Von Gott zu Menschen Gesandte – so lässt sich formal umschreiben, was Engel vom biblischen Ursprung her sind. Die Funktion schlägt sich in der Bezeichnung nieder. Die hebräischen Texte des Alten Testaments sprechen von «mal’ach», was wörtlich «Gesandter/Bote» bedeutet. Die griechischen Texte des Neuen Testaments übertragen «mal’ach» mit «angelos» ins Griechische, und von «angelos» abgeleitet spricht man im Deutschen von Engeln. Anders als im Hebräischen und Griechischen entstand damit eine Bezeichnung, die nur noch für Himmelswesen steht und auf Menschen höchstens sinnbildlich übertragen werden kann («mein Engel» usw.).
Die wörtliche Bedeutung «Bote» erklärt, warum z. B. die Serafim und Cherubim, die Gott umgeben und damit eine andere Funktion haben, biblisch nicht als Engel gelten. Erst spätere Engellehren kategorisieren alle Himmelswesen neben Gott als Engel. Zudem wird damit nachvollziehbar, warum die Bibel bei Engeln nicht einfach von Boten, sondern meist von Boten Gottes oder – mit Gottes Eigennamen verbunden – von Boten Jahwes spricht. Im Neuen Testament, wo Gottes Name durch den Titel «Herr/Gebieter» («kyrios») ersetzt erscheint, ist analog vom Boten des Herrn die Rede. Bibelübersetzungen, die von Engeln statt von Boten reden, verdoppeln insofern die Engelhaftigkeit dieser Gestalten.
Tun und reden im Namen Gottes
Wenn Engel handeln und reden, tun sie dies entsprechend in Gottes Namen – bisweilen so sehr, dass sprachlich unklar ist, ob der Bote spricht oder Gott als Auftraggeber. Einzigartig ist die Johannesoffenbarung, die sich als letztes Buch der Bibel ganz als Schrift eines Himmelsboten ausgibt – aber nicht als Schrift eines Boten Gottes, sondern eines Boten Jesu Christi. Auch dieser wird als Gotteswort-Vermittler qualifiziert, rückt aber dadurch, dass er es war, der Johannes den Boten gesandt hat (vgl. Offb 1,1; 22,16), in eine Position, in der er Gott ganz nahe und über den Engeln steht. Engel stehen hier also nicht zuletzt im Dienst christologischer Reflexion.
Der erste Engel, von dem die Bibel erzählt, ist der Jahwe-Bote, welcher der schwangeren Sklavin Hagar auf ihrer Flucht aus dem Haushalt von Abram und Sarai begegnet. Zwar schickt er sie wieder zurück, verheisst ihr aber reiche Nachkommenschaft. In der Begegnung merkt sie, dass dessen Auftraggeber ein Ohr für sie hat. «Gott hört» heisst denn auch ihr Sohn: Ismael. Im Neuen Testament veranlasst der erste Engel, der bei Matthäus auftaucht, Josef im Traum dazu, sich nicht von seiner schwangeren Verlobten zu trennen. Um die Ankündigung besonderer Kinder geht es bekanntlich auch bei Lukas, wo Gabriel zuerst Zacharias, danach Maria begegnet. Gott ist mit den Menschen unterwegs, signalisieren hier die göttlichen Gestalten.
Himmlische Boten treten schliesslich in prophetischen Schauungen prominent auf, so u. a. Michael («Wer ist wie Gott?») im Danielbuch. Als Fürst oder Gebieter über andere Engel steht er Gott besonders nahe, was ihn zu einem der Erzengel werden liess. In der Offenbarung bezwingt dieser Wer-Ist-Wie-Gott-Engel einen Drachen, der eine schwangere Frau und dann auch ihr Neugeborenes bedroht. «Niemand ist so gross wie Gott!», gibt er damit zur Antwort, mag eine Gegenmacht noch so gewaltvoll daherkommen, Menschen plagen und sich als Übermacht aufspielen.
Noch ohne Flügel
In unserer Kultur stellt man sich Engel als Wesen mit Flügeln vor. Diese Vorstellung hat sich erst nachbiblisch verbreitet. Sie hilft, Gottesgesandte auch in Bildern eindeutig als solche kenntlich zu machen. Bildhaft verweisen die Flügel auf die himmlische Herkunft, auf Gott als Auftraggeber. Gerade bei der berühmten Verkündigungsszene im Lukas-Evangelium wird es damit aber schwierig, alle die schönen Abbildungen eines geflügelten Gabriels wegzudenken und den Text so zu verstehen, wie er eigentlich dasteht: Ein Bote in Männergestalt besucht Maria. Sie findet sich also nicht nur mit einer unglaublichen Botschaft konfrontiert, sondern muss zugleich einordnen, wer dieser Mann ist. Ob sie ihm vertrauen kann, wenn er sich als Gesandter Gottes ausgibt? Die Hirten auf dem Feld haben es später einfacher: Um den Boten, der zu ihnen tritt (Lk 2,9), erstrahlte als Zeichen seiner göttlichen Sendung Glanz bzw. die Herrlichkeit des Herrn («doxa kyriou»), bevor ihn dann noch die Erscheinung eines ganzen Himmelsheeres als göttlichen Gesandten beglaubigt.
