SKZ: Statistiken und Studien in Deutschland sprechen im Blick auf die Zukunft von einem massiven Einbruch der Mitgliederzahlen. In 40 Jahren könnte die Kirche nur noch halb so viele Mitglieder haben wie heute. Wie sehen die Prognosen für die Schweiz aus?
Martin Gehrer: Die Mitgliederzahlen nehmen tatsächlich ab. In den letzten Jahren traten in unserem Kanton jeweils rund ein Prozent der Katholiken aus der Kirche aus. Tendenz steigend. Die höchsten Austrittszahlen verzeichnen wir bei den 25- bis 30-Jährigen, also jenen Mitgliedern, die zum ersten Mal Steuern zahlen müssen. Mit dem Kirchenaustritt lassen sich Steuern sparen. Der Betrag ist zwar in den meisten Fällen gering, dennoch ist offenbar der ökonomische Anreiz für etliche Kirchenmitglieder Austrittsmotivation genug. Andere haben einfach Mühe mit der katholischen Kirche als solcher, namentlich mit «Rom» und seinem Beharren auf dem Zölibat, dem Ausschluss von Frauen von Ämtern und Funktionen und vor allem auch mit den immer wieder bekannt werdenden Verfehlungen von Priestern. Es erstaunt mich deshalb nicht, dass immer mehr Menschen der Kirche – und ich meine damit die Institution – den Rücken kehren. Sie müssen deswegen nicht unreligiös sein, aber sie orientieren sich anders und suchen Halt und Orientierung nicht mehr zwingend in der Kirche.
Und welche Konsequenzen hat diese Entwicklung für die staatskirchenrechtlichen Körperschaften?
Ich erwarte, dass diese Entwicklung die katholische Kirche von einer Volkskirche immer mehr zu einer «Bekennerkirche» werden lässt. Zwar nehmen nach wie vor viele Katholiken das breite Engagement der Kirche wahr und befürworten dieses. Dennoch entfernen sich viele mehr und mehr von der Institution. Schon heute bilden wohl nur noch etwa 10 bis 20 Prozent der Mitglieder den eigentlichen Kern einer Kirchge- meinde. Auf die staatskirchenrechtlichen Körperschaften kommen neue Herausforderungen zu. Die finanziellen Mittel werden knapper, die Kirchen leerer und viele davon wird es nicht mehr brauchen. Die Bedeutung der öffentlich-rechtlich anerkannten Landeskirchen nimmt ab und politisch wird der Ruf nach strikter Trennung von Kirche und Staat wohl lauter werden.
Wie begegnet der katholische Konfessionsteil des Kantons St. Gallen heute dieser Entwicklung, um für die nahe und auch fernere Zukunft gerüstet zu sein?
Wir versuchen, den Menschen das gesellschaftliche Engagement der Kirchen besser bekannt zu machen. Wir zeigen auf, wie die Kirchensteuern verwaltet und wie sie verwendet werden. Unsere junge Kampagne «Kirchensteuern sei Dank» (www.kirchensteuern-sei-dank.ch) zeigt unsere vielfältigen Aufgaben im Bereich des kirchlichen Lebens, der Diakonie, der Bildung und der Kultur auf. Wir investieren in die Jugend, unterstützen Jungwacht und Blauring sowie katholische Schulen und führen selber eine christliche Sekundar- und Realschule katholischer Prägung. Wir bilden Kirchenmusiker an der diözesanen Musikschule aus. Wir bewahren und vermitteln das kulturelle und kirchliche Erbe des Klosters St. Gallen, sind Träger der weltberühmten Stiftsbibliothek. Vor allem setzen wir Akzente in der Diakonie. So haben wir kürzlich einen Verpflichtungskredit gesprochen für die Unterstützung der stationären Sterbehospize im Kanton St. Gallen. Wir helfen damit, eine Lücke zu schliessen, die der Staat noch immer nicht geschlossen hat.
Wo sehen Sie Sparpotenzial und Optimierungsmöglichkeiten?
Wir kommen um das Sparen und um Optimierungen nicht herum. Mit dem neuen Finanzausgleich haben wir gute Voraussetzungen geschaffen. Fehlanreize werden dadurch verhindert. Optimierungen sind auch bei den Kirchgemeinden unumgänglich. Einzelne Gemeinden können ihre Gremien nicht mehr wunschgemäss evaluieren, andere gelangen sonst an ihre Grenzen. Die Strukturen müssen und werden diesen Aspekten Rechnung tragen. Es wird zwangsläufig zu Vereinigungen von Kirchgemeinden kommen, nicht «von oben» verordnet, sondern «von unten», von der Basis her erwirkt und autonom gestaltet.
Interview: Maria Hässig