In den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts herrschte eine weitverbreitete Skepsis angesichts der personalen Geistwesen, die in der Heiligen Schrift als «Engel» erscheinen, als «Boten» Gottes. Diese Haltung ist verwurzelt in der Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts, die dazu neigte, alle Vorgänge in der Welt auf natürliche materielle Faktoren zurückzuführen. Typisch dafür ist eine Aussage des evangelischen Theologen Rudolf Bultmann in seinem 1943 gehaltenen Vortrag über «Neues Testament und Mythologie»: «Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.»1 Der Basler reformierte Theologe Karl Barth, der diese Haltung überwinden wollte, sprach kritisch von einer «Angelologie des Achselzuckens»2. Im Hintergrund steht hier die Philosophie des Deismus, der jedes unmittelbare Einwirken Gottes in die von ihm geschaffene Welt leugnet. Damit fallen nicht nur die ausserordentlichen Gunsterweise der göttlichen Vorsehung in den Wundern und im Wirken der Gnade, sondern auch der Dienst der Engel. Diese Einstellung ist freilich für Theologinnen und Theologen höchst widersprüchlich: Wie sollte man an einen personalen Gott glauben, der die Welt aus dem Nichts ins Leben gerufen hat, wenn dieser Gott nicht in der Lage ist, beispielsweise den Leichnam Jesu aus dem Grab zu erwecken und himmlische Boten zu senden?
Ablehnung und Verfremdung
Eine Haltung, die im liberalen Flügel der protestantischen Theologie schon zu Zeiten David Friedrich Schleiermachers (1768–1836) üblich war, hat sich seit Mitte der 60er-Jahre auch im katholischen Bereich ausgebreitet. Es gab und gibt Theologinnen und Theologen, welche die Existenz der Engel infrage stellen oder sie ablehnen. Diese Entwicklung ist an sich überraschend, denn im katholischen Bereich gibt es schon institutionell die Prozesse der Selig- und Heiligsprechungen, für die aussergewöhnliche Zeugnisse, vor allem die Wunder, eine wichtige Rolle spielen und durch vereidigte Zeugenaussagen gut dokumentiert sind.3 Das gilt auch für die Erscheinungen von Engeln.4 Das Problem ist hier freilich die Vermittlung dieses reichen Erfahrungsschatzes an die akademische Theologie, in der das Zeugnis der Heiligen nur sehr selten vorkommt.
Neben dem einen Extrem, der «Angelologie des Achselzuckens», gibt es auch das andere, nämlich das einer Verfremdung durch esoterische Fantastereien, visionäre Erfahrungen mit einem problematischen Hintergrund und offenkundigen Okkultismus.5 Im säkularen Bereich kann diese «verwilderte Angelologie» sogar ohne Gott auskommen.
Philosophische und biblische Argumente
Dass es über den menschlichen Bereich hinaus personale Geistwesen gibt, ist eine menschliche Grundüberzeugung, die sich mehr oder weniger in allen Religionen und Kulturen findet. Einsetzen kann hier bereits die Philosophie, wie es exemplarisch der heilige Thomas von Aquin versucht: Da Gott die Welt durch seine Vernunft und seinen Willen erschafft, braucht es auch eine Entsprechung in den Geschöpfen. Vernunftbegabte Geschöpfe gehören also zur Vollkommenheit des Kosmos. Während der Mensch aus Seele und Leib besteht, sind die Engel als reine Geistwesen Gott besonders ähnlich.6 Ausgehen können wir auch von unserem eigenen menschlichen Sein: Wenn wir uns selbst im Leib mit einem geistigen Selbstbewusstsein erfahren, dann ist es auch möglich, dass Gott Geistwesen geschaffen hat ohne Leib. Neben metaphysischen Überlegungen spielt auch die konkrete Erfahrung mit guten und bösen Geistwesen eine wichtige Rolle.
Philosophische und erfahrungsmässige Gründe treten freilich zurück angesichts der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Schon Augustinus konnte darum schreiben: «Dass es Engel gibt, wissen wir aus dem Glauben.»7 Das Leben Jesu ist umgeben vom Dienst der Engel. Er selbst betont, dass die Engel (gerade auch) der Kleinen stets das Angesichts des himmlischen Vaters schauen (vgl. Mt 18,10). Schon damals gab es Gegner des Glaubens an die Engel: die griechischen Materialisten und die jüdischen Sadduzäer, die auch die Auferstehung der Toten ablehnten (vgl. Apg 23,8). Jesus wendet sich gegen die Sadduzäer bezüglich der Auferstehung (Mk 12,18–27). Während für viele Rabbiner die Dämonen «neutrale» Wesen darstellen, sieht Jesus sie eindeutig auf der Seite Satans (eines gefallenen Engels) und zeigt damit als Mensch gewordener Sohn Gottes eine klare Einordnung der Geisterwelt.8
Zehn Thesen für eine Neuentdeckung
Über die Bedeutung der Engel für den christlichen Glauben habe ich vor einigen Jahren zehn Thesen aufgestellt, die hier im Telegrammstil angedeutet seien und vielleicht ein Zeugnis geben können für die Neuentdeckung der Boten Gottes:9
These 1: Die Engel vermitteln uns ein Gespür für die Grösse und Herrlichkeit Gottes (wie sie etwa die Propheten Jesaja und Ezechiel bei ihrer Berufung erfahren haben).
These 2: Die Engel unterstreichen die Wirklichkeit eines persönlichen Gottes (der sich in seinen Boten bekundet).
These 3: Die Engel sind eine Hilfe für den lebendigen und konkreten Glauben an Gott. (Gegen den Deismus, der Gott von der Welt abkoppelt, und den Pantheismus, der Göttliches und Weltliches miteinander vermischt.)
These 4: Die Engel richten den Menschen auf sein letztes Ziel hin, die Anbetung Gottes in der seligen Schau.
These 5: Die Engel weisen auf unser künftiges Geschick, ihnen ähnlich zu sein.
These 6: Die Engel helfen uns, das sexuelle Leben richtig einzuordnen. (Verheissung Jesu, in der Auferstehung «wie die Engel» zu sein, auch wenn der von Gott geschaffene menschliche Leib im verklärten Zustand bewahrt bleibt.)
These 7: Der Glaube an die Engel lässt uns den Reichtum der geistigen Welt erahnen. (Es gibt nicht nur die sich geschichtlich entwickelnde materielle Wirklichkeit.)
These 8: Die Engel deuten auf die Grösse der Schöpfung Gottes (die eine anthropozentrische Verengung überragt).
These 9: Die Engel zeigen, wie wichtig die Mitwirkung der Geschöpfe im Heilsprozess ist (in dem Gott nicht alleine handelt).
These 10: Die Engel lassen uns das Leben als Dienst vor Gott verstehen. (Sie sind gesandt «zum Dienst», Hebr 1,14.)
Manfred Hauke