Nachdem der Demutsbegriff in den letzten Jahrzehnten nicht immer Konjunktur hatte, teilweise mit Einflusslosigkeit, Kriechertum und Schwäche identifiziert wurde und mitunter geräuschlos von der Benutzeroberfläche verschwunden war, scheint er neuerdings wieder verstärkt positiv konnotiert zu werden. Selbst unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei Demut von grossem Nutzen, gilt einigen gar als Führungskompetenz für eine neue Unternehmenskultur. Die Demut, ohne die in altkirchlicher Zeit weder Gottesbezug noch Weltdeutung denkbar gewesen wären, tritt aus ihrem verschämten Versteck hervor, schüttelt manches Zerrbild ab und erhält vielleicht Gelegenheit, einzelne Seiten ihres frühchristlichen Verständnisses zu offenbaren. Als einzigartiges Ideal unterscheidet sie die Kultur der frühen Kirche von der ihrer antiken Umwelt.
Christliche Neubewertung
Die antike Ethik bietet ein abwertendes Verständnis von Demut. Das Wortfeld, das in christlichem Vokabular demütige Menschen und die Demut bezeichnete, hatte in der Sprache der paganen Antike keine günstige Bedeutung. Vielmehr wurde es für die gesellschaftlich Niedrigen und die Niedergesinnten verwendet, stand für Schwäche, Banalität und Kleinmut. Demut (humilitas) widersprach dem Selbst- und Wertgefühl des Bürgers. Dem stellt sich die jüdisch-christliche Auffassung entgegen. Aufgrund ihres Schöpfungs- und Erwählungsglaubens nehmen Gläubige des Volkes Israel zu Jahwe eine demütige Haltung ein (etwa Gen 18,27). Das Neue Testament spricht ganz zentral von der Demut Jesu Christi. Im Dienst an Gott und den Menschen verzichtet der Sohn Gottes freiwillig darauf, in göttlicher Macht und Herrlichkeit zu erscheinen. Um das Verlorene zu retten, wird er Mensch und stirbt am Kreuz. Christi Demut bringt die Erlösung. Von Christinnen und Christen wird dieselbe Gesinnung verlangt (vgl. Phil 2,5), eine Haltung des Selbstverzichts aus Liebe, nicht der Selbstverachtung. Diese Einstellung soll der Wahrheit menschlichen Daseins entsprechen: Der Mensch beansprucht nicht in höherem Mass Ehre, als sie ihm aufgrund seiner Stellung vor Gott und den Mitmenschen zukommt. Auch christliche Autoren der ersten Jahrhunderte heben sich radikal vom negativen Demutsverständnis ihrer Umgebung ab. In den Schriften der Kirchenväter avanciert die Demut zur christlichen Haupttugend. Augustinus, der sie nicht nur zum Fundament aller Tugenden macht, sondern darüber hinaus bewusst mit dem Erlösungsgeschehen zusammenfügt, nimmt dabei eine besondere Position ein.
Demutsgrundsätze bei Augustinus
Bei Augustinus ist Demut eng mit Selbsterkenntnis verbunden. «Du, Mensch, erkenne, dass du ein Mensch bist. Deine ganze Demut besteht darin, dass du dich erkennst» (Io. eu. tr. 25,6). Wie der delphischen Einladung «Erkenne dich selbst» ist der augustinischen Aufforderung zur eigenen Kognition die Ermahnung inhärent, dass der Mensch nicht Gott ist. Demut als Selbsterkenntnis umfasst bei Augustinus vier Grundsätze: Ein Mensch soll seine Kreatürlichkeit erkennen, ebenso seine Sündhaftigkeit. Das Bekenntnis, das eine demütige Haltung voraussetzt, und die Selbsterkenntnis stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander; Demut und Selbsterkenntnis sind bereits Gnadengeschenke.
