«Der Mensch wird nicht Mensch, sondern ist Mensch in jeder Phase seiner Entwicklung!» Prof. Dr. med. Erich Blechschmidt1
Lebensanfang. Das Geheimnis der Menschwerdung ist bedroht. Aus der biomedizinischen Forschung ist ein breites Spektrum von Technologien hervorgegangen, die an früher unverfügbaren «Dingen» heute Grundlegendes zu manipulieren vermögen. Der Mensch ist in den Händen von Labortechnokraten zum Produktionsobjekt geworden. Stichwort Reproduktionsmedizin: Samenspende, Invitro- Fertilisation (IVF), Präimplantationsdiagnostik (PID), Pränatale Diagnostik (PND). Und bald auch das Geschäftsfeld der Eizellenspende, wo sich die Spenderin und die Empfängerin aus ethischen Gründen nicht über den Weg laufen sollten.
Über Medizin kann man nur in Metaphern reden (Kovács).2 Manche Ausprägungen der Reproduktionsmedizin sind bereits Stolpersteine geworden: «Die Eizellenspende ist für Mediziner der nächste Schritt» – «Das Millionengeschäft …», stand am 4. Juni 2014 in einer Zeitung.3 Es entsteht der Eindruck, dass mit der fortschreitenden Liberalisierung der Fortpflanzungsmedizin der Mensch zur beliebig manipulierbaren «Biomasse» geworden ist, zum Beschäftigungsobjekt begabter Labortechniker, die sich ihrem «Fortschrittsglauben» verschrieben haben. Für sie ist alles erlaubt und alles machbar oder darf zumindest erprobt werden, weil sie wähnen, dass das verdinglichte Manipulieren befruchteter Eizellen in der Glasschale das Gleiche sei wie das leibhaft erlebte Werden des Kindes in der Gebärmutter einer Frau. Reproduktionsmedizin ist Entpersonifizierung, Verdinglichung des Menschen. Sie macht das Kind zum «erkauften Dienstleistungsprodukt» (Maio).4 Stéphane Hessel hat mit eindringlichen Worten zum Widerstand gegen menschliche Unzulänglichkeiten aufgerufen. Würde er auch dazu sagen: «Empört euch!»,5 um Ethiker zum Widerstand gegen diese Entwicklung zu mobilisieren? Den Macher – «homo faber» – gab es zu allen Zeiten.
Outsourcen
«Outsourcen» gehört zu den Zeichen der Zeit. Neu dazugekommen ist das «Outsourcen» der Befruchtung in das Reagenzglas (IVF) bis hin zum «Outsourcen» der ganzen Schwangerschaft, zum Austragen des Kindes durch eine Leihmutter. «Die Mediziner sollen künftig so viele Embryonen mittels künstlicher Befruchtung herstellen dürfen, wie sie es für nötig halten »6, und diese vor der Implantation testen (PID) dürfen, selbst dann, wenn in der Familie anamnestisch keine schweren Erbkrankheiten, wie Trisomie 21 (Down-Syndrom) vorkommen. Wie wird die Zukunft aussehen? Soll menschliches Leben künstlich hergestellt, gesammelt, konserviert, kontrolliert (Chromosomen- Screening) und verwaltet werden dürfen, wie wir es aus der Veterinärmedizin kennen? Sperma und Eizellen sind die Rohstoffe der Fabrikation.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass es im konkreten Bereich des medizinischen Fortschritts zahlreiche segensreiche Errungenschaften gibt, aber auch reale Bedrohungen ethischer Werte. Das Leben ist mehr als Selbstorganisation unter RNA-Molekülen, mehr als molekulare Automatismen. Schon der Keim ist ein Mensch, kein Fremdkörper. Der Keim ist im Stande, schon vor der Implantation das Endometrium seiner Mutter zu beeinflussen, um sich einnisten zu können. Prof. Dr. med. Kurt Feremutsch schrieb im Jahr 1948: «Es sind zwei Individuen, die mit ihren eigenen Lebenskreisen sich berühren, wobei das eine auf die Anwesenheit des andern zu reagieren vermag. Das bedeutet aber, dass jene ‹Potenzen› des Keimes, von denen man seit jeher zu sprechen gewohnt ist, sich nicht nur in einer Induktion, Regulation und Organisation manifestieren, sondern auch in einer weit tieferen Bedeutung gewahrt bleiben: in der Individualität in des Wortes weitestem Sinne.»7 Feremutsch erhielt für diese Arbeit den Fakultätspreis der hohen Medizinischen Fakultät der Universität Bern.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Menstruationszyklus sind nur einzelne Areale des Endometrium (Gebärmutterschleimhaut) zur Keimaufnahme bereit. Weshalb ist das so? Diese Areale zeichnen sich als präsumptive Implantationsfelder gegenüber anderen Bezirken der Uterusmukosa aus (Strauss).8 Weshalb ist das so? Am Endometrium geschehen Vorbereitungen für eine Implantation, es wird in einen präimplantativen Zustand gebracht. Weshalb ist das so? Wunder über Wunder, die uns staunen lassen sollten. Wir haben das Staunen und das Danken (ευχαριστία, eucharistein) verlernt.
