Wenn es das «Heilige» gibt, dann ist es zugleich Urwirklichkeit und eine sinnvolle – wenn auch höchst umstrittene – Grundkategorie menschlicher Erfahrung, die das Feld des Religiösen strukturiert. Spätestens mit Rudolf Ottos Publikation von «Das Heilige» (1917) wurde die Konzeption von Religion als Wahrnehmungsphänomen salonfähig und zugleich das Heilige zur Grundkategorie der Religionsphänomenologie.
Über hundert Jahre früher hatte Friedrich Schleiermacher 1799 in seinen Reden über die Religion diese als Wahrnehmungsphänomen in den Blick genommen. Für Schleiermacher sind religiöse Erfahrungen eine eigenständige Form von Erfahrung, nämlich solche, die über das Partikuläre hinaus auf das Ganze (bei Schleiermacher: das «Universum») gehen. Auf dieses Ganze kann sich der Mensch auf verschiedene Weisen beziehen: erkennend (wie in der Philosophie), praktisch handelnd (wie in der Ethik oder der Kunst) und rezeptiv bzw. in Schleiermachers Worten «passiv», das heisst in Erfahrungen, in denen das Universum als Totalität den Menschen berührt. Dann wird dieses Universum selbst als handelnd erfahren und bringt im Menschen die ursprüngliche Einheit von Anschauung und Gefühl hervor. Bis heute bleibt in der Tradition der Religionsphänomenologie die Einsicht Schleiermachers zentral, dass es sich hier um eine ursprüngliche und nicht weiter reduzierbare Form der Erfahrung von Wirklichkeit handelt: Religiöse Erfahrung kann man nicht noch einmal von anderswoher ableiten, sie ist schlicht einer der drei basalen Modi des Weltbezugs. Und es lässt sich bereits hier abschätzen, dass ein hoher Wert menschlicher Existenz die fruchtbare Integration aller drei Weltbezüge (Erkennen, Handeln, Erfahren) sein dürfte.
Zwei Fragen drängen sich auf: Erstens ist bei Schleiermacher nicht immer ganz klar, ob religiöse Erfahrungen auch über die Totalität des Universums hinaus auf einen Gott hin gehen oder ob es sich letztlich nicht doch um eine Art pantheistisches System handelt. Damit ist zweitens die Frage verbunden, was genau dieses nicht noch einmal reduzierbare Element ist, das religiöse Erfahrung von der alltäglichen unterscheidet. Denn faszinierenderweise können religiöse Erfahrungen in relativ unterschiedlichen Kontexten und scheinbar an weltlichen Gehalten beliebiger Art aufbrechen – seien diese religiös formalisiert, wie ein Gottesdienst oder spontan, wie ein Sonnenaufgang oder der Moment, in dem man sich verliebt. Dennoch scheint – zumindest für den christlichen Bereich – Romano Guardinis Einschätzung hilfreich, dass Erfahrungen des Heiligen im strengen Sinne immer auch Differenzerfahrungen sind: Sie brechen an irgendwelchen Dingen der Welt auf, erschöpfen sich jedoch nicht in diesen Dingen, sind «mehr» als dieses Gesicht, diese Landschaft, dieses Ritual. Sie überschreiten den gesamten Erfahrungsraum auf dieses «Mehr» hin, das nie gänzlich erfasst, aber konkret erfahren werden kann. Das ist das Heilige.
Oliver Dürr*