Wie lässt sich das Allgemeine Gebet in der Liturgie nach dem «Ende des Theismus» gestalten? Wenn also unsere Gottesvorstellungen nicht mehr mit ständigen Eingriffen eines Allmächtigen rechnen? Wenn sie sich wandeln: hin zur religiösen Erfahrung in der Tiefe des Lebens? Einen Übungsraum zu solchen Fragen eröffnete der Verein tagsatzung.ch am 14. September 2013 an einer Tagung in Winterthur, vorbereitet durch die Projektgruppe «Neue religiöse Sprache». Pfarrer Paul Zemp hat berichtet, wie sie vor vier Jahren entstand, welche Überlegungen sie unter seiner Leitung anstellte, welche «Kriterien für eine neue religiöse Sprache » hervortraten.1 Belangreich ist seine Feststellung, ein «gutes religiöses und christliches Sprechen» sei nicht nur durch ästhetische Bearbeitung von Sprachstil und Sprachrhythmus zu gewinnen, auch nicht durch Nähe oder Abstand zur Umgangssprache, noch weniger durch Genauigkeit der Übersetzung aus anderen Sprachen. «Jeder religiöse Text steht für ein bestimmtes Gottes-, Welt- und Menschenbild.»
Bewegte Gespräche
Im Rahmen der Projektgruppe hatte ich den Werkstattbericht «Das Allgemeine Gebet: Für-Bitten, nicht Uns-Bitten» erarbeitet.2 Die Tagung stand nun unter dem Motto «Den lieben Gott ins Gebet nehmen ». Unverblümt die Einladung: «Zu überwinden ist die Vorstellung eines Gottes-Götzen, der in seiner Allmacht an sich schon helfen könnte, der sich aber erst dann punktuell zum Eingreifen bequemt, wenn er lang und laut bestürmt wird, vor allem mit dem inständigen Ruf: Wir bitten dich, erhöre uns!»
Die Tagung offenbarte einmal mehr: Wer solche Anliegen in kirchlichen Kreisen vertritt, sieht sich in jähe Diskussionen verstrickt. Fragen des Theismus scheinen manchen, die pastoral oder religionspädagogisch wirken, kaum bewusst. So ergaben sich Gespräche über den Anlass hinaus. Sie dauern an. Dabei zeigt sich: Hilfreicher als Theorien sind Aussagen nachdenklicher Menschen. Und: Fürbitten jenseits theistischer Gottesbilder können dem Leid und Schrei der Welt eine eigene Art von Echo geben.
Der vorliegende Bericht möchte solche Gespräche unterfüttern. Zu diesem Zweck greife ich Hinweise auf, die in Winterthur zur Sprache kamen. Ich flechte nachdenkliche Stimmen zum «Ende des Theismus» ein. Und ich erinnere an zwei Menschen, die sich in besonderer Weise gegen den Theismus aufgebäumt haben: an Hans Jonas (1903–1993) mit seiner erschütternden «jüdischen Stimme» zum «Gottesbegriff nach Auschwitz»; an den Westschweizer Religionsphilosophen und Mystiker Maurice Zundel (1897–1975) mit seinen Thesen zur schöpferischen Leere («Kenose»). Jonas sprach 1984 «mit Furcht und Zittern» Gott von der Anklage frei, für das Böse in der Welt und dadurch für Auschwitz verantwortlich zu sein. Zundel fällte im Januar 1966 ein scharfes Urteil über das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). Es habe «nicht die wesentliche Botschaft angeboten». Seine Dokumente bezögen sich auf einen theistischen «Gott der Vergangenheit».
