Die neutestamentlichen Exegeten sind sich über die Konfessionsgrenzen hinweg einig, dass es Jesus um Gottes Reich geht. Sein Anliegen ist die Verkündigung der bedingungslos liebenden, gnadenvoll-rettenden Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung, was in der Chiffre vom «Reich Gottes» kulminiert. Heute aber sind Kreuz und Auferstehung Jesu so sehr ins Zentrum unseres christlichen Glaubens gerückt, dass sie die jesuanische Reich-Gottes-Predigt marginalisieren. Von ihr scheint keine rechte Anziehungskraft mehr auszugehen. Die Reich-Gottes-Frage gehört wahrlich nicht zu den «akuten Zentralproblemen der Theologie […]. Man transportiert die Sache im Gepäck der Überlieferung, aber sie ist eben doch zum Rand- und Verlegenheitsthema geworden.»1 Worin gründet unser christlicher Glaube: im Sterben Jesu oder in seinen Worten und Taten? Stiftet sein Tod Heil oder sein Evangelium?
Reich Gottes als göttliche Heilswirklichkeit
Jesus von Nazareth hat es als seine Sendung angesehen, Gottes Reich als eschatologische Heilsrealität geschichtlich ins Spiel zu bringen. Beim Reich Gottes handelt es sich um eine Existenzweise, bei der Gottes Gottsein – seine Liebe, Barmherzigkeit, Güte, sein Friede usw. – als die alles bestimmende Wirklichkeit anerkannt wird und zur Verwirklichung gelangt. Gottes Reich ist dort, wo Gottes Wirklichkeit zur allein bestimmenden Macht wird, wo er inmitten seiner Schöpfung wohnt.
Mit seiner Reich-Gottes-Botschaft stellt sich Jesus in die Tradition Israels. Er greift messianische Texte der hebräischen Bibel auf, lässt aber bei deren Aktualisierung Entscheidendes aus: die Rache Gottes. Der Wegfall der Rache gehört zum Skandalon seiner Botschaft, vor dem Jesus warnt: «Selig ist, wer an mir keinen Anstoss nimmt» (Mt 11,6). Zentral für das Gottesbild Jesu ist, dass Gott nicht als ein Gott der Vergeltung gedacht wird; in der Bergpredigt werden Gewaltfreiheit und Feindesliebe mit der Vollkommenheit Gottes begründet (Mt 5,48). Das von jeder Vergeltung absehende Handeln Gottes wird im Wirken Jesu ansichtig: Gott handelt neu, er rächt nicht die Sünde, sondern vergibt bedingungslos.
Reich Gottes: weder rein gegenwärtig noch absolut ausständig
Jesus verkündet das Nahegekommensein des Reiches Gottes. Doch wie nah oder fern ist es? Zu dieser Frage gibt es weder im Neuen Testament noch in der Theologie ein schlüssiges Konzept. Sie gehört darum zu den anspruchsvollesten Herausforderungen neutestamentlicher Exegese. Paradox und pointiert kann das Problem folgendermassen umschrieben werden: «Jesus sprach […] von der angekommenen Königsherrschaft Gottes, als ob nichts mehr käme, und von der kommenden, als ob sie noch nicht angekommen wäre.»2
Der zeitlichen Zweidimensionalität – Gegenwart und Zukunft – kann man nur gerecht werden, wenn der Spannungsbogen nicht einseitig aufgelöst wird. Das aber geschieht in Theologie und Kirche immer wieder. Die einen versuchen, das Reich Gottes als eine bereits verwirklichte Grösse zu verstehen, indem sie es existenziell auslegen: Gegenwärtig sei das Reich Gottes in den Herzen der Menschen. Wird das Reich aber rein spiritualistisch gedacht und in die Innerlichkeit des frommen Subjekts verlegt, wird auf unbiblische Weise der Bezug zur Welt, zur Geschichte und zur Gesellschaft abgeschnitten. Sofern es beim Reich Gottes um die Erneuerung nicht nur des Menschen, sondern der gesamten Schöpfung geht, kann es nicht bloss individuell verwirklicht gedacht werden. Andere gehen wiederum davon aus, dass sich Jesus in der Frage der Enderwartung geirrt habe und das Reich Gottes noch ausständig, also eine rein futurische Grösse sei. Es sei nicht da, sondern lediglich nahe als Ziel der Sehnsucht, als Erwartung des nahen Endes. Wenn aber Gottes Reich etwas rein Zukünftiges wäre, dann hätte sich mit dem Auftreten Jesu nichts Heilsames ereignet, und es wäre folglich bedeutungslos.
