Letztes Jahr wurde der «Earth Overshoot Day» am 2. August erreicht. Bis dahin sind alle Ressourcen verbraucht worden, welche die Erde in einem Jahr hervorbringen kann. Und jedes Jahr begegnen die Menschen ihm einige Tage vorher. Heute findet dieser «Weltüberlastungstag» fast drei Monate früher statt als noch vor 30 Jahren.
Verhältniswahnsinn
Die Gründe für diese Überlastung sind vielfältig: Für Monokulturen wie Palmöl, Mais und Zuckerrohr werden weiterhin riesige Flächen von Wäldern abgeholzt. Die Produktion von Lebensmitteln und das dadurch freigesetzte Kohlendioxid verursachen 30 Prozent aller Umweltbelastungen. Für einen fast unersättlichen Konsumhunger in den Industrienationen werden – wissentlich oder nicht – Vertreibungen lokaler Gemeinschaften in Kauf genommen und für den Abbau von Bodenschätzen immer umweltschädlichere Methoden und auch menschenunwürdige Arbeitsbedingungen zugelassen.
Der Verhältniswahnsinn geht weiter: In der Schweiz wird im Durchschnitt täglich eine Mahlzeit pro Person weggeworfen – darunter Nahrungsmittel, die auf oft verschlungenen Transportstrecken um die halbe Welt gereist sind. 9000 Kilometer jährlich legt zudem laut Bundesamt für Statistik jeder Schweizer selbst mit dem Flugzeug zurück.
Wir leben auf Kosten anderer
Und die Erde ächzt und stöhnt. Wirbelstürme auf den Philippinen, erodierte Böden in Brasilien, schwindender Permafrost und Erdrutsche in der Schweiz, Hungersnöte im Senegal, eine abnehmende Artenvielfalt: Sie alle sind sicht- und hörbarer Ausdruck eines Systems, das über seine eigenen Verhältnisse lebt. Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich hebt hervor: «Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, wir leben über die Verhältnisse anderer.»
1,7 Erden bräuchte die Weltgemeinschaft, wenn die Menschen so weitermachen wie bisher. Würden alle Menschen der Erde leben wie die Menschen in der Schweiz, wären es sogar 3,3 Erden. So leben auch die Schweizer als Teil der Verursacher auf Kosten künftiger Generationen und auf Kosten von Menschen in anderen Erdteilen.
Mit dieser ressourcenintensiven Art des Wirtschaftens und Konsumierens – als Stadt, Gemeinde oder als Individuum – wird ein weiteres Problem auf die Schultern von Menschen gelegt, die in Hunger und Armut leben. Doch haben diese nicht auch eine gesunde und intakte Welt verdient, die ihnen genug Wasser und fruchtbaren Boden zum Leben beschert?
Das Verhalten der Menschen in den Industrienationen verschärft nicht nur die ökologische Krise, sondern auch die soziale. Ein Zusammenhang, auf den auch Papst Franziskus in seiner Um- weltenzyklika «Laudato si’» hinweist.
Solidarität globalisieren
Vom «Verursacherprinzip» ausgehend engagiert sich Fastenopfer deshalb dafür, dass sich auch bei den Menschen hierzulande – bei denjenigen, die diese Krise am meisten vorantreiben – ein Wandel einstellt. Eine wirkliche Verbesserung in ökonomisch armen Ländern ist nur möglich, wenn sich auch Herr und Frau Schweizer verändern. Denn die genannten Probleme lassen sich nur gemeinsam lösen – jeder Mensch muss sich daran, so gut er kann, beteiligen.
Bischof Alvaro Ramazzini, der sich zusammen mit Fastenopfer für die Menschen in Guatemala einsetzt, hat auf den Punkt gebracht, was zu tun ist: «Wir müssen die Solidarität globalisieren.» Eine globale Solidarität beinhaltet weitreichende Konsequenzen und Einschnitte sowohl für das Individuum als auch für Gemeinden, Städte und Nationen.