Theistische Versuchung in den Fürbitten
Das Konzil hat in der Liturgiekonstitution vom 4. Dezember 1963 das Allgemeine Gebet oder Gebet der Gläubigen wiederhergestellt (Art. 53). Im deutschen Sprachraum bürgerte sich die Bezeichnung «Fürbitten» ein. In der Praxis entfalteten sich vornehmlich theistische Fürbitten, etwa (zugespitzt) nach dem Modell: «Dass du den Hungernden Brot und den Kranken Trost geben wollest, wir bitten dich, erhöre uns.» Auf diese Weise verkam das Allgemeine Gebet oft zu einer Auflistung von Einzelanliegen, um die sich «Gott» zu kümmern habe. Wer die Gottesfrage stellt, wird spöttisch schliessen: Wenn dieses allmächtige Du weder Brot noch Trost schenkt, ist es selber schuld am Leid der Welt. Eine kirchliche Fachstelle schlug für einen Weltgebetstag für kirchliche Berufe folgende Fürbitte vor: «Erwecke unter uns prophetische Menschen, die Dein Reich spürbar machen.» Und: «Lass uns in Deinem Geist weitersagen, was uns im Glauben trägt.» Sie reizen zur Rückfrage: Wer ist schuld, wenn es zu wenig prophetische Menschen gibt? Doch jener, der sie nicht erweckt, obwohl er es könnte! Und das imperative «Lass uns» entlastet uns, wenn dieser Gott nicht zulässt, dass wir weitersagen, was uns trägt.
Stimmen zum Ende des Theismus
Karl Kardinal Lehmann bestätigte 2004 indirekt, was Maurice Zundel bereits 1966 festgestellt hatte. Er sagte in einem Vortrag: «Bald nach dem Konzil wurde deutlich, dass inzwischen die Gottesfrage in eine grundlegende Krise kam. Das Konzil konnte noch relativ beruhigt von Gott reden und das Bekenntnis an ihn voraussetzen. Inzwischen sind alle Selbstverständlichkeiten, wenn sie es je waren, in diesem Bereich Vergangenheit.»3
Johann Baptist Metz äusserste sich schon 1994 ähnlich: «Wir haben heute eine Kirchenkrise; aber viel entscheidender ist doch: Es gibt eine Gotteskrise. Diese Krise ist kein Kirchenproblem, sondern ein Menschheitsproblem. Es gibt einen Atheismus, der Gott im Munde führen kann, ohne ihn ernsthaft zu meinen.»4
Herbert Vorgrimmler sah eine kritische Funktion der Theologie darin, «die naiven Gottesvorstellungen des in den Kirchen weit verbreiteten Theismus abzubauen, der immer wieder versucht, aus abstrakt gebildeten Begriffen der Vorsehung und der Eigenschaften Gottes (wie Allmacht, Allwissenheit usw.) (…) ein physikalisches Eingreifen Gottes in die Abläufe der Natur und der Menschheitsgeschichte zu behaupten».5
Dorothee Sölle (1929–2003) ging ihrerseits entschieden vom «Ende des Theismus» aus. «Die Vorstellung eines höchsten Wesens an der Spitze der Pyramide des Seins, das alle Ordnungen ins Dasein gesetzt hat und sie erhält, ist nicht mehr denkmöglich (…). Der Theismus als die selbstverständliche Annahme Gottes ist unfähig, die Erfahrungen mit Gott, die auch heute gemacht werden, zu kommunizieren.»6
Mitschuld der Seelsorge am Atheismus
Wie gesagt: Wer solche Anliegen vertritt, sieht sich in Diskussionen verstrickt. Und doch führt kein Weg an der Mühe vorbei, sich darauf einzulassen. Der Religionspädagoge Hubertus Halbfas stellt im dritten Band seines Grundlagenwerks eindringlich dar, wie theistische Vorstellungen unmittelbar den Atheismus der letzten zweihundert Jahre ausgelöst haben (Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud).7
Seelsorge und Religionsunterricht sind offenbar nicht bereit, der theistischen Versuchung zu widerstehen. Klaus Müller, Religionsphilosoph und Fundamentaltheologe, beklagt, «dass die Systematische Theologie die bereits seit Kant und dem Idealismus unüberhörbar gewordenen kritischen Fragen an den klassischen Theismus bis heute weitgehend ignoriert und deswegen vom Neuen Atheismus unschwer in Sachen Gottesbild auf das Niveau eines Grundschulkatechismus festgenagelt werden kann».8
Verkündigung und Seelsorge hätten «flächendeckend bis dato nicht wirklich ihre seit der Moderne anstehenden hermeneutischen Hausaufgaben gemacht». Sie ignorierten weitgehend die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelauslegung und gäben sich keine Rechenschaft darüber, «wie im Zusammenspiel von Historie und Fiktionalität wahrheitsfähige Sprechakte entstehen». Dies meinte er im Blick auf die mythische Sprache der Bibel und der alten Glaubensbekenntnisse. Indem die pastorale Praxis vor solchen Wegen zurückschrecke, arbeite sie «dem fundamentalistischen Atheismus geradewegs in die Hände».
