Humanae vitae ist die tiefschwarze katholische Seite von 1968. Das mythische oder zumindest nachträglich mythisierte Jahr jugendlichen Revolutionsgeistes, der sich auch im Aufbegehren gegen tradierte Normen in sexualibus, besser bekannt als sexuelle Revolution, manifestierte, ist zugleich das Jahr der «Pillenenzyklika». Ein Jubiläum, das es zu feiern gilt? Oder besser schamhaft nach tiefem Seufzen verschweigen, wie selbst mancher hochrangige Kleriker es tut?
Humanae vitae ist ein Zeitdokument, das den beginnenden und mit diesem Dokument verlorenen Kampf gegen den neuen Zeitgeist einer sich entfaltenden Moderne widerspiegelt. Als kirchliches, verbindliches Dokument hat es der institutionellen Rechtslogik der Kirche folgend darüber hinaus noch immer das Zeug dazu, zum Prüfstein der Rechtgläubigkeit zu werden, auch wenn es hierzu gottlob deutlich weniger verwendet wird als noch in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Welche Erkenntnisse lassen sich abseits von Zeitgeschichte und binnenkirchlichem Disziplinierungsinstrument aus Humanae vitae für das Heute oder gar Morgen einer theologischen Rede über Sexualität gewinnen? Der folgende Beitrag wagt einen Ausblick hierzu mit drei Fragestellungen:
- Was sagt Humanae vitae über Geschlechterrollenbilder, und lässt sich daraus die aktuelle Stilisierung des Genderbegriffs als eines neuen ideologischen Lieblingsgegners ableiten?
- Ist die #MeToo-Debatte ein später Widerhall jenes Bildes von Sexualität, das Humanae vitae zeichnet?
- Was lässt sich 50 Jahre nach Humanae vitae über Autonomie und Verantwortung der Geschlechter sagen?
Wandelbarkeit von Geschlechterrollen
Auf den ersten Blick ist Humanae vitae ein Lehrschreiben gegen die künstliche Empfängnisverhütung. Was sich dahinter verbirgt, wird bei gründlicher Lektüre rasch deutlich: das Verhältnis der Geschlechter. Frauen, so der Grundtenor, sind schützenswerte Wesen, bedroht durch männliches Begehren. Die klerikale Autorität hat sich selbst die Rolle des ritterlichen Beschützers zugeteilt, der andere männliche Autoritäten, die am Ende des Dokuments alle angesprochen werden, folgen sollen. Frauen sind wertvoller Gegenstand männlichen Diskurses. Das Offensichtlichste, nämlich dass Frauen die Pille nehmen wollen, um ihre Sexualität ebenso folgenlos ausleben zu können wie Männer, wird nirgends gesagt, weil es nicht gedacht werden darf: Frauen, die handeln wie Männer, die begehren wie Männer und – das Undenkbarste – Frauen, die keine (vielfachen) Mütter werden wollen.
Die Angst vor dem Verlust einer Ordnung mit klaren Rollenverteilungen, in der Männer das Sagen haben, wie sie aus der Enzyklika von 1968 spricht, ist seit damals stetig gewachsen. Wenn 2016 in Amoris laetitia von der Genderideologie als Bedrohung der Gesellschaft zu lesen ist1, gelangt hier zur giftigen Blüte, was im Schatten von Humanae vitae gewachsen ist: die Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich auf die historische Wandelbarkeit von Geschlechterrollen und vor allem auf die umfassende Gleichberechtigung von Frauen einzulassen.
Dass diese neue «Unordnung» der Geschlechter auch für Männer die Chance böte, ihre Rolle als triebgesteuerter Verführer oder autoritärer Beschützer, wie sie ihnen Humanae vitae zuweist, zu verlassen und vielfältige Begegnungen auf Augenhöhe mit Frauen zu ermöglichen, wird (bewusst?) übersehen. Wer sich ein verurteilendes Lehrschreiben über Gender wünscht, sollte indes das Schicksal von Humanae vitae und die Folgen für die katholische Kirche nicht aus den Augen verlieren.
Ende der sexuellen Utopie
Weibliche Verhütung, so ein zentrales Argument in dem Schreiben aus 1968, würde Männer dazu verführen, jegliche Zurückhaltung aufzugeben und ihrem Trieb freien Lauf zu lassen.2 Hat die Kirche womöglich Jahrzehnte vor #MeToo die wahre Natur des Mannes und ihre Gefahren für die Frau erkannt? Ist nicht, was Humanae vitae als Schreckensszenario an die Wand malt, seitdem vielfach eingetreten? Und sind die Frauen gar selbst schuld, weil sie sich aus dem geschützten Raum männlicher Obhut hinaus in die freie Wildbahn enthemmter Sexualität gewagt haben?
