Die Rechte des Kindes in der Kirche

 Für die Rechte des Kindes gibt es ein eigenes Menschenrechtsabkommen, das seit mehr als 25 Jahren internationale Geltung hat. Auch die römisch-katholische Weltkirche ist diesem Abkommen beigetreten, um die Familien zu stärken und das Engagement der politisch Verantwortlichen für Bildung, Gesundheit und soziale Fürsorge zu unterstützen. In letzter Zeit ist aber auch ans Licht gekommen, wie viele Kinder in kirchlichen Einrichtungen und von der Hand kirchlicher Mitarbeiter gequält und misshandelt worden sind. Deshalb klagt man die Kirche vor dem modernen Weltgewissen in Gestalt der menschenrechtlichen Überwachungsausschüsse an, das Kinderrechtsabkommen dient dabei auch als eine Art Gewissensspiegel.

Der Kinderarzt Janusz Korczak

Der jüdisch-polnische Arzt und Erzieher Janusz Korczak (1878/9–1942), als Henryk Goldszmit in Warschau geboren, wählte einen ungewöhnlichen Weg, um die ihm als Erzieher anvertrauten, aber auch viele andere Kinder in seiner näheren und weiteren Umgebung mit dem Gedanken an die Rechte des Kindes anzufreunden. Solche Individualrechte, wie sie normalerweise in feierlich proklamierten Verfassungen oder parlamentarischen Gesetzen stehen, vielleicht noch in internationalen Abkommen, tauchen hier in einem Märchen auf, in den Erzählungen vom «König Hänschen» (wie der elf- und zwölfjährige Protagonist in der deutschen Übersetzung heisst). Dort heisst es: «Da will ich nun König der Kinder sein, denkt Hänschen, aber von den kleinen Kindern weiss ich gar nichts. Ich habe vergessen, wie das war, als ich klein war. Sicher haben auch die Erwachsenen alles vergessen und wollen den Kindern darum keine Rechte geben.»1

Der als Opfer der Nazi-Tyrannei gestorbene Arzt, Erzieher und Literat gilt als der Inspirator der modernen Kinderrechtsbewegung, die mit der Verabschiedung der UNO-Kinderrechtskonvention durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im November 1989 einen internationalen Höhepunkt erreichte. Dieses «Übereinkommen über die Rechte des Kindes»2 besteht aus einer Präambel und 41 kurzen Artikeln, die in der Sprache aller modernen Menschenrechtsdokumente fundamentale Rechte und Freiheitsverbürgungen für junge Menschen unter 18 Jahren zum Ausdruck bringen. Ein zweiter Teil des Abkommens schafft die rechtlichen Voraussetzungen für das Tätigwerden des bei den Vereinten Nationen in Genf angesiedelten Überwachungsausschusses, der in der englischen Arbeitssprache «CRC-Committee» heisst. Als eines der neun modernen Menschenrechtsabkommen hat die Kinderrechtskonvention in mancherlei Hinsicht eine herausragende Position inne: Sie ist die innerhalb kürzester Zeit von den meisten Staaten ratifizierte Konvention, und tatsächlich gibt es keine andere, der so viele Mitgliedstaaten beigetreten sind.

In diesem internationalen Abkommen sieht man heute, mehr als 25 Jahre nach dem Inkrafttreten, den globalen Konsens darüber verkörpert, wie junge Menschen in ihrer Personalität zu würdigen und situationsbezogen zu behandeln sind.

Kirche und Weltgewissen

Die Vertreter des «Holy See» (Heiliger Stuhl), wie das Oberhaupt der römisch-katholischen Weltkirche im diplomatischen Verkehr heisst, haben nicht nur über zehn Jahre hin engagiert am Wortlaut der Abkommensartikel mitgefeilt; das anerkannte Völkerrechtssubjekt «Holy See» hat das zur Zeichnung aufgelegte Schlussdokument auch als eines der Ersten ratifiziert, ihm also zu einer rechtlichen Bindungswirkung verholfen. Im Januar 2014 erreichte diese Kooperation mit den Gremien der Vereinten Nationen indes eine krisenhafte Zuspitzung: Der Apostolische Nuntius fand sich in einer tagelang währenden harten Auseinandersetzung über die traurige Menschenrechtsbilanz seines Dienstherren wieder. Gleich zwei der in Genf tagenden Überwachungsauschüsse behandelten ausführlich, was im allgemeinen als «Clerical Sexual Abuse» thematisiert worden war, nämlich jene massenhaften Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs durch Kleriker, wie sie aus der ganzen Welt berichtet worden sind. Einerseits hatten klerikale und andere kirchliche Mitarbeiter ihre Vertrauenspositionen in Schulen, Heimen und Pfarreien ausgenützt, um grausamste Gewalttaten an Minderjährigen zu begehen.