Pränatalmedizin
Man schrieb das Jahr 1966 (!), als das Pionierwerk von Erich Saling erschien: «Das Kind im Bereich der Geburtshilfe».9 Damit begann die Perinatalmedizin. Heutzutage beginnt die Schwangerschaft mit einem «Test», und die Frau begreift die getestete Bestätigung der Einnistung eines Kindes mit dem Eintritt in einen neuen Zustand. Wegen des nun in ihr ablaufenden natürlichen Prozesses der Schwangerschaft wird die Frau beratungs-, überwachungs-, und entscheidungsbedürftig. Es folgen weitere «Tests». Die Natur wird «objektiv» erklärt und nicht mehr subjektiv erlebt. Diagnostische Tests sind auch ein lukratives Geschäft.
PID und PND könnten zu einem ethisch bedenklichen «Selektionsautomatismus» führen. Es geht um die Qualität des zu erwartenden «Produkts» Mensch. Hier taucht in anderem Gewand die uns allen aus naher Vergangenheit bekannte Frage über den Wert oder Unwert menschlichen Lebens wieder auf. Wie äussern sich behinderte Mitmenschen zu dieser Frage und zu dem sich abzeichnenden «Selektionsautomatismus»? «Nun wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück» (Joseph Kardinal Ratzinger).10 Eine Ahnung von Apokalypse. «Kein Mensch ist in der Lage, eine Grenze zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben zu finden, weil alles Leben lebenswert ist» (Thürkauf).11 Nicht selten dürfen Eltern die Erfahrung machen, dass gerade das ungewollte oder das behinderte oder das weniger begabte Kind zur Quelle ihres grossen Glücks wird.
Reproduktionsmedizin
Die Reproduktionsmedizin hat das Schwangerwerden vom Alter der Mutter abgekoppelt. Der Wunsch nach einer Schwangerschaft zu einem «späteren» Zeitpunkt im Leben ist erfüllbar geworden und «alte Erstgebärende» ein Schimpfwort. Eine lange Lebensphase mit Schwangerschaftsverhütung. Auch das ist ein Zeichen der Zeit. Prospektive Familienplanung. Es ist möglich geworden, mit einer Spirale (IUD) bis zu drei Jahre zuverlässig zu verhüten, ohne zu wissen, ob Frau/Mann vielleicht unfruchtbar ist. Entsteht trotzdem ein Kind, ist es noch zu früh. Zukunft wird durch Machen und durch Wünsche bestimmt. Und wenn dann eines Tages aus einem Selbstverwirklichungsinstinkt ein Kinderwunsch vernehmbar ist, möchte man womöglich das Geschlecht wissen.
Forscher entdeckten spezifische Oberflächenproteine. Diese wurden personifiziert; sie tragen Namen. Auf der menschlichen Eizelle werden sie «Juno» genannt, auf den Spermien heissen sie «Izumo». Biotechnokraten der Pharmaindustrie wittern in diesen Entdeckungen neue Gewinnchancen, um gesellschaftliche Forderungen erfüllen zu können. Zwei polare Entwicklungen treten am Horizont auf: Einerseits neuartige Verhütungsmittel mit dem Präfix «Anti», andererseits neue Fertilitätsbehandlungen mit dem Präfix «Pro». Juno und Izumo sind für oder gegen die Befruchtung. Spermien und Eizellen sollen sich finden und annehmen oder ablehnen, beides pharmakologisch unterstützt.
