In den letzten Jahren wurden unsägliche Zustände im Erziehungswesen aufgedeckt, v. a. auch im kirchlichen Bereich. Dabei hat man sich stark auf sexuelle Missbräuche konzentriert. Je mehr genaue Studien erscheinen, desto mehr erkennt man die sozialen, wirtschaftlichen, mentalitätsgeprägten Umstände, die solche Entwicklungen auslösten und verstärkten. Ein neues Buch befasst sich mit der Anstalt St. Iddazell in Fischingen 1879–1978, das weit über den konkreten kleinen Bereich hinaus Beachtung verdient.1
Von Kloster zu Kloster
1848 hob der Kanton Thurgau das seit dem 12. Jahrhundert bestehende Benediktinerkloster nach wechselvoller Geschichte auf. «1879 kaufte der Verein St. Iddazell Kloster und Liegenschaften und gründete darin die Waisenanstalt St. Iddazell, die sich in der Folge zum Kinder- und Schülerheim entwickelte» (HLS 4, 842). 1977 wurde parallel dazu wieder ein Benediktinerpriorat errichtet und der Aufgabenbereich erweitert: Neben religiös-kirchlicher Bildungsarbeit steht das Haus auch für Kurse anderer Kreise offen. Anlass zu dieser hier anzuzeigenden gründlichen Studie waren massive Vorwürfe gegen das vorwiegend geistliche Personal (Priester und Klosterfrauen). Das Gesamtergebnis deckt sich weitgehend mit der vergleichbaren Studie über die Verhältnisse im Kanton Luzern.2 Beide Bücher sind die Frucht sorgfältiger, umfassender Untersuchungen, deren Ergebnisse vorher schon in anderer Form publiziert worden waren.
Sorgfältiger Raster zur Erfassung der Vielfalt
Dem Heim stand ein geistlicher Direktor vor, bis 1943 ein Weltpriester, dann Mönche des Klosters Engelberg. Ihm standen zur Durchführung aller nötigen Arbeiten seit 1879 Menzinger Schwestern bei, die 1957 im offenen Krach auszogen und durch Schwestern des Benediktinerinnenklosters Melchtal abgelöst wurden (bis 1999). Dazu kommt je nach Bedarf Laienpersonal. Um des gewaltigen Stoffes, in vielen Archiven verstaut und in vielen Interviews erhoben, Meister zu werden, wird ein aufschlussreicher Raster verwendet. Nach dem Überblick über die Geschichte des Heims werden u. a. genau die Finanzen untersucht, die «Hierarchien, Kompetenzen und Konflikte» aufgedeckt, dann der Heimalltag geschildert; überprüft werden genau «Aufsicht, Kontrolle und Verantwortlichkeiten»; in ausführlicheren Interviews erinnern sich Ehemalige. Wohltuend ist die ausgewogene Art der Autoren, alle Quellen kritisch zu beruteilen: weder Berichte über frühere Erfahrungen noch erzählte Erinnerungen noch gar Korrespondenzen widerspiegeln «die Wirklichkeit, wie sie war», sondern geben nur deren subjektive Interpretation. Aber sorgfältige Vergleiche erlauben grosse Tendenzen, Schwergewichte, Gutes und Böses sorgfältig abzuwägen.
Ernüchternde Bilanz
Es genügt, die Zwischentitel dieses Schlussabschnitts (S. 211–219) zu zitieren: Religiöse Prägung – knappe Geldmittel – ausbeuterische Arbeitsverhältnisse – starre Hierarchien – grosser Handlungsspielraum des Personals – emotionale Kälte und psychische Misshandlungen – Strafen und physische Gewalt – sexuelle Übergriffe – unterschiedliche Behandlungsweisen – Abgeschiedenheit und Abgeschlossenheit – Anpassung und Widerstand der Zöglinge – Einbezug von Experten – Versagen der Aufsicht – fehlende Kontrolle. Die Zöglinge, häufig schon aus schwierigen Verhältnissen stammend, waren gewiss nicht leicht zu betreuen, aber das Personal war auch nur im Geringsten vorbereitet; die Laienlehrer, die für den Unterricht beigezogen waren, entsprachen häufig auch nicht den Anforderungen, weder fachlich noch charakterlich. Dazu war die Arbeitsüberlastung enorm, religiös verbrämt. Gewiss, es werden viele gute Erfahrungen berichtet, es gab Kinder, die sich geborgen fühlten. Aber die Gesamtatmosphäre war bedrückend, unausgeglichen, und bisweilen als terroristisch empfunden.
Das «katholische Milieu»
Mit Recht wird dieser Einzelfall Fischingen in einen grösseren Zusammenhang gestellt, in das so genannte «katholische Milieu». Was leider fehlt, ist der Aufweis des Zusammenhangs mit dem gesamten zivilen Milieu der damaligen Zeit. Man weiss ja mittlerweilen, dass die geschilderten Misstände nicht allein der katholischen Kirche anzulasten sind. Hie und da ist immerhin vom «gesellschaftlichen Konsens» die Rede: vieles Üble war damals schlicht und einfach weitgehend üblich (die Prügelstrafe z. B.). Die Schilderung des «katholischen Milieus» in diesem Buch ist leider etwas einseitig. In einem Abschnitt, in dem «Die Werthaltung des ultramontanen Katholizismus» skizziert wird, ist die Rede von einer «antimodernistischen Werthaltung mit fundamentalistischen Zügen», und als Beleg werden Urs Altermatt, Katholizismus und Moderne, S. 345–349, und aus dem HLS 7, 132–135, der Beitrag von Franz Xaver Bischof über «Katholizimus» zitiert, aber nicht richtig ausgeschöpft. Mit Altermatt, S. 350–354, kann man von drei Modernismuskrisen sprechen. Aber er spricht nicht von «fundamentalistischen Zügen», sondern von einem «integralistischen Denken», das den weltlichen Bereich nach kirchlichen Vorstellungen regeln wollte. Auch sonst kommt mir der betreffende Abschnitt im Fischinger- Buch schlagwortartig verkürzt vor;3 schade, denn das Buch ist vortrefflich dokumentiert, spannend zu lesen und gut illustriert. Hingegen ist energisch darauf hinzuweisen, dass die «Strukturen der Vertuschung»4 heute noch gründlicher durchleuchtet und abgebaut werden müssen, wir leiden noch an Altlasten, die in einigen Pontifikaten aufgebürdet wurden. Was lernen wir aus solchen Studien für heute?