Der letzte Weg

Auch wenn sich unsere Beerdigungskultur wandelt, bleibt der Tod eine unveränderbare Realität unseres Daseins. Richard Lehner zieht Vergleiche zwischen gestern und heute.

Wir leben in einer Gesellschaft, die einem ständigen Wandel unterworfen ist. Werte, die seit Jahrhunderten überliefert wurden, werden heute in Frage gestellt und müssen neu begründet werden. Das gilt auch für Werte, die der Glaube vorgibt. Dieser Wertewandel hat auch einen Wandel der Praxis des Glaubens zur Folge. Auch wenn der Inhalt des Glaubens unverändert bleibt, die Art und Weise, wie wir den Glauben leben und feiern, kann sich verändern.

Auch unsere Beerdigungskultur wandelt sich. Unverändert bleibt aber der Tod eine Realität unseres Daseins. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein Lied des Berner Liedermachers Mani Matter ein: «D Strass, won i drann wone». Matter lobt in diesem Text zwar die Tatsache, dass er noch leben kann, und trotzdem erinnert er daran, dass das Leben eine Einbahnstrasse ist, die irgendwann auf dem Friedhof endet. Jeder heute Lebende wird dereinst im «tannigen Kleid» zum Friedhof getragen.

Ich selber bin vor fünfzig Jahren in einem kleinen Bergdorf im Oberwallis aufgewachsen. Damals kannten die Menschen einander. Es gab keine Fremden und keine Unbekannten. Wenn da ein Mann oder eine Frau verstarb, war das ganze Dorf betroffen und trauerte mit. Tote wurden zu Hause aufgebahrt und wer konnte, ging und stimmte ein in das gemeinsame Gebet. Am Tag der Beerdigung wurde der Sarg in die Mitte des Kirchplatzes gestellt. Der Pfarrer und wir Ministranten kamen aus der Kirche und geleiteten den verstorbenen Mitmenschen in die Kirche. Nach der Feier folgte der gemeinsame Gang auf den Friedhof. Buchstäblich begleitete die Gemeinschaft der Lebenden die Toten auf ihrem letzten Weg.

Auch im Wallis hat sich heute vieles verändert. Wir leben nicht in einer heilen Welt und wir wollen nicht in musealen Strukturen unseren Alltag gestalten. Das gilt auch für das kirchliche Leben in Pfarreien und Gemeinschaften. Was aber zumindest in kleinen Dörfern und Pfarreien erhalten geblieben ist, ist die Anteilnahme beim Tod eines Menschen. Wer kann, nimmt an der Beerdigung teil und bringt damit zum Ausdruck, dass wir Menschen in einer Gemeinschaft leben und miteinander verbunden sind. Wenn jemand stirbt, stirbt nicht nur ein Vater oder eine Mutter, ein Partner oder eine Partnerin. Es gilt Abschied zu nehmen von einem Menschen, der mit mir die Schulbank gedrückt hat, der neben mir im Vereinslokal einer Musikgesellschaft gesessen hat oder der Mitglied der Feuerwehr war. Menschen leben in einer nachbarschaftlichen Form nebeneinander, sie haben miteinander zu tun und der Tod eines Menschen ist jedes Mal auch ein Verlust für die Gemeinschaft.

Corona hat das Leben bis in die kleinsten Bergdörfer verändert. In Todesanzeigen ist heute zu lesen, dass eine Abschiedsfeier im engsten Kreis der Familie stattfindet. Das musste zwangsläufig so sein. Für die Angehörigen einer verstorbenen Person stellte sich die Frage, wer denn zum engsten Familienkreis gehört. Menschen aus dem erweiterten Umfeld durften nicht teilnehmen und mussten ausgeladen werden. Nun versucht unsere Gesellschaft wieder zurück zur Normalität zu kommen. Ich hoffe sehr, dass das auch für unsere Beerdigungskultur gilt. Wir sind keine Individuen, die ihr Leben in einem engen Umfeld verbringen. Und deshalb ist das Abschiednehmen für unsere Gesellschaft zentral. Der Tod soll nicht verdrängt werden und irgendwo in der Anonymität stattfinden. Der Tod gehört zum Leben. Der Friedhof ist ein Ort, zu dem wir hingehen, an dem wir uns an liebe Menschen erinnern und der uns daran erinnert, dass auch unser letzter Weg an einen solchen Ort führen wird.

Richard Lehner


Richard Lehner

Richard Lehner (Jg. 1964) hatte seine Priesterweihe am 10. Juni 1990, war Vikar in Glis, dann Direktor des Bildungshauses St. Jodern in Visp und anschliessend Pfarrer in Ried-Brig und Termen. Seit 2010 ist er Generalvikar mit besonderer Verantwortung für den deutschsprachigen Teil des Bistums Sitten und Domherr der Kathedrale von Sitten.