Diese Worte klingen unangenehm, vielleicht sogar anklagend. Denn sie fordern eine Veränderung des westlichen Lebensstils, appellieren an die Regierungen, aber auch an jeden Menschen. Sie fordern alle auf, an einem grossen gesellschaftlichen Wandel teilzunehmen. Diese Worte muten vielleicht spielverderberisch an – doch sie können ebenso das Gegenteil sein.
Wandel schafft Mehrwert
Ein Wandel kann kreativ sein, weil die Menschen erfinderisch werden müssen, wenn es um die Wiederverwertung von Produkten geht. Er kann genüsslich sein, wenn aus der Vielfalt lokaler Erzeugnisse feine saisonale Mahlzeiten zubereitet werden. Es kann wohltuend sein, sein eigenes Essen anzupflanzen; eines, das nicht um die halbe Welt geflogen wurde. Dies kann den Menschen das Gefühl geben, für sich selber sorgen zu können und damit unabhängiger von Grosskonzernen zu werden. Und es kann befriedigend sein, zu wissen, dass weniger Mikroplastik in die Umwelt (und in die Nahrungskette) gelangen kann, weil auch tatsächlich weniger Plastik verbraucht wird. Ein Wandel schafft zudem Begegnungen, wenn Fahrgemeinschaften gebildet und verschiedene Besitztümer ausgeliehen und getauscht werden.
Viele gute und nachhaltige Bewegungen in der Zivilgesellschaft existieren hierzu bereits. Der Dokumentarfilm «Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen» (franz. Demain) von Mélanie Laurent und Cyril Dion zeigt eindrücklich weltweit Projekte und Initiativen, die alternative ökologische, wirtschaftliche und demokratische Ideen verfolgen.
Zum grossen Wandel leistet auch die Kirche ihren wichtigen Beitrag, weil sie – gerade auch inspiriert von «Laudato si’» – Menschen zusammenbringen kann, die sich gegen Armut, soziale Ungerechtigkeit und Umweltprobleme engagieren. In ihrer Ökumenischen Kampagne zeigen Fastenopfer und Brot für alle innovative Bewegungen in der Schweiz und fordern auf, sich zusammenzuschliessen und als Gemeinschaft Teil des grossen Wandels zu sein.
Rahmenbedingungen ändern
Nur an das Individuum zu appellieren, wäre vermessen. Auch die Akteure in Politik und Wirtschaft sind gefordert. Fastenopfer setzt sich unter anderem in seinen internationalen Programmen («Rohstoffe und Menschenrechte», «Klima und Energie», «Agrarindustrie und die Sicherung der Lebensgrundlagen» und «Alternatives Wirtschaften») dafür ein, dass sich auch auf nationaler und internationaler Ebene die Rahmenbedingungen verändern; wenn es etwa in der Konzernverantwortungsinitiative darum geht, Schweizer Unternehmen (oder deren Schwesterkonzerne) gesetzlich dazu zu verpflichten, auch im Ausland sorgfältig zu wirtschaften.
Leben im globalen Dorf
Ungeachtet, auf welcher Ebene ein solcher Wandel stattfindet: Er kann sich gut anfühlen, weil er zeigt: Der Mensch ist handlungsfähig. Er muss nicht gelähmt zuschauen, wie der «Earth Overshoot Day» jedes Jahr im Kalender nach vorne rückt. Zum Wandel können alle beitragen. Und er kann sich gut anfühlen, weil er benachteiligte Menschen berücksichtigt; weil er Hoffnung und Gerechtigkeit schafft, ein Leben in Würde für alle. Eine zuversichtliche Perspektive zu haben, ist doch eigentlich alles andere als spielverderberisch. Ein Wandel im Lebensstil kann lustvoll passieren, geerdet und verbunden mit anderen Menschen, direkt, in den umliegenden Gemeinschaften, aber auch mit jenen, denen ich vielleicht niemals begegnen werde. Die Welt ist wirtschaftlich zum globalen Dorf geworden. Es muss möglich werden, auch als Menschen – als soziale und solidarische Wesen – etwas mehr zusammenzurücken.
Madlaina Lippuner