, einen geistlichen Gemeinde-Tempel in der Wüste zu bauen, verbindet den Glauben des Johannes mit dem Glauben der Priester von Qumran. Die Aussage des Johannes: «Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken» (Lk 3,8) ist ein Hinweis auf dieses qumranische Konzept: ein geistlich reiner Gemeinde-Tempel aus Menschen in der Wüste statt dem entweihten Tempel aus «schönen Steinen».7
3. Die Taufe Jesu in der Wüste und die Taufe in der Gemeinde Ha-Jachad
Lk 3,21 ff. berichtet davon, dass auch Jesus sich von Johannes hat taufen lassen. Dazu der Neutestamentler Jens Schröter: «Welche Gründe Jesus bewogen haben, zu Johannes in die Wüste zu ziehen, kann nur gemutmasst werden. (…) Die unmittelbare Begegnung muss ihn sodann nicht nur davon überzeugt haben, sich dem symbolischen Akt des Untertauchens im Jordan zu unterziehen, sondern ihn auch dazu bewogen haben, in den Kreis der Johannesjünger einzutreten.»8
Nach dem Lukasevangelium gibt es auch einen gemeinsamen biblischen Hintergrund (Jes 40,3– 5; 61,1) für den prophetischen Aufruf von Johannes und Jesus. Dass sich die Rückkehr zu Gott durch Wasser und Geist zu vollziehen hat, darauf scheint Lk 3,22 zu verweisen. Hier wird berichtet, dass der heilige Geist nach der «Taufe» auf Jesus hernieder gefahren ist. In der Übersetzung des griechischen Textes «und der heilige Geist fuhr hernieder» ins Hebräische«Ruach hakodäsch jarda» findet der Exeget Anklänge an andere Texte der Tora: «der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser» (Gen 1,2). Eine messianische Auslegung zu dieser Zeit besteht aus der Verbindung von Gen 1,2 mit Jes 61,1: «Der Geist von Gott ruht auf mir.» Die Nachweise kommen sowohl aus pharisäischen Quellen als auch aus den Rollen vom Toten Meer.
Der Middrasch Rabba zeigt für diese Exegese Anklänge von pharisäischer Seite: «und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser» – dieser ist der Geist des Messias! Woher? Wie gesagt ist: auf welchem wird ruhen der Geist des HERRN (Jesaja 11,2). Warum kommt es zu dieser Aussage «schwebte auf dem Wasser»? Weil Busse (Teshuwa) durch Wasser symbolisiert ist – «Schütte aus wie Wasser dein Herz» (Klagelieder 2, 19) (Bereschit Rabba). Das qumranische Fragment 4Q521 zeigt für diese Exegese Anklänge von qumranischer Seite: «1 [Denn die Hi]mmel und die Erde werden auf seinen Gesalbten (Messias) hören (…). 6 Und über den Sanftmütigen wird sein Geist schweben (vgl. 1 Mose 1,2; Jes 61)». Hier können wir die miteinander verflochtenen Stimmen der Pharisäer und Essener im Hintergrund der ersten Begegnung zwischen Jesus und Johannes wirklich spüren.
Ebenso bedeutsam ist die Stimme aus dem Himmel, die zu Jesus gemäss Lk 3,22 spricht. Dazu David Flusser: «Manche Forscher meinen mit Recht, in dem ursprünglichen Bericht habe die Hallstimme Jesus verkündet: ‹Siehe, das ist mein Knecht, an dem ich festhalte, mein Erwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat, ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, Recht wird er den Völkern sprechen› (Jes 42, 1). Diese Form wird wahrscheinlich auch darum die ursprüngliche sein, weil das Prophetenwort der Situation entspricht. (…) Und wenn Jesus wirklich damals das Wort aus Jesaja gehört hat, dann waren die Worte ‹siehe … ich habe meinen Geist auf ihn gelegt› eine wunderbare Bestätigung der Geistesgabe.»9
4. Die Lehre Johannes’ in der Wüste und die Lehre Jesu in Galiläischen Synagogen (die Auslegungen von Jesaja)
Jesus lernte mit Johannes in der Wüste, aber er kehrte dennoch zurück nach Galiläa und lehrte in den Synagogen. Die Wüste war ein Ort der Auslegungen der qumranischen Gemeinde und, anderseits, die Synagogen ein Ort der Auslegungen der Pharisäer. Die Synagoge ist kein Gemeindetempel in der Wüste, sondern eine Versammlung und eine Ergänzung zum Tempel in Jerusalem, «Mikdasch Me-at» (ein kleiner Tempel [Talmud, Megilah 29a]). Jesus bringt in dieses «Mikdasch Me-at» eine spezifische messianische Auslegung von Jesaja, die in Parallele zu Auslegungen der Gemeinde ha-Jahad und mit der Lehre des Johannes steht. Bei Lk 4,16–27 wird eine Szene geschildert, wo ein messianischer Anspruch Jesu sich auf Jes 61,1, Ps 146 und Gen 1,2 aufbaut und begründet wird.
