«Denn er hat sein Volk besucht» (Lk 1,68)

Die weihnachtliche Bahnhofstrasse in Zürich. (Bild: famigros.migros.ch)

 

Nirgendwo als in unserem Leben strömt, von morgens bis abends, zwischen den Ufern unserer Häuser, Strassen, Begegnungen, das Wort, in dem Gott wohnen will.

Nirgendwo als in unserem Geist, der uns durch unsere Arbeit, Mühsal, Freude, Liebe hindurch auferbaut, will Gottes Wort wohnen.

Der Satz des Herrn, den wir dem Evangelium während der Frühmesse entrissen haben oder während der Fahrt in der Metro oder zwischen zwei Haushaltsarbeiten oder abends im Bett: Er darf uns genauso wenig verlassen, wie uns unser Leben oder unser Geist verlässt. Dieser Satz will befruchten, verwandeln, erneuern: den Händedruck, den wir zu geben haben, unser Bemühen, gute Arbeit zu leisten; die Art, wie wir die Menschen anblicken, die uns begegnen, wie wir gegen unsere Müdigkeit ankämpfen, mit einem Schmerzanfall umgehen, in einer Freude erblühen. Dieser Satz will überall dort zu Hause sein, wo wir zu Hause sind. Er will überall dort wir selbst sein, wo wir wir selbst sind.

Das Wort des Herrn fordert unsere Achtung; wenn es in unserem Alltag Pausen gibt, so will es ein wenig oder auch viel davon in Beschlag nehmen. Es verlangt von uns, dass sich unser Geist ausschliesslich mit ihm beschäftigt, und will, dass er ihm alles opfert, was weniger wert ist. Es will, dass man überhaupt über ihm betet und dabei alles vergisst, was im Vergleich zu ihm so wenig zählt.

Wenn unser Tag so vollgestopft ist, dass Pausen unmöglich sind, wenn unsere Kinder, der Mann, das Haus, die Arbeit fast alles beanspruchen, dann fordert es so viel Glaube von uns und so viel Achtung, dass wir wissen: Seine göttliche Kraft kann ihm stets Raum verschaffen. Dann sehen wir es aufleuchten, während wir eine Strasse entlanggehen, unsere Arbeit verrichten, Gemüse schälen, auf eine telefonische Verbindung warten, unsere Böden kehren; sehen es aufblitzen zwischen zwei Bemerkungen eines Mitmenschen, zwischen zwei Briefen, die zu schreiben sind, beim Aufwachen und beim Einschlafen.

Denn das Wort hat seinen Platz gefunden: ein armes und warmes Menschenherz, das ihm Herberge bietet.

Madeleine Delbrêl

 

Quelle: Delbrêl, Madeleine, Gott einen Ort sichern. Texte, Gedichte, Gebete. Herausgegeben von Annette Schleinzer, Ostfildern 22003, 43–44.