Es gibt ihn immer mal wieder – auch mitten im Sommer –, einen Morgen mit tiefhängender Wolkendecke und kühlen Temperaturen. Er macht der Hitzewelle und dem Schwitzen ein Ende. Menschen fühlen sich erholter, sie atmen auf und schnaufen durch. Die Weitsicht aber und das helle Licht des Sommers fehlen. Die aufsteigende Feuchtigkeit der verregneten Nacht und die verschleierte Sicht erinnern an den Herbst. Da fliegen die Gedanken nicht mehr zum Horizont und darüber hinaus. Die Wolken bilden eine Wand und eine Decke zugleich. Sie laden ein oder zwingen fast, vor Ort zu sein, nach innen zu gehen und im Hier und Jetzt zu verweilen. Und da finden sich auch die Menschen, die den Alltag miteinander teilen: die vertrauten Nachbarn, die an ihrer Gangart erkannt werden. Den wachen Sinnen entgehen auch nicht die bekannten Gerüche, der modrige Geruch im nahen Wald und die duftenden Rosen am Wegrand. Vertraute Geräusche dringen an das Ohr, sei es das Plätschern des Brunnens, das leise Gurgeln des offenen Baches – ab und zu übertönt durch die vorbeifahrenden Autos und das Quietschen des Trams, das sich durch die Kurve quält. Vom Kalender her ist es Sommer, aber die Natur zeigt sich für die Jahreszeit unpässlich herbstlich. Und doch, was eröffnet sich nicht alles dem, der innehält und sich konzentriert.
Die Erfahrung dieser Art von Sommermorgen erinnert mich auch an viele Begegnungen mit Mitbrüdern, die nicht mehr in festen Anstellungen stehen. Einige übernehmen noch Dienste in der Seelsorge, soweit es die Kräfte erlauben. Für andere beschränkt sich ihr priesterlicher Dienst auf die Feier der heiligen Messe, auf das Gebet und Seelsorgegespräche. Wieder andere sind auch dazu nicht mehr fähig. Vielleicht besteht das Opfer dann gerade darin, dieses Nicht-mehr-Können geduldig und unverbittert zu tragen. Wenn die verschiedenen Verpflichtungen es zulassen und uns die coronabedingten Schutzmassnahmen nicht einschränken, freue ich mich auf die Begegnungen mit den Mitbrüdern. Sie sind geprägt von der Konzentration auf das Wesentliche, von der Freude des gemeinsamen Austauschs, von der Bereicherung durch das gegenseitige Geben und Empfangen. Ich sitze in der kleinen Wohnung, im Einzelzimmer einer Alters- oder Pflegeeinrichtung und manchmal auch eines Spitals. Manchmal sehe ich dann in Griffnähe das Stundenbuch, die Bibel oder den theologischen Klassiker. Auch hier Konzentration auf das Wenige und Wichtige.
Sommer heisst aber auch Urlaub geniessen und dazu die gewohnte Umgebung und die tausend Dinge des Alltags verlassen. Je nach geplanter Unternehmung muss das Passende mit. Nicht alles hat Platz im Koffer. Wer sich auf die Reise begibt, muss sich beschränken. Auch mit der Reiselektüre geht es mir ähnlich. Ein Buch liegt bereit, das ich schon lange gerne lesen will. Auch spannend für das Auswählen ist mir das Vorbeischauen am eigenen Bücherregal, als wäre ich in einer Buchhandlung. Ein Titel lockt. Kann ich den Inhalt noch wiedergeben? Ich erinnere mich nicht mehr exakt, weiss aber noch, wie mich das erstmalige Lesen packte. Wieso mich nicht nochmals in etwas vertiefen, das mich schon mal in Bann zog.
Der Sommermorgen, der mich an den Herbst erinnert. Die Mitbrüder, die Tag für Tag mit den Einschränkungen des Alters leben und ringen. Die Urlaubstage und was ich im Groben plane: Nicht alles ist immer möglich. Einschränkungen begleiten unser Leben. Konzentration wird zu einer Herausforderung. Hoffentlich verliere ich sie nicht.
Guido Scherrer