Die wissenschaftlichen Bezeichnungen IVF («in vitro fertilisation») oder «Retortenbaby» und «Embryo-Transfer» sind medienwirksame Begriffe für Anspruchsdenken, Machbarkeit und Wunscherfüllung. In der Glasindustrie ist sogar ein Spezialzweig für Labortechnokraten entstanden: Kapillaren aus Borosilicatglas für die IVF. Und wenn dann wegen möglicher «Überstimulation» vielleicht eines Tages bei der Utraschalluntersuchung zum «Schrecken» der Eltern nicht nur ein Kind, sondern zwei oder drei Embryonen im Fruchtwasser schwimmen, dann dient womöglich ein ultraschallgesteuerter Herzstich oder ein Laserstrahl als «Therapie» dieser «Komplikation ». Minimal invasiv, maximal destruktiv, selektiv. Reproduzierte Menschen werden auf dem Altar der Biomedizin geopfert. Töten als «Therapie» zeugt von der Ambivalenz eines Konzepts von Ratlosigkeit. Mord und Opferung unschuldiger Kinder haben eine lange Tradition. Sie beginnt schon mit dem Kindermord in Betlehem (Mt 2,16–18). Die medizinische Forschung hat grosse Fortschritte erlebt. Nun gibt es aber inmitten der Machbarkeit, Kontrolle und Planung auch Unvorhergesehenes, Schicksalhaftes, Alarmierendes. Wo sind die Grenzen der Machbarkeit und Wunscherfüllung zu ziehen?
Schwangerschaft und Geburt, auch Abort, Sterilität, Unverfügbarkeit und Kinderlosigkeit gehören zu den Kontrasterfahrungen im Leben der Frau. Hier braucht es Schicksalsgemeinschaft, Empathie, Nächstenliebe, Mitmenschen die fragen: «Frau, warum weinst du?» (Joh 20,13). Aus Freude, vor Schmerz, aus Trauer? Kein Arzt darf Zweifel haben am Leidensdruck, welcher Kinderlosigkeit für ein junges Ehepaar bedeuten kann. Psychisches Leiden an sich selbst, das vom persönlichen Ringen um Antworten geprägt ist. Leidende brauchen ein Gegenüber – ein Du – das sie begleitet. Empathie, Begleitung und Dialog sind wesentliche Elemente der Heilung. Sie lassen Leidende ihre Identität spüren.
Was, wenn der Kinderwunsch mit oder ohne Reproduktionsmedizin nicht in Erfüllung geht? Ist nicht auch Kinderwunsch eben ein sehnlicher Wunsch, der, wie so vieles im Leben, vielleicht dazu bestimmt ist, Wunsch zu bleiben? Erwartung und Erfüllung sind nicht immer im Einklang. Es gehört zur Lebensplanung, im Rahmen der Gestaltungsmöglichkeiten neue Wege zu suchen, wenn die begangenen Wege nicht zum Ziel führten. Auf die Suche gehen nach einem erfüllten Leben im Glauben und in der Hoffnung «Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat» (Ps 121,2): «Sator opera tenet».
Sind da nicht noch viele andere Wege offen zur Sinnfindung, zu einer erfüllten Partnerschaft – «bonum fidei» ohne «bonum prolis» – oder zu einem erfüllten Familienleben? Die Adoption von Kindern, die nach Wasser und Nahrung und Liebe dürsten. Die Ehe, ob kinderlos oder Familie, ist der Ur-Ort menschlicher Gemeinschaft.
Maio plädiert «für eine neue Demut im Umgang mit dem Ungeborenen», damit das in der Geborgenheit des Mutterleibes heranwachsende Kind nicht schon vor seiner Geburt Prüfungen ablegen und Tests bestehen muss, um am Leben gelassen und angenommen zu werden.12 Um «makellose Kinder» zu gebären, unterliegen Schwangere einem «Perfektionsdruck ».13 Biologisierung und Genetisierung der frühen Schwangerschaft machen es möglich. Mutterschaft um jeden Preis. Pränatale Diagnostik induziert Erwartungen, Vorstellungen von Gesundheit. Wenn der Test positiv ausfällt, beginnt erst der Leidensweg. «Positiv ist negativ.»14 Die genetische Pränataldiagnostik führt zu einer radikalen Ablehnung des Gegebenen und zur Blindheit für den Sinn des Ungeplanten.