«Wer um die Tiefe weiss …»
Halbfas beschreibt das «Ende des Theismus» und zeigt die Alternative auf: «Nicht-theistisch an Gott glauben: Die Mystik.»9 Der erste, der ausserhalb der Mystik einen Paradigmenwechsel angestossen habe, sei der protestantische Theologe Paul Tillich (1886– 1965) gewesen.10 Dieser «machte klar, dass über Gott nur in der Sprache des Symbols gesprochen werden könne». Er nahm die traditionelle Gottessymbolik, die sich mit «Höhe» und «Himmel» verband, aus ihrer räumlichen Dimension heraus und tauschte sie gegen eine nicht mehr räumlich verstandene «Tiefe» aus: «Der Name dieser unendlichen Tiefe und dieses unerschöpflichen Grundes allen Seins ist Gott. Jene Tiefe ist es, die mit dem Wort Gott gemeint ist. Und wenn das Wort für euch nicht viel Bedeutung besitzt, so übersetzt es und sprecht von der Tiefe in eurem Leben, vom Ursprung Eures Seins, von dem, was Euch unbedingt angeht, von dem, was ihr ohne irgend einen Vorbehalt ernstnehmt (…). Wer um die Tiefe weiss, weiss auch um Gott.»11
Im Auschwitz-Wüten schwieg Gott
Nun zu Hans Jonas und seiner Kritik am Theismus als Philosoph jüdischer Kultur. Er begründete 1979 die Zukunftsethik in seinem Hauptwerk «Das Prinzip Verantwortung»12 mit Vernunftphilosophie, also «bewusst unter Verzicht auf jegliche theologische Argumentation».13 Aber er stellte auch theologische Überlegungen an: «keine Spekulationen um ihrer selbst willen», sondern mit einem «leidenschaftlichen ethischen Plädoyer für die menschliche Verantwortung für die ‹Schöpfung›».14
In diesem Sinn wählte er 1984 für seine Dankesrede zur Verleihung des Dr. Leopold-Lucas- Preises in Tübingen das Thema «Gottesbegriff nach Auschwitz».15 Ihm habe es sich aufgedrängt, weil seine eigene Mutter wie auch die Mutter von Leopold- Lucas in Auschwitz ermordet worden seien. Er erhebe seine «jüdische Stimme» zur Theodizeefrage als eine Antwort, mit der er Gott von der Anklage freisprechen wolle, für das Böse in der Welt und dadurch für Auschwitz verantwortlich zu sein: «Nach Auschwitz können wir mit grösserer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, dass eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll, dann muss sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist ( …). Durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott (…). Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.»16
Machtentsagung im Wesen Gottes
So stelle Auschwitz für den gläubigen Juden «den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage», fuhr Jonas fort.17 Wo sei dieser Gott, der das auserwählte Volk «mit starker Hand und ausgestrecktem Arm» geführt habe? Nach tausendjähriger Leidensgeschichte könne die Schoah nicht als göttliche Heimsuchung eines untreuen Gottesvolkes verstanden werden. Das Verhältnis Gottes zur Geschichte sei anders zu denken. Zu diesem Zweck griff er zu einem «selbsterdachten Mythos».18 Er zeichnete einen Gott, der «im Anfang», das heisst in der Tiefe seines Wesens, der Macht entsagt und sich dem radikalen In-der-Welt-Sein ausliefert. «Damit Welt sei und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit.»
