Hans Küngs Plädoyer zugunsten der Sterbehilfe
An der Persönlichkeit und den Schriften Hans Küngs scheiden sich die Geister: Euphorischer Zustimmung auf der einen Seite steht skeptische Ablehnung auf der anderen Seite gegenüber, Zwischentöne sind kaum zu vernehmen. Die Veröffentlichung der Erinnerungen in drei umfangreichen Bänden, kürzlich abgeschlossen mit dem Titel «Erlebte Menschlichkeit»,1 hat dieses Phänomen noch einmal verstärkt. Während in positiven Reaktionen das Lebenswerk eines grossen Theologen gewürdigt wird, beziehen sich skeptische Stellungnahmen insbesondere auf das Schlusskapitel des dritten Bandes, überschrieben mit «Am Abend des Lebens» (S. 597–657), in welchem der Autor zu Gunsten der aktiven Sterbehilfe plädiert und deren Inanspruchnahme auch für sich selbst nicht ausschliesst. In diesem zwölften und letzten Kapitel geht es um die Abschiedlichkeit, das bevorstehende Sterben und, für Hans Küng seit Jahrzehnten ein zentrales Anliegen, den Glauben an ein ewiges Leben. Eigentlich war dieser als Schlussteil angelegt, wäre mit der Wahl von Papst Franziskus nicht noch unerwartet ein neues Kapitel im Leben des Autors aufgeschlagen worden. Von diesem berichtet Hans Küng ausführlich in einem hoffnungsvollen Epilog (S. 658–703), den der inzwischen 85-jährige Schweizer Theologe mit einem grossen Dankgebet beendet.
«Ich lasse mich nicht gehen»
Am Schluss des 12. Kapitels sind drei Sätze zu lesen, die den Autor besser charakterisieren als viele ausführliche Kommentare. Er schreibt: «Ich kapituliere nicht vor Krankheit und Gebrechlichkeit, kämpfe vielmehr gegen sie an, mit Medikamenten, physischen Übungen, geistigen Anstrengungen. Ich lasse mich nicht gehen, gehe selber den Weg, den ich für mich als richtig erkenne. Vielleicht stellt sich mir auf diesem Weg noch eine allerletzte Aufgabe, falls mir die Kraft dazu geschenkt wird. Wer weiss?» (S. 657). Hier schreibt eine Kämpfernatur, eine Persönlichkeit, die sich aufbäumt gegen Schicksalsschläge und Widerstände, jemand, der selbst erkennt und selbst bestimmt, worauf es ankommt im Leben und in welche Richtung der eigene Weg gehen soll. Auffällig ist – und das kennzeichnet die Lektüre des gesamten Buchs – das Nichterwähnen einer psychischen Dimension, der Notwendigkeit seelisch-existenzieller Anstrengungen, der Bewältigung allfälliger Zweifel und Ängste, die neben den körperlichen und geistigen Übungen in einer Biografie ebenfalls nötig werden könnten. Diese seelischen Abgründe spielen für den Autor offensichtlich keine oder zumindest eine unwesentliche Rolle, entsprechend formuliert er im erwähnten Dankgebet, dass er Gott voller Vertrauen, ohne Sorge und Angst alles das überlassen möchte, was in seinem Leben noch kommen mag (S. 703). Die letzte Bemerkung aus den Schlusssätzen des zwölften Kapitels lässt durchscheinen, dass der Autor auf seinem Weg durchaus mit weiteren Widerfahrnissen und Aufgaben rechnet, die er, wenn sie denn auftauchen sollten, wie in seiner bisherigen Biografie zu bewältigen oder zu lösen gedenkt. Schliesslich betont der Theologe auf fast jeder Seite seiner Ausführungen, dass er um den Geschenkcharakter des Lebens wisse, dass er sein Leben dem guten Gott verdanke und fest daran glaube, dass letztlich alles gut sein werde. Habe er sich doch getäuscht und würde er in ein Nichts hineinsterben, so Hans Küng etwas sophistisch und selbstverliebt in Anspielung auf die berühmte Wette Blaise Pascals, habe er jedenfalls ein besseres und sinnvolleres Leben geführt als ohne diese Hoffnung (S. 654, auch 701). Das erwähnte Dankgebet kulminiert in folgender Charakterisierung Gottes: «So lege ich auch die Zukunft gelassenzuversichtlich in Deine Hände. / (...) / Denn du bist der Anfang vom Anfang und die Mitte der Mitte / so auch das Ende vom Ende und das Ziel der Ziele» (S. 703). Unter Bezugnahme auf einen anderen zeitgenössischen Schweizer Theologen, den 1991 im Alter von nur siebzig Jahren verstorbenen theologischen Ethiker Franz Böckle, könnte das hier zu Grunde liegende Menschen- und Gottesbild als das einer theonomen Autonomie, einer in Gott grundgelegten und erst durch ihn ermöglichten menschlichen Freiheit verstanden werden.2