«Des Herrn Geist ist über mir, darum, weil er mich gesalbt hat, Armen (Sanftmütigen) die frohe Botschaft zu bringen, zu verkünden Gefangenen Befreiung und Blinden Gesicht, zu entlassen Verwundete in Freiheit» (Lk 4,18). Die messianische Auslegung Jesu im lukanischen Kontext klingt deutlich an die Auslegung von Jesaja 61/Gen 1/Ps 146 aus der Schriftrolle von Qumran an:
«1 [Denn die Hi]mmel und die Erde werden auf seinen Gesalbten (Messias) hören …
2 und alles, was darinnen ist, wird nicht abkommen von den Geboten der Heiligen … [vgl. Gen 1,1]
5 Denn der Herr wird nach dem Frommen sehen, und die Gerechten wird er beim Namen rufen …
6 Und über den Sanftmütigen wird sein Geist schweben [vgl. Gen 1,2], und die Treuen erneuert er durch seine Kraft …
7 Ja, Er wird die Frommen ehren auf dem Thron der ewigen Königsherrschaft …
8 Er befreit die Gefangenen, Er öffnet die Augen der Blinden, Er richtet die Gebeugten auf [Ps 146,7–8] …
12 Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen, den Sanftmütigen wird er die frohe Botschaft verkünden [Jes 61,1] …»10 Diese durchaus qumranischen Motive spüren wir auch im Hintergrund der Kap 4 und 7 in Lukas und an diese Aussage schliesst sich die Antwort Jesu in Lukas 7 an den gefangenen Johannes den Täufer an. Auf die Frage des Johannes: «Bist du der Kommende oder sollen wir auf einen anderen warten?» (Lk 7,19), antwortet dann Jesus mit der Beschreibung der Zeichen der messianischen Ankunft, die direkt an den messianischen Text oben aus Qumran erinnert: «… Tote werden erweckt, Armen beziehungsweise Sanftmütigen wird eine gute Botschaft verkündet» (Lukas 7,22) – und zwar hier und jetzt! Was bis dahin eine Prophezeiung auch in Qumran war, wird nun zu einer Bestätigung, die in diesem Text versteckt ist, dass Jesus der erwartete Messias ist: «… Tote wird er lebendig machen, den Sanftmütigen wird er die frohe Botschaft verkünden» (4Q521).
5. Die Anfrage des Täufers
«Johannes erfuhr das alles von seinen Jüngern. Da rief er zwei von ihnen zu sich, schickte sie zum Herrn und liess ihn fragen: Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten? Als diebeiden Männer zu Jesus kamen, sagten sie: Johannes der Täufer hat uns zu dir geschickt und lässt dich fragen: Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten? Damals heilte Jesus viele Menschen von ihren Krankheiten und Leiden, befreite sie von bösen Geistern und schenkte vielen Blinden das Augenlicht. Er antwortete den beiden: Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und den Armen/Sanftmütigen [Hebräisch: aniim/anawim] wird das Evangelium verkündet. Selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt» (Lk 7,18–23).