Zum ersten Grundsatz: Das hinter dem delphischen Spruch stehende «Erkenne, dass du kein Gott bist» ist noch weit von der Aufforderung entfernt, sich als Geschöpf wahrzunehmen. Im Christentum – so auch bei Augustinus – ist die menschliche Geschöpflichkeit zentral; die Lehre von der Erschaffung des Menschen nach dem Bild Gottes geht über das typische Verständnis der Antike hinaus. Die Schöpfung im christlichen Sinne stellt sich gegen dualistische Vorstellungen und den neuplatonischen Emanationsbegriff. Der gefallene Mensch neigt dazu, sich selbst gehören, autokratisch und ohne höhere Kontrolle sein zu wollen. Stattdessen ist er demütig, wenn er Gott als seinen Schöpfer erkennt und annimmt. «Was sollst du, Mensch, tun [...]? Wende dich dir zu; ein Geschöpf bist du, erkenne den Schöpfer an» (Io. eu. tr. 29,8). Demgemäss hat der Mensch seine Position in der abgestuften Ordnung alles Geschaffenen zu beachten. Wer nicht Gott als Schöpfer und sich selbst als Kreatur akzeptiert, sündigt; er soll sich sammeln und als Sünder wahrnehmen.
Zweitens: Augustinus treibt die Frage nach dem Ursprung des Bösen um. Zur ersten Sünde und zur Trennung von Gott kommt es aufgrund freier Wahl. Hochmütig und ungehorsam hat Adam in der Versuchung versagt, seine Sünde hat den menschlichen Willen gebrochen. Um eine gute Intention auszubilden, ist der Mensch abhängig von göttlicher Gnade. Wünsche und Sehnsüchte locken ihn. Derjenige, der die geschaffenen Dinge dem Schöpfer vorzieht und sie geniesst, anstatt sie lediglich zu gebrauchen, muss sich als Sünder erkennen. «Die Wahrheit ist nicht in dir, wenn du dich nicht so Sünder nennst, dass du auch erkennst, es zu sein. [...] Wie kann die Demut da sein, wo die Falschheit regiert?» (s. 181,5).
Drittens: Bekenntnis und Selbsterkenntnis stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Auf der einen Seite ist das Sündenbekenntnis ein Mittel der Selbsterkenntnis. «Erkenne dich als Sünder. [...] Das Bekenntnis der Sünden lädt den Arzt ein zu heilen» (s. 137,4). Nur durch Mitteilen und Bekennen von Fehlern und Sünden gegenüber Christus ist Heilung möglich. Auf der anderen Seite setzt das Bekenntnis eine demütige Haltung voraus. Bezogen auf das lukanische Gleichnis von der Rückkehr des verlorenen Sohnes (Lk 15,21) formuliert Augustinus: «Der Unglückliche erlangt durch die Demut das Glück; und er zeigt sich dessen würdig, indem er sich als unwürdig bekennt» (en. Ps. 18,2,3). Das Bekenntnis lobt denjenigen, vor dem es getan wird, denn es beweist ihm gegenüber Vertrauen. Sowohl das Gott lobpreisende Bekenntnis (confessio laudis) als auch das Sündenbekenntnis (confessio peccatorum) erkennen den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf an.
Zum Vierten verdeutlicht Augustinus, dass die Demut für den Empfang der Gnade disponiert (vgl. exp. Gal. 25). Demut kann umgekehrt nur empfangen werden, wenn die Gnade es erlaubt, ist also ausdrücklich «durch göttliche Gnade geschenkt» (ciu. 1, praef.). Erst Gnade ermöglicht demütiges Handeln, erfolgreiche Selbsterkenntnis ist Gottes Geschenk. «Das also ist die erste Gnade der Wohltat Gottes, uns zum Bekenntnis der Schwäche zu bringen» (en. Ps. 38,18).