«So wie er, sagte ich mir schon 1955, möchte ich keinesfalls sterben»
Bereits in dem 1995 zusammen mit Walter Jens geschriebenen Buch «Menschenwürdig sterben», das im Jahr 2009 in einer erweiterten und aktualisierten Neuausgabe erschienen ist, hat Hans Küng an zentraler Stelle auf das lange Dahinsiechen und Sterben seines Bruders Georg hingewiesen, der schliesslich an den Folgen eines Hirntumors starb: «So wie er, sagte ich mir schon 1955, möchte ich keinesfalls sterben» (S. 611). Diese negative, vielleicht sogar traumatisierende Erfahrung war nach eigener Aussage die Initialzündung für das, was Hans Küng zu einem Befürworter der aktiven Sterbehilfe oder der ärztlichen Lebensbeendigung auf Verlangen gemacht hat. Von ähnlich schlimmen Erfahrungen berichten viele Befürworter der umstrittenen Formen der Sterbehilfe. Meiner Einschätzung nach sind solche Erfahrungen wesentlich für die persönliche Meinungsbildung, auf alle Fälle sind sie weitaus wichtiger als moralische Bedenken, oft aber auch wirkmächtiger als weltanschauliche Einwände.
Ganz wesentlich für das Verständnis von Hans Küngs Position ist zudem sein Kampf gegen jede Form von Bevormundung, sei es von Ärzten, Kirchenvertretern, Politikerinnen, Richtern oder anderen Autoritäten. Entsprechend versteht er die Selbstbestimmung in erster Linie im Sinne der negativen Freiheit, der Abgrenzung gegen Paternalismen oder Maternalismen jeder Art, weniger hingegen im Sinne der positiven Freiheit: An vielen Stellen seines Buchs betont er, jeder Mensch habe das Recht, eine eigene Meinung zu haben, ohne jedoch festzulegen, worin diese Meinung seines Erachtens am besten bestehen sollte, also ohne Bezugnahme auf inhaltlich dichte Vorstellungen von einem gelungenen oder guten Leben.
Sterben beschreibt der Autor als einen Akt der Rückgabe, den Suizid oder die Selbsttötung als eine «Hingabe des Lebens», eine «Rückgabe des Lebens in die Hände des Schöpfers» (S. 618). In dieser ungewohnten Formulierung wird das Sterben zu einem Vorgang, in welchem sich der Mensch – in einem Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch – als aktiv Handelnder und nicht als passiv Hinnehmender erlebt. Das Sterben, neben der Geburt häufig als der Höhepunkt der Heteronomie (Fremdbestimmung) im Leben eines Menschen beschrieben, wird hier als Akt der Autonomie, der eigenen Handlungshoheit, interpretiert.
Darüber hinaus betont der Theologe wiederholt, es gäbe keine Pflicht, unerträgliches Leiden schicksalhaft hinzunehmen. Das Leiden selbst bewertet er weder positiv noch negativ, entscheidend sei vielmehr die menschliche Freiheit, unzumutbare Zustände abzulehnen und unter Umständen dem Leben von eigener Hand ein Ende zu setzen. Er zögert zwar, konkret zu benennen, worin für ihn ein solches unerträgliches Leiden bestünde, macht jedoch Anspielungen auf den Verlust bestimmter körperlicher Funktionen wie dem Hören, Lesen, Schreiben und nennt darüber hinaus die eigene Parkinsonerkrankung bzw. im Kontext seiner Kommentare zur letzten Lebensphase von Walter Jens die Demenz als Beispiele für nicht akzeptable gesundheitliche Beeinträchtigungen (S. 643–646).
Wesentlich in der Argumentation Hans Küngs ist zudem seine skeptische Einschätzung der Möglichkeiten der Palliative Care (S. 638). Zwar unterstützt der Autor die Hospizbewegung und ist der Meinung, diese sei stärker als bis anhin auszubauen,3 aber er zweifelt ganz grundsätzlich daran, dass die lindernde Medizin, Pflege und Begleitung in der Lage seien, sinnlose Leidenssituationen erträglich oder akzeptabel zu machen.
