Giovanni Battista Scalabrini wurde am 8. Juli 1839 nahe Como geboren. Mit nur 36 Jahren zum Bischof von Piacenza geweiht, lebte er in unruhigen Zeiten. Damals, zu Beginn der Industrialisierung, flohen Hunderttausende, getrieben von Hunger und Not, aus Europa in die Neue Welt. Zeitgenossen beschrieben ihn als lebhaften und hoffnungsvollen Brückenbauer, als einen Mann der Tat und des Gebets, einen politischen und zugleich mystischen Menschen. Als Bischof setzte er sich mit einem ganzheitlichen Ansatz für seine Diözese ein (mit fünf Pastoralbesuchen in allen Pfarreien!). Ganz besonders lagen ihm die Notleidenden, die Ausgeschlossenen, die Taubstummen und vor allem die Migrantinnen und Migranten am Herzen, denn «dort, wo die Menschen arbeiten und leiden, dort ist die Kirche».1 Sein Scharfsinn machte ihn zu einer kritischen und unbequemen Stimme seiner Zeit. Unermüdlich drängte er darauf, dass es zu den Pflichten des Staates gehöre, Gesetze für die Ein- und Auswanderung zu schaffen, und zu den Aufgaben der Kirche, eine Migrationspastoral zu entwickeln. Unerschütterlich war dabei sein Vertrauen in Gottes Geist, der die Menschheit über alle Hindernisse hinweg zu einer einzigen Familie zusammenführen will.
Sein rastloses Leben hatte ein Zentrum: Jesus, den menschgewordenen Sohn Gottes, gegenwärtig in der Eucharistie. Er war der Ausgangs- und Endpunkt seines Lebens. Bei ihm schöpfte er Kraft und suchte Rat. So konnte er in jeder Situation der «Communio» dienen und «allen alles werden». Umso wichtiger war für ihn dabei das Gebet, sein «Gespräch mit Gott». «Über jedes Hindernis hinweg formt das Gebet eine Art Stromkreis, der von Mensch zu Mensch geht. Da er die Mitte der Liebe – Gott – durchquert, kann er aus allen Herzen ein einziges, aus allen Familien eine einzige Familie bilden.»2
Als die Krise im Land immer grösser wurde, verkaufte er sogar den Kelch, den er von Papst Pius IX als Geschenk erhalten hatte. Seine Überzeugung war: Wenn ein Armer Hunger hat, dann bevorzugt Christus für die Feier der Eucharistie einen Kelch aus Blech statt aus Gold. Scalabrini lebte für eine Kirche, die «in ihrer Offenheit keine Grenzen kennt», eine pilgernde Kirche, die sich mit den Menschen auf den Weg macht. Am 1. Juni 1905 starb er mit 66 Jahren.
Sehen – sich betreffen lassen – handeln
Immer wieder ging Bischof Scalabrini von konkreten Begegnungen aus, er sah, was um ihn herum geschah, er liess sich berühren und daraufhin handelte er. Millionen Europäer wanderten im 19. Jahrhundert aus – vor allem nach Amerika. Am Bahnhof von Mailand beobachtete er Hunderte bei ihrer Abfahrt nach Genua, die sich dort einschiffen wollten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben: «In Mailand – einige Jahre ist es nun her – wurde ich Zeuge einer Szene, die in meinem Herzen eine grosse Traurigkeit zurückliess. Ich kam am Bahnhof vorbei und sah die grosse Halle, die seitlichen Bogengänge und den Platz vor dem Bahnhof, belagert von drei- bis vierhundert Menschen: arm gekleidet und in verschiedenen Gruppen aufgeteilt. Ihre Gesichter waren von der Sonne gebräunt, von verfrühten Falten zerfurcht, wie nur Entbehrung und Armut sie verursachen können. Auf ihren Gesichtern war der ganze Aufruhr der Gefühle ablesbar, der in diesem Moment ihre Herzen bewegte [...] Es waren Emigranten […] Angesichts dieser so herzzerreissenden Situation stellte ich mir oft die Frage: Wie kann man Abhilfe schaffen ?»3
Scalabrini analysierte die Situation der Migration, erstellte Statistiken, untersuchte Ursachen und Auswirkungen, schrieb Artikel und sensibilisierte die Öffentlichkeit. Er wusste die Zeichen der Zeit zu deuten, und er übernahm persönlich Verantwortung. Sein Einsatz ging weit über seine Diözese hinaus. Er nahm teil an nationalen und internationalen Debatten und wurde zum Ansprechpartner für Regierungen, Päpste und Bischöfe. Zur stützenden Begleitung der Migranten gründete er 1887 die Kongregation der Missionare und 1895 die Schwesternkongregation des Hl. Karl Borromäus. Durch seine Initiative entstand auch 1889 der nach deutschem Vorbild entwickelte Verein «San Raffaele», der sich der Migrantinnen und Migranten in den Abfahrts- und Ankunftshäfen annahm. Kurz vor seinem Tod schrieb er an Papst Pius X. und legte dem Vatikan ein «Memorandum» vor für die Errichtung einer zentralen kirchlichen Organisation zur Koordination der Seelsorge zugunsten aller Auswanderer.
