Das Leben als Perpetuum mobile

Stephen Kings Kurzerzählung «Afterlife» regt den Leser an, darüber nachzudenken, für welche Option er sich nach dem Tod entscheiden würde, wenn er entscheiden müsste.

Es ist nicht eine alltägliche Sache, den erfolgreichsten lebenden Autor in der Schweizerischen Kirchenzeitung zu würdigen. Hatten bisher die Fachpresse und die hehre Wissenschaft den 1947 im US-Bundesstaat Maine geborenen Verfasser von über 70 Büchern in den Bereichen Horror, Fantasy und Science Fiction mit herablassender Missbilligung behandelt, stieg er zu seinem 70. Geburtstag plötzlich zu Anerkennung auf. Nichts zeigt das besser, als dass die NZZ (Ausgabe vom 17.9.2017) ihm zum Festtag zwei ganze Seiten widmete!

«Meine Waren biete ich gerne feil, wenn die Strassen verlassen sind und wenn eine kalte Mondrinde über den Schluchten der Grossstadt schwebt. Nur zu, ihr könnt sie euch ruhig näher ansehen, aber seid bitte vorsichtig» («Afterlife», Umschlag Rückseite).

Himmel, Hölle, Wiedergeburt oder ...?

Offensichtlich beschäftigen den nun alternden Schriftsteller die Themen Vergänglichkeit und Tod mehr als früher. Der üppige Roman «Revival» von 2014 war der Einstieg dazu, und in seiner Kurzerzählung «Afterlife» (deutsch «Leben nach dem Tod») im Sammelband «Bazaar of bad dreams» («Basar der bösen Träume») von 2016 legt er nun eine äusserst lustige, aber auch bemerkenswerte Geschichte zum Themenkreis Tod, Auferstehung und Wiedergeburt vor.

King philosophiert zunächst über das Phänomen Tod: «Letzten Endes läuft es auf zwei Optionen hinaus. Entweder gibt es etwas, oder es gibt nichts. Bei Letzterem hat sich die Sache erledigt. Bei Ersterem bleiben einem unzählige Möglichkeiten, wobei Himmel, Hölle, Fegefeuer und Wiedergeburt die beliebtesten in dieser Leben-nach-dem-Tod-Hitparade sind. Vielleicht bekommt man auch nur das, von dem man immer schon geglaubt hat, dass man es bekommen wird» (Einleitung, S. 299).

Bestens vertraut mit der Lebensgeschichte

Diese beiden Optionen widerfahren in dieser Erzählung dem Investmentbanker William Andrews, der mit 56 Jahren an Darmkrebs stirbt und sich nach dem Durchfahren des obligaten weissen Lichts in einem Korridor vor der Tür des Verwalters Isaac Harris wiederfindet. Fotogra- fien von ihm vertrauten Menschen und Politikern verschiedener Zeiten zieren den Korridor. Beim Betreten des Büros entpuppt sich Isaac Harris als Verwalter über Leben und Tod. Die Dossiers über seine Kunden stapeln sich auf seinem Tisch, und sein Begrüssungskommentar lässt uns erschauern. «Da sind Sie ja wieder, Andrews» (S. 306). Er ist über seinen Kunden und dessen Biografie bestens vertraut; er kennt dessen Skrupel zur Frage, an welchen Punkten seines Lebens er versagt oder gar Schuld auf sich geladen hat, einschliesslich der nicht unwesentlichen Feststellung, dass er nicht zur Darmvorsorge gegangen ist.

Ausgelöscht oder neu geboren werden?

Harris' Büro kennt zwei Ausgänge: Links geht es zurück ins alte Leben, zu rechts sagt er: «Nehmen Sie die rechte Tür, ist es mit Ihnen vorbei. Puff. Ausgepustet. Wie eine Kerze im Wind» (S. 312). Die Hoffnungen von Andrews, beim Verlassen des Raums durch die linke Tür doch gewisse Ahnungen mitzunehmen, um in seinem Leben etliches besser anzugehen, macht er mit blankem Zynismus zunichte: «Es gibt eine Volkssage, nach der jeder Mensch vor seiner Geburt alle Geheimnisse des Lebens und des Todes und der ganzen Welt kennt … Aber dann, kurz vor der Geburt, kommt ein Engel herab, legt den Finger auf die Lippen des Ungeborenen und flüstert pssst» (S. 317).

Als Leser winden wir uns mit William Andrews, reflektieren, wie wir uns verhalten würden, wenn uns solches zugemutet würde. Nun, er entscheidet sich so, wie wir es wohl auch tun würden, drückt den «Restart-Knopf» und geht links raus. Und wir befinden uns zum Schluss im Gebärsaal von Hemingford County (Nebraska) und erleben, wie der kleine Willie ins Leben startet.

Soll nun mal einer sagen, dass das Lesen von King-Büchern Zeitverschwendung sei!

Heinz Angehrn


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.