Schliesslich erscheint es als ein konsequenter Schritt, dass Hans Küng Mitglied einer Schweizer Sterbehilfeorganisation geworden ist. Er schätzt offensichtlich deren Engagement, wobei er es vorgezogen hätte, einer entsprechenden Organisation in seiner Wahlheimat Deutschland beitreten zu können. Schliesslich fordert er die (ungenannte) Organisation auf, das «weithin vernachlässigte Motiv eines freiwilligen Sterbens aus einem (vernunftgemässen, nicht vernunftwidrigen) Gottesvertrauen heraus zu beachten und es in gegebener Situation selber unvoreingenommen zur Sprache zu bringen» (S. 652).
Ein letzter Aspekt betrifft den Umgang mit der Zeit. Bislang habe er, Hans Küng, keine Sehnsucht danach, 90 Jahre alt zu werden, er habe seine grossen Aufgaben erfüllt, leide unter keinen Depressionen und sei jederzeit bereit aufzubrechen: «Auf keinen Fall möchte ich, wie manche andere, den Zeitpunkt meines rechtzeitigen Abschieds verpassen» (S. 701). An dieses Problem des zu langen Zuwartens hatte bereits Seneca, ein Zeitgenosse Jesu, in seinen Briefen an Lucilius erinnert, es handelt sich also nicht um einen neuen Gedanken oder ein Problem, das sich der modernen Medizin verdanken würde.4 Neben der praktischen Herausforderung, die mit der rechten Zeitwahl für einen Suizid verbunden sein kann, scheint mir an diesem Gedanken vor allem interessant, dass dadurch das Lebensende zeitlich strukturiert wird, wobei die Achtsamkeit und das rechtzeitige Handeln an die Stelle des Abwartens und passiven Hinnehmens treten.
Rückfragen aus ethischer Sicht
Die Ausführungen Hans Küngs zu den umstrittenen Formen der Sterbehilfe sind massgeblich von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen des Autors geprägt. Begegnungen mit Sterbenden spielen in seiner Wahrnehmung und Einschätzung der aktiven Sterbehilfe genauso eine Rolle wie der persönliche Glaube an einen guten Gott und die Weiterexistenz nach dem Tod. Auffällig ist dagegen, dass der Autor kaum auf fachethische Beiträge zur Lebensende- Thematik eingeht, obgleich hier seit den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts intensive und durchaus auch fruchtbare Diskurse geführt werden. Dieser Befund gilt im Übrigen nicht nur für Hans Küngs Ausführungen im dritten Band seiner Memoiren, sondern auch für seine anderen Publikationen zur Sterbehilfe.5 Offensichtlich versteht er seine Stellungnahme in erster Linie als ein persönliches Zeugnis, das stark von der Idee geprägt ist, den christlichen Glauben an einen guten Gott und das ewige Leben mit der über Jahrhunderte in religiösen Kontexten tabuisierten Idee der Lebensverfügung auf positive Weise zu verknüpfen.
Aus medizinethischer Sicht wären die meisten Thesen Hans Küngs aufzugreifen und kontrovers zu diskutieren, angefangen bei den Erfahrungen mit der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden und in Belgien sowie der Suizidhilfe in Oregon und der Schweiz, über Diskussionen zur Reichweite und Einschätzung der palliativen Betreuung, der in den letzten Jahren stark zunehmenden Praxis der terminalen Sedation bis hin zur Diskussion konkreter rechtlicher Neuregelungen in vielen europäischen Ländern. Das kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Dagegen soll auf drei blinde Flecken in den Ausführungen Hans Küngs hingewiesen werden, die bei der Lektüre aus medizinethischer Perspektive besonders auffallen.