In der Tat scheint es, als wäre #MeToo eine zynische Konsequenz der naiven Vorstellung freier, gleichberechtigter Sexualität von 1968, angereichert mit einer nicht weniger zynischen Kapitalisierung des weiblichen Körpers als Tauschobjekt gegen jene einflussreichen Positionen, die nach wie vor Männern vorbehalten sind. Die Forderungen und Reaktionen diverser säkularer Institutionen erinnern ein wenig an altbekannte kirchliche Verhaltensmuster: normieren, regulieren, verbieten, überwachen und strafen.
Warum klingen die wohlmeinenden Anweisungen universitärer Gleichbehandlungsstellen, bei Gesprächen zwischen Personen verschiedenen Geschlechts unbedingt Abstand zu wahren und die Türe geöffnet zu lassen, wie der Widerhall alter Verhaltenskodizes vorkonziliarer Priesterseminare? Vielleicht, weil beide ein allzu simples Bild von Sexualität und die Fantasie der Beherrschbarkeit des Eros haben. Die Abgründigkeit und Ambivalenz menschlicher Sexualität, wie sie ein Augustinus noch vor Augen (und am eigenen Leib erfahren) hatte, wurde im 19. und 20. Jahrhundert in immer detailreicheren Normierungen der Sexualmoral zum rein männlichen Trieb, den es durch Fortpflanzungsverpflichtung zu kanalisieren galt.
Umgekehrt war die Imagination der Revolutionäre von 1968 einer freien Sexualität ohne Hierarchien und Zwänge eine Utopie, deren Ende #MeToo zurecht eingeläutet hat. Nichts stellt die gerne auch von Theologinnen beschworene Ambiguitätstoleranz mehr auf die Probe als die Sexualität. Detailreiche Verbote zum Schutz der Frauen waren in Humanae vitae ebenso wirkungslos wie verhängnisvoll für die Institution, wie es «codes of conduct» als festgeschriebene Verhaltensnormen für den künftigen Umgang der Geschlechter im öffentlichen Leben sein werden. Wer heute über Sexualität reden und ernst genommen werden will, muss über Freiheit und Verantwortung, Beziehung und Individualität reden. Womit wir bei der dritten Frage wären.
Mehr Eigenverantwortung statt Verbote
Genau das, was Humanae vitae offensichtlich am meisten fürchtet, nämlich das in seiner Sexualität autonome Subjekt, egal ob männlich oder weiblich, ist der Schlüssel zu einer theologischen Anthropologie. Die in Folge von 1968 und entsprechender medizinischer und vor allem gesellschaftlicher Entwicklungen möglich gewordene Autonomie für Frauen hat tiefgreifende Folgen – wenn auch andere, als in der Enzyklika befürchtete. Autonomie bedeutet Eigenverantwortung: Verantwortung dafür, wann frau schwanger wird, Verantwortung für den eigenen Körper, das eigene Begehren und dessen Konsequenzen, für demütigende oder destruktive Erfahrungen von Sexualität, in die man oder frau nicht durch starre Regeln von Staat und Kirche gezwungen wurde wie anno dazumal, sondern von der vermeintlichen Freiheit des grenzenlosen Marktes der erotischen Gefühle mit Mitteln wie Tinder und Co. (Dating-App) überredet. Und dies bedeutet damit automatisch Verantwortung gegenüber dem oder der anderen, die sich ebenfalls freiwillig in diese sexuelle Beziehung begeben hat, und sei es für eine Nacht.
Wie schwer diese Verantwortung für das eigene Begehren und seine Abgründe wiegt und wie gross die Versuchung ist, sie an Kontrollinstanzen abzugeben, zeigt die #MeToo-Debatte. Es scheint leichter, dem Begehren zu widerstehen, wenn die Bürotür offen ist (wie damals in Humanae vitae, wenn die Angst vor einer Schwangerschaft zu gross ist), als bei geschlossener Tür (oder funktionierender Verhütung) der eigenen situativen Reflexionsfähigkeit zu vertrauen. Die Grenze von moralisch und unmoralisch kann aber im Bereich der Sexualität gerade ob ihrer Abgründigkeit und Ambivalenz nicht mit dem Lineal des Verbots gezogen werden, sondern nur aus der konsequenten Erkenntnis und Anerkennung der Autonomie der Person gegenüber.
Eine zeitgemässe theologische Rede über Sexualität liesse sich in der Umkehrung der alten Kurzfassung katholischer Moral «Wenn es Spass macht, muss es Sünde sein» finden: «Wenn es einem/einer von beiden keinen Spass macht, ist es Sünde.»
Theresia Heimerl