«Informed consent»: Die Schwangere wird mit Testergebnissen konfrontiert und befindet sich in tiefer Not, «in einer Not, in der sie allein gelassen wird. Und in einer Not, in die sie so unvorbereitet hineingeschlittert ist» (Maio).15 Sollten wir Ärzte uns angesichts einer solchen Medizin nicht ernsthaft fragen, ob diese Medizin nicht gefährlicher ist als die «Krankheit», die sie bekämpft? Hier braucht es Gesetze. Macher orientieren sich eher am Gesetzesparagrafen als am Ethos. «Euer Leib ist nicht Euer eigen» (Tschuang-Tse).16
«Ärzte müssen sich zunehmend dem Diktat der Ökonomie und der Politik beugen und haben immer weniger Zeit, Visionen zu formulieren oder gar zu realisieren» (Carrel).17 Die erfahrensten Kapitäne unseres Faches verlassen besorgt die Brücke des sinkenden universitären Spitalschiffes, sinkend deshalb, weil «sich aus einem kontinuierlichen Wandel ein Umbruch der Medizin von einer dem leidenden Menschen verpflichteten Medizin zu einer sich dem Primat der Ökonomie unterwerfenden Medizin vollzieht » (Hepp).18
Epilog
Aus der Geburts-Hilfe ist eine Geburts-Medizin entstanden. «Zunehmend sind wir Frauenärzte mit dem Anspruch auf ein gesundes Kind konfrontiert, zu dessen Verwirklichung gegebenenfalls ein Schwangerschaftsabbruch in Kauf genommen und von einzelnen gegenüber dem Arzt sogar im Sinne eines vermeintlichen Rechtsanspruches postuliert wird. Viel Wissen erzeugt gesellschaftlichen Druck auf Patient und Arzt. Spätestens dann beginnt das ethische Dilemma der pränatalen Medizin» (Hepp).19 Mit pränataler Diagnostik verknüpft ist immer auch die Frage nach der Möglichkeit einer prae- und/oder postnatalen Therapie. Die «Therapie» besteht meist im Schwangerschaftsabbruch, im Töten statt im Heilen.20 Durch pränatale Neugier werden unschuldige Kinder auf dem Altar der Wissenschaft geopfert.21
Der verhängnisvolle Machbarkeitsglaube ist das Resultat eines grenzenlosen Fortschrittsdenkens unter dem Deckmantel eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffs. Wer von diesem «Wasser» trinkt, dessen «Durst» kann nie gestillt werden (vgl. Joh 4,13).
In unserer ambivalenten Berufswelt braucht es moralische «Spielregeln» für den Umgang mit Glaspipetten zur Reproduktion (IVF) und medizinischen Utopien. Machbarkeit bedroht menschliches Leben. Verlierer ist immer der Mensch. Hinter den Kulissen geschieht schon vieles. Der Arzt sollte daher mit der gebotenen kritisch-offenen Distanz gesellschaftliche Entwicklungen verfolgen und modernen, naturwissenschaftlich vermittelten Denkmodellen nachgehen und seinem Handeln selbst Grenzen setzen, indem er als Gesetz sein ihn verpflichtendes Gewissen anerkennt.
Wo finden wir die «Bausteine für ein neues Weltbild», auf die Fritjof Capra hingewiesen hat?22 Sollten wir uns nicht wieder den grossen Fragen des Menschseins nähern und sich ihnen stellen? Wissenschaftliche Fortschritte sind Bestandteil menschlicher Systeme. Manche sind uns über den Kopf gewachsen und haben sich verselbstständigt. Mit hochmütiger Selbstverständlichkeit wird das vorgeburtliche Leben gemessen und getestet, bevor man Ja zu ihm sagt. Medizin und Gesellschaft wollen das so. Der moralische Kompass ist verloren gegangen. Macher scheinen ihrer Sache so sicher zu sein, dass sie ihr Tun nicht hinterfragen. Sie verlaufen sich im Nebel der Beliebigkeit. Forscher und Ärzte brauchen einen «paráklētos», ja wir alle brauchen einen Begleiter und Tröster (Joh 14,16). Forscher und Politiker, die sich diesen Worten entziehen, entziehen sich der Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder und der uns anvertrauten Schöpfung.
Mani Matter, Berner Troubadour, poetischer und visionärer Mahner sang in einem seiner Lieder: «Und we me gseht, was hütt dr Mönschheit droht, so gseht me würklech schwarz, nid nume rot. Und was me no cha hoffen isch alei, dass si Hemmige hei.»23 Quo vadis «Frauen-‹Heil›-Kunde»?24
__________________________________________________________________________________________
Ein Kind um jeden Preis?
Angelika Walser: Ein Kind um jeden Preis? Unerfüllter Kinderwunsch und künstliche Befruchtung. Eine Orientierung. (Tyrolia-Verlag) Innsbruck-Wien 2014, 138 S. Die Ethikerin, Erwachsenenbildnerin und Theologin Angelika Walser gibt aus persönlicher Betroffenheit Einblick in die Methoden, Erfolge und Risiken der künstlichen Befruchtung. Sie ortet die ethische Problematik und zeigt die Positionen der katholischen und evangelischen Kirche auf. Entscheidendes Kriterium ist für sie die Fürsorge und die Verantwortung für das Wohl des Kindes, aber auch der Beteiligten. Fazit der Lektüre: Es gibt beängstigend viele Fragen und dementsprechend grösste Vorbehalte gegen die Reproduktionsmedizin: Das Buch ist sehr lesenswert! (ufw)