Andererseits hatten Aufsichts- und Kontrollorgane auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie, bis hin eben zu den obersten kurialen Instanzen, eklatant versagt mit der Folge, dass die identifizierten Täter nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern vielmehr dem Zugriff der staatlichen Strafverfolgungsorgane bewusst entzogen worden sind. Den traumatisierten Kindern und Jugendlichen war man über Jahre hin mit Unglauben, Verachtung, haltlosen Schuldzuschreibungen oder Lächerlichmachen begegnet. Im Austausch gegen streng bewehrte Verschwiegenheitsverpflichtungen konnten einige der Opfer schliesslich mehr oder weniger substanzielle Ersatzleistungen in Geld erstreiten.

Dieses komplexe Geschehen rund um «Clerical Sexual Abuse» konnte angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen nicht einfach unbeachtet bleiben; nicht im Vatikan, nicht bei den betroffenen europäischen und aussereuropäischen Staatsregierungen und sicher nicht in Genf bei den dort ansässigen Organen der Vereinten Nationen. Das Zusammentreffen von Vertretern der römisch-katholischen Weltkirche mit den Stimmen des Weltgewissens im Genfer Überwachungsausschuss bedeutete zunächst jedoch nicht mehr als ein Rede-und-Antwort-Stehen im juristischen Jargon eines anglo-amerikanisch gefärbten Rechtsdenkens. Den roten Faden für die Erörterung bildete dabei eben die Kinderrechtskonvention mit ihren gleichheits- und würdebasierten Schutz- und Beistandsverpflichtungen, mit ihren freiheitsorientierten Gewährleistungen und ihren Ansprüchen auf Teilhabe an den sozialstaatlichen Errungenschaften. Mit spektakulären Verhaftungen, Verurteilungen oder Freisprüchen war an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt kaum zu rechnen.

Forschung im Kirchenrecht

Am Luzerner Kirchenrechtslehrstuhl (Prof. Dr. Adrian Loretan) ist seit dem Jahr 2012 ein internationales Forschungsprojekt im Gange, das sich in diesen Zusammenhang fügt. Einerseits erfolgt hier eine sorgfältige Lektüre der staatlicherseits veranlassten Missbrauchsberichte, die vor allem in Irland erstellt worden sind und mehrere tausend Druckseiten entsetzlicher Detailschilderungen aus weiter zurückliegender, aber auch aus jüngster Vergangenheit enthalten. Diese Zeugenaussagen und Berichte waren nämlich auch Gegenstand der jüngsten Erörterungen im Überwachungsausschuss gewesen. Andererseits, und damit ist der Bogen zur Kinderrechtskonvention geschlagen, kann der mit einem universalen Geltungsanspruch promulgierte (förmlich mit Geltungskraft versehene) «Codex Iuris Canonici» (kirchliches Gesetzbuch) nicht einfach stehenbleiben, wie er seit der Neuveröffentlichung im Jahre 1983 steht.

Aus zwei rechtlichen Quellen speist sich ein Energiestrom, der zu massiven Veränderungen am traditionellen Rechtsverständnis führen muss: Einerseits eben die ganz klar zutage liegende Tatsache, dass der Heilige Stuhl schon vor mehr als 25 Jahren eine konkrete Verpflichtung zur Umsetzung der internationalen Kinderrechte eingegangen war; andererseits steht der ernstzunehmende Vorwurf im Raum, dass kanonische Rechtspraktiken einen äusserst unheilvollen Beitrag, nicht etwa zur Verhinderung, sondern vielmehr zur Verschlimmerung der skandalträchtigen Entwicklung aus der jüngsten Vergangenheit gespielt hatten. Vor allem die Missbrauchsberichte aus Irland, die sich sorgfältig mit der kanonischen Rechtsmaterie auseinandersetzten, lassen das diplomatische Ränkespiel des früheren, nach Dublin entsandten Apostolischen Nuntius in einem trüben Licht erscheinen. Aber auch die kirchliche Doppelmoral, mit derÜbertretungen durch Laien zur sofortigen Anzeige und Entlassung führten, während priesterliche Vergewaltiger jahrelang gedeckt worden sind, wirft ganz grundsätzliche Rechtsfragen auf.