Damit spricht Jonas von einem leidenden Gott ebenso wie von einem werdenden und sich sorgenden, der «dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein (…) mit dem eindringlichstummen Werben seines unerfüllten Zieles»19 antworte. Aber er markiert dabei Distanz zum christlichen Gottdenken. Sein Mythos spreche nicht, «wie jener christliche Ausdruck vom leidenden Gott es tut, von einem einmaligen Akt, durch den die Gottheit zu einer bestimmten Zeit und zu dem besonderen Zweck der Erlösung des Menschen, einen Teil ihrer selbst in eine bestimmte Leidenssituation sandte (die Fleischwerdung und Kreuzigung)».20 Anderseits hält er seinen Mythos mit der theologischen Überlieferung des Judentums vermittelbar – bis zu jenem Punkt, an dem er die göttliche Allmacht verneint. Ermutigung dazu gewinnt er durch Rückgriff auf die jüdische Kabbala und deren Idee des «Zimzum».21 Es gehe um «Kontraktion, Rückzug und Selbsteinschränkung » Gottes, «um Raum zu machen für die Welt».
«Einsichten wie Wetterleuchten»
Dieser Mythos erinnert an den Hymnus im Philipperbrief 2,5–11 über Selbstentäusserung und Leerwerden in der Inkarnation. Ein zentraler Text auch für Maurice Zundel, dessen Denken im deutschsprachigen Raum kaum bekannt ist.22 Hier wähle ich einige Gesichtspunkte seiner Theismus-Kritik aus.
Zundel war Priester des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg. Bereits in seiner ersten Tätigkeit in Genf (1919–1925) pflegte er neue Denkansätze in der Gottesfrage und im Umgang mit gesellschaftlichen Fragen. So publizierte er 1921 einen Artikel über das Frauenstimmrecht! Aber sein Bischof Marius Besson (1876–1945) schimpfte ihn «Sonderling und geistigen Freischärler» und verbot ihm ab 1925 jede Seelsorge in seinem Bistum. Es ergab sich ein Exil in Rom, Paris, London, Jerusalem und Kairo. Erst 1946 konnte er heimkehren. Bis zu seinem Tod 1975 wirkte er von Lausanne aus als Schriftsteller, Vortragsredner und spiritueller Meister. Hoch geschätzt waren seine sprichwörtliche Hingabe an die Notleidenden, seine «schweigende» Art der Seelenführung und sein brillantes Wissen in moderner Philosophie, Literatur und Naturwissenschaft.
Im Pariser Exil (1927–1929) hatte Zundel den Mailänder Giovanni Battista Montini kennengelernt, den späteren Papst Paul VI. (1897–1978). Dieser erkannte in ihm «ein Genie, ein Genie als Dichter, ein Genie als Mystiker, Schriftsteller und Theologe, und dies alles aus einem Guss, mit Einsichten wie Wetterleuchten».23 Nach seiner Wahl zum Papst 1963 wollte Paul VI. Zundel augenscheinlich rehabilitieren. Er drängte ihn, die tieferen Ursachen für die Krise der Moderne zu ergründen und dachte 1965 daran, ihm die Kardinalswürde zu verleihen.24 1972 lud er ihn ein, im Vatikan die Vorträge für die Fastenexerzitien zu halten.
«Keine Logik des Schreckens»
Maurice Zundel veröffentlichte zwanzig Bücher, von denen Bischof Besson eines einstampfen liess.25 Das letzte, die Exerzitienvorträge im Vatikan, erschien 1976, ein Jahr nach seinem Tod, unter dem Titel «Welcher Mensch und welcher Gott?»26 Das ist die Grundfrage seines Denkens: Welchen Gott und welchen Menschen meinen wir?27 Fragte ihn jemand: «Glauben Sie an Gott?», antwortete er: «Glauben Sie an den Menschen?» Oder: «Ich glaube nicht an Gott, ich lebe ihn.»