Reich Gottes: «schon da» und «noch nicht»
Einen Mittelweg in der Zeitfrage stellt die Dialektik von «schon jetzt» und «noch nicht» dar, wobei nicht selten auf die sogenannten Wachstumsgleichnisse verwiesen und der Akzent auf das «Schon jetzt» gelegt wird. Allerdings geht es in diesen Gleichnissen weniger um die Gegenüberstellung von kleinem Anfang und herrlichem Ende, vielmehr wird das unaufhaltsame Kommen des angekündigten Reiches Gottes trotz aller Ablehnung mit grosser Zuversicht in Aussicht gestellt. Bei näherem Hinsehen erweist sich auch der dialektische Lösungsansatz als fragwürdig: Versteht man die Dialektik als eine paradoxe Aussage, trägt sie nichts Erhellendes zur Zeitfrage bei. Wird nämlich behauptet, das Reich Gottes sei schon da und doch noch nicht da, schon wirksam und zugleich ausständig, bereits erfahrbar, dennoch aber Gegenstand der Hoffnung, wird das Problem nicht gelöst, sondern nur verschleiert, wenn nicht gar potenziert. Wird die Dialektik indes quantitativ gedacht – «schon ein klein wenig da» – entbehrt sie jedes biblischen Belegs, nimmt Jesus doch an keiner Stelle mengenmässige Abstriche vor. Auch kann im Blick auf die menschliche und vor allem nichtmenschliche Schöpfung von einem «Schon jetzt» des Reiches Gottes keine Rede sein. In der Menschheitsgeschichte ist eine Heilswende nicht ausmachbar und wie sollte von einer Teilpräsenz des Reiches Gottes gesprochen werden können, wenn sich die Weltgeschichte mit all ihrer Abgründigkeit und Brutalität ungebrochen fortsetzt? Ausserdem gehören zur Natur nach wie vor Krankheiten und Tod, Verfall und Missbildungen, Fressen und Gefressenwerden. Ohne solche destruktiven, leidvollen Vorgänge würde das auf Energie- und Stoffwandel basierende Ökosystem gar sein Gleichgewicht verlieren. «Noch befindet sich die Schöpfung weithin im Zustand der Entfremdung von Gott: Sie ist ebenso ‹Chaos› wie ‹Kosmos› und insofern ambivalent genug, um einerseits unterschiedlichste Religiosität, andererseits Atheismus und Agnostizismus zu fördern.»3
Kosmos und Natur erfuhren durch Jesus Christus, dem Erlöser des Alls (Kol 1,16), keine erkennbare Veränderung. Kann angesichts der menschlichen Niederträchtigkeit sowie der leidgeplagten Natur eine – wenn auch nur anfängliche – Präsenz des endzeitlichen Heils inmitten unserer Wirklichkeit ernsthaft behauptet werden?
Parusie Christi und Offenbarwerdung von Gottes Reich
Wie nahe also ist das Reich Gottes? Es ist eine rein futurische Grösse. Als eine ganz andere, vollkommen neue Heilswirklichkeit kommt es weder stückweise noch durch menschliches Zutun, sondern ist an die Parusie, den Advent Christi gebunden. Was sich jedoch mit Jesu erstem Kommen schon ereignet hat ist, dass wir Menschen aufgrund der Heilsinitiative Jesu Christi mit Gott versöhnt sind und uns die Heilsgabe ewigen Lebens gewährt wird. Diese Heilsgabe darf aber nicht mit der Präsenz des Reiches Gotts verwechselt werden. Auch der Glaubende bleibt in die irdische Zeit eingebunden und allen physischen und moralischen Übeln ausgeliefert, mehr noch: Er potenziert diese selbst weiterhin und forciert damit die schmerzhafte Erfahrung des «Nochnicht».
Das endzeitlich erwartete Gottes Reich kann schwerlich als Teil der sich fortsetzenden irdischen Zeitgeschichte gedacht werden, da es ein grundlegendes Neuwerden dieser mit Sünde und Unrecht überzogenen alten Schöpfung bedeutet, also deren endgültige Aufhebung. «Denn was früher war, ist vergangen» (Offb 21,4). Im Reich Gottes wird es weder Sündenfall noch Satansstürze, weder Lügen noch Dunkelheiten, weder Leid noch Schmerz geben, anders als in der alten, unerlösten Weltzeit, in welcher Jesus seine Botschaft verkündet. Als eine völlig neue Schöpfung darf das Reich Gottes schon gar nicht auf den Menschen eingegrenzt werden, sondern kann nur als Transformation der jetzigen Schöpfung insgesamt gedacht werden. Gerade der Blick auf die nichtmenschliche Schöpfung schliesst ein «Schon jetzt» aus. Gottes Heil ist, wenn überhaupt, nur im Glauben von uns Menschen gegeben. Sein Reich ist noch ausstehend, doch in seinem Kommen so nahe, dass es zumindest auf uns Menschen heilvoll Einfluss nimmt. Doch erst mit dem Jüngsten Tag wird es in seiner Herrlichkeit hervortreten. Nicht von ungefähr endet darum unsere Heilige Schrift mit der Bitte: «Amen. Komm, Herr Jesus!» (Offb 22,20) – und mit dir Gottes Reich.
Christoph Böttigheimer