Mehrdeutige Menschengestaltigkeit
Mehrere Bibeltexte unterstreichen, dass man sich Engel in ihrer irdischen Erscheinungsform menschengestaltig vorgestellt hat. Am bekanntesten dürfte die Szene vom Besuch der drei Männer bei Abraham und Sara sein. Die Unklarheit über die himmlische Natur spielt z. B. bei Simsons Geburtserzählung eine Rolle (Ri 13). Beide Elternteile scheinen dort darüber hinaus nicht recht akzeptieren zu wollen, dass sich der Gottesbote mit seiner Ankündigung, dass die Frau schwanger werden und einen Retter gebären wird, an die Frau statt an ihren Mann wendet. Der Bote muss zweimal erscheinen und seine Botschaft wiederholen, bevor die Gottesbegegnung als solche akzeptiert ist. Lukas nimmt die Kritik an diesem Vorbehalt ernst, indem er Maria nach der Begegnung mit Gabriel nicht zu Josef, sondern direkt zu Elisabet eilen lässt. Dass Rafael («Gott heilt») als Mensch auftritt, bildet im Tobitbuch eine der Pointen (Tob 5–12). Seine eigentliche Natur wird denen, die Heilung erfahren haben, erst am Ende enthüllt.
Himmlische Männlichkeit als Stolperstein
In der Tat erscheinen die in Menschengestalt auftretenden Gottesgesandten in der Bibel stets als Männer, was damalige soziale Rollen spiegelt. In hellenistisch-römischer Zeit dürften allerdings gewisse philosophische Strömungen, die eine dualistische Unterscheidung zwischen Körper und Geist propagierten, begünstigt haben, dass gewisse Kreise den Himmel immer stärker als ewig-männlich qualifiziert zu denken begannen. Weiblichkeit bedeutete Reproduktion, auf die nur sterbliche Wesen angewiesen waren. Nur Menschen(männer) benötigten Frauen, nicht aber die Engel(smänner) als ewige, himmlische Gestalten. Damit jedenfalls erklärt die älteste Erzählung von einem Engelfall die Ursünde gewisser Engel, die dann auch zu einem moralischen Fall der Menschen geführt haben soll: Gegen die göttliche Schöpfungsordnung setzten diese ihren Plan um, sich Menschenfrauen zu nehmen und mit ihnen Kinder zu zeugen.
Besagte Erzählung ist im sogenannten Wächterbuch1 überliefert, das aus dem 3. Jh. v. Chr. stammt. Anspielungen im Neuen Testament lassen auf eine weite Verbreitung schliessen. Weil das Wächterbuch nur Teil der äthiopisch-orthodoxen Bibel geworden ist und weil man in römischer Zeit den grossen Sündenfall immer mehr mit der Paradieserzählung zu verbinden begann, blieb es in unseren Breitengraden eher unbekannt. Das Wächterbuch erzählt davon, wie Engel selbst Gefahr laufen können, sich männlicher zu fühlen, als sie sind. Drastisch beschreibt es die Folgen der Frauennahme. Einerseits sollen aus der Verbindung gefrässige, zerstörerische Riesenkinder zur Welt gekommen sein. Andererseits erwies sich als fatal, dass die Engel den Menschen zugleich Wissen mitteilten, das Gott diesen nicht zugedacht hatte. Mit diesem Know-how waren die Menschen versucht, mehr Macht (Waffen), mehr Wissen (Magie) oder auch mehr Schönheit (Schmuck und Schminke) zu erlangen, als man von Gott geschenkt bekam. Krieg und Unfrieden kamen in die Welt.
Die Engel, die ihre Hybris, mehr sein und haben zu wollen, auf die irdischen Männer und Frauen übertrugen, enden im Wächterbuch als Gefangene, die das künftige Gottesgericht zur Rechenschaft ziehen wird. Ihren Opfern und denen, die der Versuchung widerstehen, die Vermessenheit der Engel nachzuahmen, wird die Chance auf einen Neuanfang versprochen.
Das Wächterbuch problematisiert nicht, dass es den Himmel männlich-ewig denkt. Umso brisanter erscheint, dass es den männlichen Zug der himmlischen Sphäre zum Stolperstein der Engel erhebt. Dass dies für irdische Männer nicht schmeichelhaft war, mochte mit dazu geführt haben, dass spätere Texte die Menschenfrauen als Verführerinnen der Engel darzustellen begannen. Die Engel waren jetzt nicht mehr Täter, sondern Opfer weiblicher Verführungskunst. Fatalerweise wurde dies in der Kirche zum vorherrschenden Frauenbild. Es ermöglichte, Engel und Männer auf Kosten der Frauen in eine grosse Nähe zu rücken.
Zurück zur Bibel könnte heissen, über die Erzählungen von Gottesgesandten die Zuwendung Gottes zu allen Menschen zu erahnen, Gottesbegegnungen in zwischenmenschlichen Begegnungen nicht per se auszuschliessen und sich davon überraschen zu lassen, was Gott mit einem noch so alles vorhat.
Veronika Bachmann