Aspekte augustinischer Demutstheologie
In der Demut sieht Augustinus ein besonderes Kennzeichen des Christentums: Christus gibt das Beispiel göttlicher Demut. «Wie erhaben bist du, und doch nimmst du Wohnung bei denen, die von Herzen demütig sind» (conf. 11,41). Der augustinische Demutsbegriff basiert auf der Christologie. Christus, Gott und Mensch zugleich, erniedrigt sich, um die Menschen zu retten, und wird zum Mittler. Erlösung ist nur durch den einen Mittler zwischen Gott und der gefallenen Menschheit möglich. Er rettet die Menschen einzig und allein dank seiner Demut. Der demütige Christus erwartet in seiner Nachfolge demütige Menschen. Er ist das Vorbild der Demut par excellence. Nur Demut macht Gerechtigkeit und Liebe unter Menschen möglich. Der demütige Christus ist jedoch nicht nur Modell; seine Erniedrigung wirkt auch sakramental und befreit von Sünde. Gerade als demütiger Erlöser ist Christus Sakrament. Die vier oben skizzierten Grundsätze zeigen die sakramentale Gegenwart Christi im Menschen. Sie wirken als Mysterien und erzeugen Selbsterkenntnis. Für die augustinische Anthropologie ist Demut entscheidend. Bereits die Ursünde richtet sich gegen die Demut, und deshalb ist der Mensch der Anmassung und Selbstsucht überlassen. Sein Stolz hindert ihn daran, Gott und den Nächsten zu lieben. Allein ist er nicht in der Lage, sich selbst zu erkennen und zur Ordnung der Dinge zurückzukehren – nur dank des demütigen Christus. Einzig mit Demut erkennt sich der Mensch als von Gott geschaffen und sieht sich darüber hinaus nicht nur allgemein, sondern auch persönlich als Sünder. Christus ermöglicht Selbsterkenntnis und Erlösung, schenkt sozusagen doppelte Gnade. Während Hochmut in menschlicher Verantwortung liegt, ist die augustinische Demut nicht von Menschen gemacht, sondern von Gott gegeben. Auf diese Weise wird sie fundamental für Augustins Gnadentheologie, steht sie in Wechselbeziehung mit der Gnade.
Augustinische Ermunterung zum «Demutsweg»
Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen, dass er sich biografisch zunächst nicht zum christlichen Glauben hatte bekehren können, weil er die Demut Christi nicht gekannt habe. «Ich hatte nämlich meinen Gott, den demütigen Jesus, nicht demütig erfasst» (conf. 7,24). Ihm sei nicht bewusst gewesen, was die Schwachheit Christi die Menschen hätte lehren sollen. Dann sei ihm einsichtig geworden, dass der Mensch seine Erlösung durch Jesus Christus finde, der den «Weg der Demut» (conf. 7,13) gezeigt hat. Augustinus möchte zu diesem «Demutsweg, der von Christus kommt» (en. Ps. 31,2,18), ermuntern und mitnehmen. Dieser Weg führt zur Selbsterkenntnis, somit zur Wahrnehmung eigener Stärken und Schwächen sowie zum Respektieren persönlicher Grenzen. Er hilft, die richtige Stellung in der Weltordnung zu finden, anderen Geschöpfen wertschätzend zu begegnen und dem Schöpfungsauftrag gemäss verantwortungsvoll zu handeln. Er entlastet vom Streben nach falscher, rein selbst zu erreichender Perfektion und verdeutlicht die Sündhaftigkeit eigenen Tuns. Er führt ebenso ins Bekenntnis der Fehler wie in den Lobpreis Gottes. Er lässt bewusst aus der Gnade leben und den umfassenden Geschenkcharakter des Lebens erkennen. «Was hast du, das du nicht empfangen hättest?» (1 Kor 4,7). Nicht zuletzt führt der Weg der Demut zur Liebe, denn sie «baut auf der Grundlage der Demut auf, die Christus Jesus ist» (conf. 7,26).
Notker Baumann