Eine prophetische Vision von Migration
Scalabrini sah in der Migration nicht nur eine grosse soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Frage seiner Zeit, sondern ein Phänomen, das die Menschheit in der Zukunft dauerhaft beschäftigen würde. Mit der Zeit wuchs in ihm das Vertrauen, dass auch die Migration zum Plan Gottes für die Welt beitragen könne. «Freiheit auszuwandern, aber kein Zwang dazu, denn die freiwillige Emigration ist gut, die erzwungene fügt Schaden zu. Ist sie gewählt, so nimmt sie Anteil an einer grossen Vorsehung für das Schicksal der Menschheit, ihrem wirtschaftlichen und ethischen Fortschritt. Sie kann zum sozialen Sicherheitsventil werden, denn sie öffnet der Hoffnung Wege und ab und zu auch Wohlstand den Enterbten [...] Sie erhöht das menschliche Schicksal, indem sie das Bewusstsein von Heimat über die materiellen und politischen Grenzen hinausführt und so dem Menschen die ganze Welt zur Heimat macht».4
Ein wichtiger Aspekt seiner Sichtweise liegt wohl darin, dass er eine Wechselwirkung zwischen Glauben und Kultur bzw. Sprache sah. Alle drei hingen für ihn eng mit dem Begriff «Heimat» zusammen, ein kulturelles Erbe, das es in die neue Gesellschaft zu integrieren gilt, ohne es zu verlieren. Die eigene Herkunft nicht zu verneinen, kulturelle und sprachliche Eigenheiten nicht aufzugeben, durfte aber auch nicht zu einer Abkapselung von der Aufnahmegesellschaft und -kirche führen. So riet er den Migrantinnen und Migranten: «Beachtet die Gepflogenheiten eures Gastlandes, so weit es geht, gleicht euch ihnen an, lernt Englisch, aber vergesst nicht eure Muttersprache …»5 Und seinen Missionaren schrieb er: «Überlegt, wie ihr in ihnen die Liebe zur Heimat wachhalten könnt, aber passt auf, dass ihr in ihnen nicht irgendetwas weckt, das sie von den neuen Mitbürgern trennen oder auf irgendeine Weise von den anderen Gläubigen absondern könnte.»6
Sein Traum lebt weiter
Scalabrini sah bereits damals die Zukunft der Kirche in enger Verbindung mit der Migration. Einerseits ging es für ihn darum, sich einzusetzen, dass die Menschen in der Fremde ihren Glauben nicht verlieren, andererseits sah er auch die Chance für die Ortskirchen, dass die Begegnung mit dem Fremden den Glauben neu beleben kann. Inmitten aller Ereignisse erkannte er die Vorsehung Gottes: «Es wandern die Samen auf den Flügeln des Windes, es wandern die Pflanzen von Kontinent zu Kontinent, getragen von den Strömungen des Wassers, es wandern die Vögel und die Tiere, aber vor allem wandert der Mensch, zusammen mit anderen oder allein, aber immer geführt von der Vorsehung. Sie lenkt das menschliche Schicksal, sie geht ihm voran auch durch Katastrophen hindurch, immer auf das Ziel zu: die Fülle für die Menschen hier auf der Erde und die Ehre Gottes im Himmel.»7
Der Traum Scalabrinis war, dass alle Völker lernen können, als Menschheitsfamilie zu leben, in der die Vielfalt der Sprachen und Kulturen wertgeschätzt wird. Dieser Traum lebt weiter in der Kirche und natürlich in den beiden Kongregationen der Scalabrini-Missionare und -Missionsschwestern. Sie setzen sich heute in fast vierzig Ländern für ein Miteinander in der Verschiedenheit der Kulturen und Sprachen ein. Und auch unser Säkularinstitut der Missionarie Secolari Scalabriniane, das 1961 in Solothurn entstand, lehnt sich an den Geist von Bischof Scalabrini an. Unterwegs mit Migrierten und Geflüchteten unterschiedlichster Herkunft und Kultur leben wir eine «Spiritualität des Exodus» − zusammen mit allen, die sich für diesen Traum einsetzen.
Christiane Lubos