«Das war für mich die Initialzündung»

In der Schweiz nehmen Exklusions- und Separationstendenzen gegenüber jungen Menschen zu. Das Netzwerk youth4participation.ch* möchte alle
verbinden, die sich gegen diese Tendenzen einsetzen wollen.

Prof. Salvatore Loiero (Jg. 1973, links) ist Professor für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. Viktor Diethelm (Jg. 1974) ist Leiter der Deutschschweizer Fachstelle für offene kirchliche Jugendarbeit.

 

SKZ: Wie kamen Sie zu der Lancierung des Netzwerks youth4participation.ch?
Salvatore Loiero (SL): Bei der Deutschschweizer Fachkonferenz zur Entwicklung der Jugendpastoral im Dezember 2019, wo ich als Referent teilnehmen durfte, wurde das grosse Potenzial greifbar, das die Katholische Kirche in der Schweiz in den vielen engagierten jungen Menschen hat. Beeindruckt hat mich vor allem das kritische Potenzial der Teilnehmenden und ihr engagierter Gestaltungswille sowohl in Bezug auf kirchliche wie auf gesellschaftliche Realitäten in der Schweiz. Das war für mich die Initialzündung für das Netzwerk, beeinflusst von den Einsichten aus meiner zeitgleichen Vorlesung zur Sozialpastoral in Schweizer Kontexten, die ich zusammen mit Marie-Rose Blunschi-Ackermann konzipierte und durchführte.

Viktor Diethelm (VD): Als mich die Anfrage von Salvatore Loiero erreichte, war mir sofort klar, dass dies eine echte Möglichkeit ist, zwei Dinge miteinander zu verbinden, die wir von der Fachkonferenz als Ergebnis mitnahmen: Der Wille von uns Verantwortlichen der Kirchlichen Jugendarbeit, uns aktiv an wichtigen Themen für die Zukunft der Schweiz zu beteiligen und dadurch aufzuzeigen, dass wir unsere Arbeit mit jungen Menschen auch als gesellschaftlich relevant verstehen.

Sie haben festgestellt, dass immer mehr junge Menschen sich ausgeschlossen und überflüssig fühlen. Welche konkreten jungen Menschen haben Sie dabei vor Augen?
VD: Es betrifft insbesondere junge Menschen aus armutsbetroffenen Familien, mit Migrationshintergrund oder Beeinträchtigungen, welche es massiv schwerer haben, sich an kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen zu beteiligen. Unsere leistungsorientierte Gesellschaft und Mainstream-geprägte Kultur machen aber auch immensen Druck auf Freiräume, die ohne Leistungserwartungen auskommen und Nischen für Subkulturen bieten. Dies erzeugt automatisch den Ausschluss von jungen Menschen, die über eine kleine Lobby verfügen. Letztlich beinhaltet die Realität auch eine hohe Dunkelziffer, die es zu beleuchten und deren Ursachen es zu erkennen gilt.

SL: In der jetzigen Phase verstehen wir uns als Netzwerk, das die verschiedenen Stimmen ins Gespräch bringen möchte, um gemeinsame und vielfältige Lösungsoptionen generieren zu können. Die Erfahrungen von Exklusion betreffen nicht nur ein bestimmtes Milieu junger Menschen, sondern zieht sich durch alle Milieus hindurch. Denn für Exklusionserfahrungen spielen nicht nur materielle Faktoren eine Rolle, sondern ebenso mangelnde Zukunftsaussichten oder Anonymisierungstendenzen – nicht wirklich in den eigenen Anliegen wahr- und ernst genommen zu werden. Das Netzwerk will gerade auch hier Betroffenen eine Möglichkeit bieten, sich aktiv einbringen zu können, damit nicht nur über sie geredet wird. Unser Netzwerk will auf diese Weise vor allem auch eine Plattform für diesen Wahrnehmungsprozess sein.

Gestützt auf das Apostolische Schreiben Evangelii Gaudium (198–200) möchten Sie diesen Jugendlichen eine echte Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ermöglichen. Wie soll das geschehen?
VD: Uns geht es nicht um eine blosse Teilnahme, sondern um echte Teilhabeprozesse. Teilhabe bedeutet, sich als Teil eines Ganzen zu verstehen, das sich ohne mich nicht denken lässt und nicht existieren kann. Wir wollen weniger über, sondern vor allem mit den jungen Menschen sprechen. Es geht uns um die Ermutigung, sich als junger Mensch als Teil des Ganzen (der Schweizer Gesellschaft oder der Kirche) zu sehen und sich als wertvolle Dialogpartnerin und Dialogpartner auf Augenhöhe erleben zu können. Ich verstehe die erwähnten Passagen so, dass wir gerade auf ihre Teilhabe für die Gestaltung der Zukunft von Gesellschaft (und Kirche!) angewiesen sind. Es braucht entsprechende Formate, welche junge Menschen als Subjekte wahrnehmen, die etwas Wichtiges zu sagen und beizutragen haben. Junge Menschen selbst sind die Schlüssel, welche die eigenen Exklusionserfahrungen oder die von anderen jungen Menschen nachhaltig zu überwinden vermögen.