Kinder haben Rechte

Die biblische Botschaft ist eindeutig: Kindsein ist kein Fluch, sondern ein Segen; ein Segen für die Eltern des Kindes, für die Familien mit den Geschwistern, Verwandten und allen Angehörigen, für die Kirche vor Ort und für die kirchlichen Gemeinschaften in der ganzen Welt. Ja mehr noch: Kindsein ist das Eigentliche, das von Gott für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten Gemeinte; in der Vollendung werden alle Kinder sein, Kinder des einen Gottes. Das Hören und Verstehen dieser Botschaft muss Konsequenzen haben für den täglichen Umgang mit den in diese Welt geborenen Kindern, und diese Kinder dürfen nicht rechtlos bleiben, nicht in den Staaten und Kulturen dieser Erde und ganz sicher nicht in der Kirche. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist kein religiöses, sondern ein Rechtsdokument, so sehr sie sich der Rede von der «allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde» bedient.

Mit einigen Garantien wagt sie sich sogar über die allgemein anerkannten Menschenrechte hinaus; es sind die vier als tragend aufgefassten Prinzipien vom diskriminierungsfreien Umgang, der auch alle Formen der Diskriminierung verbietet, die mit bestimmten Eigenschaften der Herkunftsfamilie bemäntelt werden (Artikel 2). Ferner geniessen die Interessen des Kindes einen generellen, unter bestimmten Umständen sogar einen absoluten Vorrang (Artikel 3); alle Rechte des Kindes müssen so ausgelegt werden, dass sie nicht nur dessen Leben, sondern vielmehr noch das Überleben und alle kindlichen Entwicklungschancen begünstigen (Artikel 6) und, last but not least, hat jedes Kind einen Anspruch darauf, persönlich angehört und seiner Reife entsprechend in alle wichtigen Entscheidungen miteinbezogen zu werden (Artikel 12).

Wie man diese zugegebenermassen sehr grosszügig formulierten Rechtsgarantien in den nationalen oder eben auch kirchlichen Kontext übersetzen muss, steht natürlich nicht im internationalen Menschenrechtsabkommen, für das ja zunächst einmal der globale Konsens errungen werden musste. Dafür gibt es juristisch-politisch konzipierte Handreichungen, die von verschiedenen Ausschüssen für eine Vielzahl von Kontexten vorformuliert worden sind und die man als verantwortlicher Rechtsgestalter oder -anwender daher auch nicht immer auf Anhieb verstehen kann. Bedauerlicherweise bezieht der Vatikan bislang eine Minimalposition, was seine völkerrechtliche Umsetzungsverpflichtung angeht: Sie würde sich als Rechtsverpflichtung nur auf den Staat der Vatikanstadt beziehen.

Und was soll mit den mehr als fünfzig Millionen Kindern und Jugendlichen weltweit geschehen, die in katholischen Schulen betreut, ausgebildet und erzogen werden, möchte man dieser vatikanischen Minimalposition entgegenhalten? Gerade für das im internationalen Vergleich hoch bedeutsame kirchliche Bildungswesen wird man vielmehr immer neu nach Formen vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen suchen, bisweilen auch um tragbare Kompromisse ringen müssen. Entscheidend ist nur, dass man dabei nicht aus dem Auge verliert, wem der Aufwand schliesslich zugutekommen soll: den Rechten des Kindes, wie sie auf polnische Initiative hin und unter dem jahrzehntelangen Vorsitz eines polnischen Wissenschaftlers in die Sprache eines internationalen Menschenrechtsabkommens gefasst worden waren.

Ein neues Menschenrecht?

Paradigmatisch befasst sich das genannte Forschungsprojekt aus Luzern hierzu mit der Entwicklung eines Rechtes auf gewaltfreie Erziehung, welches im Rang einer menschenrechtlichen Garantie auch im Kirchenrecht anerkannt werden sollte. Mit publizierten Ergebnissen dieser neuartigen Entwicklung im Grenzbereich zwischen moderner Menschenrechtsbewegung und traditionellem Kirchenrecht ist im kommenden Jahr zu rechnen.

 

 1 Janusz Korczak: König Hänschen auf der einsamen Insel (dt. Übers.). Göttingen 1971.

2 Deutsche Übersetzung (CH): AS 1998 2055; BBl 1994 V 1 (SR 0.107).

Franz M. Wittmann

Franz Wittmann HDipCL (NUI) deutscher Rechtsanwalt mit eigener Praxis, wissenschaftlicher Publizist ist PhD-Kandidat der Law Faculty am University College Cork/Irland.
Forschungsmitarbeiter 2012/2013 der Universität Luzern (SNF-Projektför-derung Lehrstuhl Prof. Loretan).