In diesen Versen wird eine Szene geschildert, in der Johannes der Täufer zwei seiner Jünger zu Jesus schickt, während er selbst im Gefängnis sitzt. Dort wird er später zum Tode verurteilt und hingerichtet. Gemäss der Tora braucht man mindestens zwei Zeugen, damit die Wahrheit einer Aussage vor Gottes Gericht Bestand hat. Um besser zu verstehen, wen Johannes mit dem, «der kommen soll», meint, hilft seine Busspredigt in Lk 3 weiter. In V. 16 heisst es: «Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen.» Die Taufe «mit Feuer» bezeichnet das Gericht, das der Messias bei seinem Kommen am Ende der Welt vollziehen wird. Johannes glaubt, dass die Ankunft des Messias unmittelbar bevorsteht und ruft deswegen zur Busse und zur Taufe auf. Wenn Johannes in Lk 7,19 von «dem Kommenden» spricht, meint er gerade diese messianische Richtergestalt, wie sie vergleichbar wohl in 11QMelch, einer Auslegung über Malkizedek (Melchisedek), den messianischen Hohepriester am Ende der Welt, beschrieben ist: «[13] Und Malkizedek wird die Rache des Gerichtes Got[tes] vollziehen [und an diesem Tag wird er sie (die Söhne des Lichtes) befreien aus der Hand] Belials und aus der Hand aller Gei[ster seines Loses.]» Ein weiterer Gedanke aus der Qumran-Gemeinde, der mit dem Hinweis von Johannes auf den «Kommenden» in Zusammenhang gebracht werden kann, ist die Vorstellung von der Ankunft des Menschensohnes im Buch Daniel: «Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen: Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter. Darüber war ich, Daniel, im Geist bekümmert, und was mir vor Augen stand, erschreckte mich» (Dan 7,13–15). Nach dieser Vorstellung kommt der Messias auf bzw. mit den Wolken des Himmels auf die Erde und wird dann alle Menschen richten. Wir begegnen hier einem sehr berührenden Bild des Glaubens bei Johannes. Der ungerechte Richter (König Herodes Antipas) hat den unschuldigen und gerechten Johannes in das Gefängnis geworfen und will ihn zum Tode verurteilen, Mit Blick auf Dan 7,13–15 richtet Johannes an Jesus gleichsam die Frage: «Wenn du der erwartete messianische Richter bist, – warum leide ich, der ich das Volk auf das Kommen des vom Himmel kommenden gerechten Richters vorbereitet habe? Warum schweigst Du?» Die Antwort Jesu (Lk 7,22) spielt an auf Ps 146,8: «Der Herr öffnet den Blinden die Augen, er richtet die Gebeugten auf», und auf Jes 61,1: «Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen/Sanftmütigen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Gefesselten die Befreiung.» Diese beiden alttestamentlichen Stellen sind in der Zeit des Zweiten Tempels eschatologisch gedeutet worden. Das kann man am oben genannten Text aus Qumran (4Q521) nachvollziehen, der sich mit «dem Messias des Himmels und der Erde» auseinandersetzt. Aus der Antwort Jesu alleine geht nicht hervor, dass sie eschatologisch gemeint ist. Aber wenn man annimmt, dass die Vorstellungen vom Weltende, die aus dem Qumrantext hervorgehen, zur Zeit Jesu weit verbreitet waren, ist die messianische Komponente in den Andeutungen zu spüren. Die recht kurze Antwort Jesu und 4Q521 sind sich so ähnlich, dass wohl mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden kann, dass diese beiden Texte in einem inhaltlichen – wenn auch nicht zwingend in einem literarischen – Zusammenhang stehen (siehe Kästchen unten):
Lk 7,22 «Er antwortete den beiden: Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und den Armen/Sanftmütigen wird das Evangelium/ die frohe Botschaft verkündet.»
4Q521 «Der Messias des Himmels und der Erde»: [8] Er öffnet die Augen der Blinden [12] und Tote wird er lebendig machen, den Sanftmütigen wird er die frohe Botschaft verkünden.»