Erstens ist es verblüffend, dass der Autor keinen Bezug zwischen Sterbewünschen bzw. der Suizidalität und seelisch-existenziellen Abgründen herstellt. Natürlich sind Sterbewünsche schwerstkranker oder -behinderter Menschen je nach Situation und Persönlichkeit sehr unterschiedlich motiviert, aber offene Sinnfragen, Verzweiflung, Kontrollverlust, Abhängigkeit, Ausweglosigkeit, Verlassenheit und diffuse Ängste spielen dabei anerkanntermassen eine bedeutende Rolle. Im vorliegenden Buch ist davon nicht die Rede, stattdessen folgt der Autor dem Konzept des «rationalen Suizids», das in der Literatur auch unter den Begriffen Bilanzsuizid oder philosophischer Suizid diskutiert wird. Hans Küng geht sogar so weit, dass er aus Glaubensperspektive zwischen einem vernunftgemässen und einem vernunftwidrigen Gottesvertrauen unterscheidet, wobei er als Sterbemotiv nur erstgenannte Version des Vertrauens akzeptieren möchte. Das klingt nach einem selbstkontrollierten, vernunftzentrierten und letztlich kalkülhaften Verständnis von Glaube und Vertrauen, das nicht oder kaum mit seelischen Abgründen rechnet. Im Vergleich damit ist das Tagebuch einer Krebserkrankung von Christoph Schlingensief eine eigentliche Kontrastlektüre, insofern der Autor seine ganze Emotionalität ins Spiel bringt und diese auch mit seinem Gottesglauben in Verbindung bringt.6 Meines Erachtens werden in der Position Hans Küngs die Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die einer Entscheidung zur Lebensbeendigung gewöhnlich zu Grunde liegen, massiv unterschätzt. Diese sollten als Ausgangspunkt eines noch so rationalen Entscheids jedoch stärker mitbedacht werden. Äussert ein Mensch, sterben zu wollen, kann das zum einen sehr unterschiedliche Botschaften beinhalten und ist zum andern häufig von einer (manchmal abgrundtiefen) Ambivalenz geprägt: Sterbewünsche können sowohl zeitlich unbeständig sein als auch in sich selbst widersprüchlich, insofern ein Patient gleichzeitig sterben und am Leben bleiben möchte. Die «Rationalität» von Sterbewünschen kann sich dann durchaus auch in ihrer «Irrationalität» zeigen, aber eben: in ihrer Irrationalität, die auch zum Recht auf Selbstbestimmung gehört und respektiert werden soll. Dabei meine ich mit Irrationalität nicht eine Einsicht, welche beispielsweise auf einer Fehlinformation über den voraussichtlich weiteren Verlauf einer Krankheit beruht oder schlicht auf Täuschung oder Wahn, sondern die sich auf die Abgründigkeit, das emotionale Chaos, letztlich das existenzielle Leiden am Dasein bezieht.
Zweitens bleibt bei Hans Küng die soziale Dimension von Freiheit und Autonomie stark unterbelichtet. Der Autor betont aus teilweise nachvollziehbaren Gründen, insbesondere der bestehenden Abwehrhaltung gegenüber der Suizidhilfe in Deutschland, einseitig die negative Freiheit. Darüber hinaus ist Freiheit aber auch ein soziales Phänomen, was in der Fachliteratur mit den Begriffen der relationalen Autonomie (Claudia Wiesemann) und der sozialen Freiheit (Axel Honneth) zum Ausdruck gebracht wird. Wenn Hans Küng über Demenz oder Parkinson schreibt, dann haben seine Überlegungen und Wertungen nicht nur eine Bedeutung für ihn selbst, sondern darüber hinaus für viele andere Menschen, die an denselben Krankheiten leiden und die sich unter Umständen durch die vom Autor geäusserten Wertungen massiv in Frage gestellt fühlen. Das gilt in besonderem Masse dann, wenn der Autor derart bekannt ist wie Hans Küng. Er ist sich der Macht seiner Worte, seiner «Geistmacht», durchaus bewusst, wie er im Kapitel «Machtloser unter Mächtigen?» (S. 625–627) schreibt. Warum geht er dann nicht behutsamer damit um, wenn es um die Situation von Menschen geht, deren Leiden durch seine Gedanken unter Umständen noch verstärkt werden? Im Anschluss an einen Vortrag über Lebensende-Entscheidungen meinte kürzlich eine besorgte Zuhörerin, ein Bekannter, der unter der Parkinsonkrankheit leide, würde seit der Lektüre von Hans Küngs Memoiren kein Wort mehr sprechen. Die Schweizer Praxis der Suizidhilfe ist gegenwärtig davon gekennzeichnet, dass sie als ein Modell für bestimmte Lebenssituationen etabliert wird, also standardisiert wird. Trifft diese Analyse zu, wäre das nicht im Sinne von Hans Küngs Freiheitspathos, kritische Bemerkungen zu diesen Vorgängen sind bei ihm jedoch nicht zu finden.