Zundel ging nicht von der Bibel, sondern von Intuition und Erfahrung aus: Es kann gar kein allmächtiges und allwissendes Wesen geben, das von aussen her in die Welt und in unser Leben hineinwirkt. In diesem Sinn ist eine Logik des Schreckens, was die Bibel von Gott berichtet: Er tötet die Feinde seines «auserwählten» Volkes, ist eifersüchtig und rachedurstig! Zundel weigerte sich, in Gottesdiensten biblische Perikopen vorzutragen, in denen ein gewalttätiger Gott durchscheint. «Ich werde wütend, wenn ich sagen höre, Gott lasse das Böse zu.» Er ist vielmehr «dessen erstes Opfer» und kann nicht als Wesen gedacht werden, das das Böse zu verhindern vermöchte.28 Er betonte: Gegen die Logik des Schreckens christlicher Theologie haben sich Friedrich Nietzsche (1844–1900), Albert Camus (1913–1960) und Jean-Paul Sartre (1905–1980) zu Recht aufgelehnt. Ihr Protest-Atheismus ist verständlich. Mit Camus trat er in Kontakt.
«Ich glaube an den Menschen»
Stattdessen knüpft Zundel im Sinn der französischen Existenzphilosophie und des Personalismus an der Selbsterfahrung an: Das Menschsein übersteigt sich selbst, offenbart sich als «Möglichkeit des Unendlichen ». Wir «existieren» nicht kraft unserer Geburt. Wir haben unser Menschsein, unsere «Existenz» als Person erst zu erschaffen. Im Innersten dieser «zweiten Geburt» erfahren wir einen Sog über uns hinaus, ein existenzielles Rufen ins Unendliche, eine «schöpferische Leere». Diesem Rufen können wir einen Namen geben: «Wahrheit, Schönheit, innere Musik, das Unaussprechliche, Punkt X, Omega.»29 Schonen wir das Wort «Gott», wo wir können!
Diese Selbsterfahrung deckt sich für Maurice Zundel mit der Erfahrung eines Gottes, der nur als «innerlich» gedacht werden kann. Wir Menschen sind, jeden Augenblick neu, die Schöpfer von uns selbst und unserer Welt. Und Gott ist in uns «der schweigende Raum, in dem unsere Freiheit zu sich selber kommt». So spricht Zundel auch vom Werden Gottes in der Person, die sich für das Unendliche öffnet. Schöpfung geschieht. Damit vertieft er die Intuition Tillichs von der «Tiefe» als Symbol für Gott. Gott wird zu einer Erfahrung, die das moderne Freiheitsdenken adelt.
Hans Jonas hatte von der Machtentsagung Gottes gesprochen. Zundel geht weiter: Gott kann nicht seiner Macht entsagen, da er gar nicht als «Mächtiger» gedacht werden kann. Es gehört gleichsam innerlich zum trinitarischen Beziehungsgeschehen, nichts Eigenes zu haben. «Gott hat nichts. Er ist reine Gabe.» Er hat sein Sein einzig dadurch inne, dass er es verschenkt. Er ist Liebe, rufende und schöpferische Leere. Er bittet uns, auf sein Rufen einzugehen und ihn zu erhören.