Jesus verweist darauf, dass die Ereignisse, die schon in Genesis 1, Jes 61,1 und Ps 146 sowie in 4Q521 angeführt sind, durch ihn nun erfüllt werden. Er verdeutlicht Johannes, dass er (Jesus) vollbringen wird, was in den messianischen Hoffnungen der Qumran-Gemeinde Ha-Jahad zum Ausdruck gebracht wird:
[6] «Und über den Sanftmütigen wird sein Geist schweben, [12] den Sanftmütigen wird er (G-tt) die frohe Botschaft verkünden» (4Q521). Allerdings unterscheidet sich der eschatologische Glaube Jesu von dem Glauben Johannes des Täufers. Während Johannes das Ende der Welt als unmittelbares Geschehen betrachtet, begreift Jesus das Weltende als einen langen dynamischen Prozess. Der Lebensweg des Johannes, einschliesslich seiner ungerechten Todesstrafe, ist nur der Anfang dieses Prozesses von Gottes Gericht, Gottes Erlösung und Gottes Gerechtigkeit. Das Ende dieses Prozesses hängt nicht nur vom Willen Gottes ab, sondern auch vom Willen der Sanftmütigen, die die frohe Botschaft verstehen und die nicht verzagen wegen der Verzögerung des letzten Gerichtes und wegen der fortdauernden Leiden der Gerechten unter ungerechten Gerichten, denn «Selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt» (Lk 7,23). Im Kontext der hebräischen Begriffe bevorzuge ich die entsprechende Aussage: «sche-lo ikkaschel bi!» – «der an mir nicht scheitert (strauchelt)». Diese Sanftmütigen sind selig, weil sie hier und jetzt die Verkündigung des vollkommenen Königreiches Gottes erfahren durch über sie den schwebenden Geist Gottes (vgl. Lk 6,20/Mt 5,3). Während Johannes von einer unmittelbaren Eschatologie als einem zeitlichen Ereignis in der menschlichen Geschichte spricht, so spricht Jesu von einer dynamischen Eschatologie, die diese Geschichte seit Zeit des Johannes begleitet und von den «Sanftmütigen des Geistes» von Generation zu Generation erlebt wird.
Ich darf nochmals an den alten jüdischen Witz zu Beginn meines Vertrags erinnern. Gemäss der Lehre Jesu soll Chaim vor der Ankunft des Messias nicht zu sehr erschrecken, da die ganze Verwandtschaft nicht in einer Minute auferstehen wird, sondern nur die Sanftmütigen, und ihre Auferstehung geschieht Schritt für Schritt, damit Chaim genügend Zeit gegeben wird, um Ferienwohnungen für alle in ausreichender Zahl zu finden!
Zwischen beiden Erwartungen – der Erwartung des Johannes und der Erwartung Jesu – bestehen demnach gravierende Unterschiede. Immer wieder belehrt Jesus seine Jünger über das Himmelreich (Königreich Gottes) und dessen Anbruch (Lk 16,16). Die Belehrung begann damit, dass Jesus während des aktiven Auftretens des Täufers, in «den Tagen Johannes des Täufers», anfing, seine Jünger zu berufen. Seitdem «bricht das Himmelreich durch». Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass das Himmelreich nicht in der Zukunft liegt, sondern im Jetzt – seit der Zeit Johannes des Täufers.
Das Königreich bricht durch, die sanftmütigen Mitglieder des Gottesreiches brechen durch. In Micha (2,12–13) und ebenso im Midrasch sind es der Herr und seine Schafe, die ausbrechen oder durchbrechen. In Micha 2,13 sind der «Durchbrecher » (poretz) und der König ein und dieselbe Person, aber in der rabbinischen Interpretation, so David Flusser, handelt es sich um zwei verschiedene Personen: Der «Durchbrecher» wird als Elia interpretiert und «ihr König» als der Messias, der Nachkomme (Sohn) Davids.11
Jesus verändert dieses Bild ein wenig, sodass es das Himmelreich (Königreich Gottes) und seine Schafe sind, die durchbrechen. Obwohl Jesus sich hier nicht direkt auf seine Rolle als der Hirte bezieht, der die Schafe führt, konnten seine Hörer seine erstaunliche Feststellung kaum missverstehen: – «Ich bin der Herr. Elias [Johannes des Täufer] war gekommen und hatte den Weg geöffnet, aber er war noch nicht selbst hinausgegangen, und dann der Herr selbst führte die laute Menge hinaus in die Freiheit.»
War das Zeugnis Jesu (Lukas 7,24–28) über Johannes ausreichend für seine Jünger? Die weitere Geschichte bestätigt die von ihm begonnene Bewegung: Die Lehre Johannes des Täufers spielt eine wichtige Rolle für die Jünger Jesu, trotz der grundlegenden Unterschiede zwischen den Erwartungen Johannes’ und den Erwartungen Jesu in Bezug auf das letzte Gericht Gottes und das Ende der Welt. Möge es dem Ewigen gefallen, dass Juden und Christen ihren interreligiösen Dialog weiterführen, nach dem Beispiel dieser zwei grossen Lehrer in Israel vor 2000 Jahren: ein echtes Miteinander-Sprechen, ohne Scheu vor komplizierten Zusammenhängen, nicht auf konkurrierende Art und Weise – trotz aller gravierenden Unterschiede zwischen unseren Erwartungen.