SL: Wie bei jedem Dialogprozess auf Augenhöhe ist es entscheidend, wie selbstwirksam diese Prozesse sind. Konkret heisst das: Selbstwirksame Dialogprozesse dürfen nicht nur die gemeinsame Sache verändern, sondern in gleicher Weise alle an dieser gemeinsamen Sache beteiligten Personen. Gerade Letzteres ist eine Herausforderung, der wir uns stellen wollen. Denn Exklusionserfahrungen, strukturelle wie individuelle gleichermassen, können nur dann wirklich verändert werden, wenn sich Menschen in ihrer Haltung verändert erfahren. Wir müssen lernen, ein blosses gefühlsmässiges Betroffensein zu überwinden, um zu einer empathischen Grundhaltung zu finden, die von der Perspektive der oder des Anderen aus zu einer Anwaltschaft für die oder den Anderen und deren Anliegen führt, weil es letztlich einen selbst betrifft.

Gibt es bereits konkrete Projekte und wie sieht es mit den Möglichkeiten einer Mitwirkung aus?
VD: Neben unserer Homepage www.youth4participation.ch, welche die verschiedenen Themen und Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner digital und aktuell verbinden will, organisieren wir am 4. September eine grosse Tagung an der Universität Freiburg i. Ü. In diversen Diskussionsforen, Workshops und persönlichen Begegnungsformaten sollen Akteurinnen und Akteure ihre bestehenden Projekte aufzeigen und weitere entwickelt werden. Unser Anliegen ist es, zusammen mit jungen Menschen ein Netzwerk zu festigen, das sich für die Überwindung der genannten Realitäten engagiert.

SL: Die erste Zusammenarbeit besteht unter den verschiedenen Mitgliedern der Kerngruppe des Netzwerks, die aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Bereiche der Arbeit mit jungen Menschen besteht. Kolleginnen und Kollegen, die sich wissenschaftlich mit den Themen unseres Netzwerks befassen, sind angefragt oder haben sich schon bereit erklärt, mitzuwirken. Und schliesslich ist jede und jeder eingeladen, sich dem Netzwerk anzuschliessen, die oder der das Anliegen teilt.

Papst Franziskus schreibt in «Evangelii Gaudium» 200: «Die bevorzugte Option für die Armen muss sich hauptsächlich in einer ausserordentlichen und vorrangigen religiösen Zuwendung zeigen.» Wie könnte eine solche religiöse Zuwendung aussehen?
SL: Wie schon vorhin angedeutet wurde, basieren Armutserfahrungen nicht auf rein ökonomischen Faktoren, sondern Armutserfahrungen sind vielschichtiger. So gibt es auch soziale Formen von Armut, wenn junge Menschen in ihrem Eigenwert nicht wertgeschätzt oder einfach in den Diskursen übersehen werden, oder wenn sie sich lediglich als Spielball erfahren, indem nur über sie, nicht aber mit ihnen gesprochen wird. Bevor von einer «religiösen Zuwendung» gesprochen werden kann, muss zuerst eine «menschliche Zuwendung» Gestalt annehmen, in der erfahrbar zum Ausdruck kommt, dass die «Sache des Menschen auch die Sache Gottes ist und umgekehrt», wie es der flämische Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx immer wieder betont hat.

VD: Um echte Handlungsmöglichkeiten zu generieren, die von und mit jungen Menschen zusammen realisiert werden können, um den verschiedenen Realitäten von Exklusionserfahrungen entgegentreten zu können, muss zuerst die Bedeutung der eigenen Existenz sowie die Würde des menschlichen Daseins im eigenen Leben erfahrbar sein! Darin kommt für uns Gott ins Spiel. «Religiöse Zuwendung» ist eine liebevolle Zuwendung, die den Eigenwert und die Würde des Gegenübers in seiner bzw. ihrer Ganzheitlichkeit versteht. Die «religiöse Zuwendung» ist dann wirkungs- und sinnvoll, wenn das Vertrauen junger Menschen in sich und das Leben gestärkt wird. Dies gelingt durch Teilhabe, Einbezug und dem geistigen Bewusstsein, unbedingt geliebt und gewollt zu sein.

Interview: Rosmarie Schärer

 

* Nähere Informationen zum Netzwerk unter www.youth4participation.ch