Hans Jonas hatte betont, sein Mythos spreche nicht, wie das christliche Sprechen von Inkarnation, «von einem einmaligen Akt». Das sei ein Missverständnis, betont Maurice Zundel. Die Inkarnation ist kein einmaliger Akt in der Zeit, etwa als «Menschwerdung» bei der Empfängnis oder Geburt Jesu. «Die Inkarnation ändert nichts in Gott.»30 Sie gehört im Sinn der klassischen Theologie zu seinem Wesen – und zur Sakramentalität unserer Wirklichkeit. Dazu ungewohnte Blitzgedanken Zundels: Christus ist Ausdruck der gesamten Trinität. Und: «Wir müssen möglichst vermeiden zu sagen: Gott hat einen Sohn. Damit bieten wir der Widerrede des Korans die offene Flanke. Gott ist Sohn so wie er Vater ist. Denn es gibt nicht zuerst einen Gott, der sich dann einen Sohn gibt.»31
Solidarität verkünden
Wie lassen sich also Fürbitten jenseits theistischer Gottesbilder gestalten? Wie wandeln sie sich, wenn wir nicht mit ständigen Eingriffen eines Allmächtigen rechnen, sondern das göttliche Rufen in der Tiefe des Lebens vernehmen? Sie gefallen sich dann nicht mehr darin, einen allmächtigen Götzen zu bestürmen, er möge uns erhören – und dies und jenes tun. Sie bestehen vielmehr darin, uns mit Menschen und Gemeinschaften zu verbinden, an die wir denken. Beten für heisst dann: denken an – beten mit – wünschen für … Wir bringen Leid und Schrei der Welt zum Ausdruck. Um dieses Verständnis werben etwa der katholische Theologe Norbert Scholl und der evangelische Theologe Hans-Martin Barth.32
Dazu einige Erfahrungen, die sich in einem nicht-theistischen Sprachspiel ergeben haben.33 Die Vorsteherin oder der Vorsteher teilt den Beginn der Fürbitten mit und knüpft gegebenenfalls an Bibellesung, Thema oder Predigt an. Es wird auch mitgeteilt, wie der Antwortruf lautet. Wird der Ruf gesungen, und das ist die Regel, wird er bereits vorgespielt und gemeinsam gesungen. Manchmal empfiehlt es sich, einer bekannten Melodie eigene Worte zu unterlegen. Oder ein Instrument spielt eine vertraute Melodie in die Stille hinein.34
Die Beschränkung auf vier Fürbitten erscheint als sinnvoll (vgl. die vier Anliegen des Konzils). Für Ansagerin oder Ansager ergeben sich jeweils drei Schritte:
- Die Solidarität verkünden: Wir verbinden uns mit … (Menschen und Gemeinschaften nennen, deren Leid und Klage, Freude und Hoffnung)
- Zum Gedenken einladen: Wir denken an sie … (Raum für längere Stille öffnen)
- Zur Antwort aufrufen: Wir sind dankbar und singen … (Antwortruf)
Den Schwerpunkt bildet der erste Schritt: die Verkündigung der Solidarität. Er kann zwei- oder dreistufig ausgefaltet werden und weiten Raum für unsere Anliegen öffnen. Genügend Zeit wird hier zum Geschenk.
«Nicht Gott erhört uns – wir erhören Gott»
Das Schlussgebet geht zurückhaltend mit der Gottesfrage um und kann in ein Lobgebet sowie in Vaterunser und Segenswort einmünden. Es liegt nahe, im Sinn von Maurice Zundel und Paul Tillich das Wort «Gott» zu schonen und andere Symbole anzusprechen: Geheimnis des Lebens – Grosses Ich – Inneres Du … Wir finden Ergreifendes in der Bibel, in Dichtung und Mystik der Vergangenheit und der Gegenwart – und bei uns selbst. Dabei kommt zum Ausdruck: Wir flehen nicht um dies oder jenes, sondern wir «erhören» den Ruf, den wir in uns und in der Welt vernehmen: «Nicht Gott erhört uns – wir erhören Gott.» Hilfreich kann es sein, Menschen verschiedener Anschauungen um Rat zu fragen, gerade auch solche, die sich als Konfessionslose oder als Atheisten verstehen.
Solche Entwicklungen im Allgemeinen Gebet finden Beachtung. Es währt nicht lang, bis Einzelne aufmerken und vor allem zwei Gesichtspunkte dankbar hervorheben: die fürsorgliche Verbindung mit anderen Menschen oder Gemeinschaften; die Momente des Schweigens, in denen sich Gedenken ereignet. Es ergeben sich substanzielle Gespräche. Manchmal wird der moderne Atheismus «heimgeführt ».