Drittens blendet der Autor die politisch-rechtliche Dimension der Sterbehilfe-Thematik fast vollständig aus. Natürlich ist es legitim, eine ethisch umstrittene Praxis erfahrungsorientiert und individualethisch anzugehen, ohne gleichzeitig die damit verbundenen sozialethischen Implikationen zu thematisieren. Im Fall der ärztlichen Tötung auf Verlangen und der Suizidhilfe ist ein solches Vorgehen jedoch nur bedingt verständlich, insofern die politisch-rechtlichen Debatten den Diskurs über die Sterbehilfe massgeblich mitbestimmen und sich aus sozialethischer Perspektive wichtige Fragestellungen ergeben, welche Folgen für die individualethische Einschätzung nach sich ziehen. Besonders heikle Probleme, die in diesem Kontext entstehen, können durch folgende Fragen angedeutet werden: Sind auch Kinder und Jugendliche befugt, ihre Lebensbeendigung von einem Arzt zu erbitten? Wie soll dies bei psychisch kranken Menschen geregelt werden? Sind Doppelsuizide erlaubt? Welche Rolle sollen Ärzte übernehmen, welche die Sterbehilfeorganisationen? Wie kann die Praxis von Sterbehilfeorganisationen kontrolliert werden? Gemäss welchen Kriterien könnte das realisiert werden? Ist das bevorstehende Lebensende eine Voraussetzung, um Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu dürfen? Sollten die erwähnten Formen von Sterbehilfe auch in öffentlichen Spitälern und Pflegeheimen erlaubt und etabliert werden? – Dies sind einige der Kernfragen, die sich bei einer gesetzlichen Regelung der umstrittenen Praktiken im politischen Alltag stellen. Meiner Einschätzung nach geht die Idee, dass in einer Situation mit einer klaren gesetzlichen Regelung der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Suizidhilfe diese und ähnliche Fragen geklärt wären oder heute bestehende Grauzonen verschwinden würden, ins Leere. Der Verlauf der politisch-rechtlichen Debatten in der Schweiz, der ganz im Sinne Hans Küngs von einer grundlegenden Liberalität im Umgang mit den umstrittenen Praktiken gekennzeichnet ist, zeigt seit vielen Jahren, wie komplex und kompliziert allfällige Lösungsansätze sich gestalten. Dass bislang keine neue gesetzliche Regelung etabliert werden konnte, liegt meines Erachtens nicht an mangelndem politischen Willen, sondern an der Tatsache, dass sich die freiwillige Lebensbeendigung rechtlich nicht zufriedenstellend oder rational lösen lässt. Die betroffenen Praktiken haben stets auch irrationale Anteile, die sich zum einen einer staatlichen Kontrolle entziehen und deren Detailregelung zum anderen grösstenteils – gerade aus Gründen der politischen Liberalität – überhaupt nicht in den Kompetenzbereich des Staates fallen.
Schlussbemerkung
Im Rahmen seiner Überlegungen zu religiösen Moralkonzepten und den zugrunde gelegten Anthropologien gibt der Schweizer Theologe Hans Halter, ein Schüler von Franz Böckle und Emeritus an der Universität Luzern, zu bedenken, dass zwischen dem jeweils vertretenen Gottesbild, dem favorisierten Menschenbild und den Auffassungen von der Moral ein hermeneutischer Zusammenhang besteht. Das favorisierte Gottesbild – Gott als Autokrat, Gesetzgeber, Lückenbüsser oder selbstherrlicher Narziss – prägt die persönliche Moral, die gelebte Moral hingegen beeinflusst die Wahl des bevorzugten Gottesbildes. Er schreibt: «Nicht nur prägt die Gottesvorstellung die Auffassung vom Menschen und von Moral mit, es ist umgekehrt auch so, dass die vorgegebene Auffassung vom Menschen und seiner Moral die Gottesvorstellung mitbestimmt. Wir befinden uns dauernd in einem unausweichlichen Zirkel von der Moral zum Gottesglauben und vom Gottesglauben zur Moral. Ist das Problem einmal erkannt, tut sich hier nochmals ein Feld der Verantwortung auf. Ein fragwürdiges Vorverständnis vom Menschen und seiner Moral kann fragwürdige Gottesvorstellungen evozieren oder verstärken.»7 Bezogen auf die Gottes- und Moralvorstellung von Hans Küng fällt auf, dass das Ringen um Antworten, das Hadern mit dem Schicksal, offene Sinnfragen angesichts des Leidens, das Abgründige menschlicher Freiheit, das Dunkle und Unergründliche in Gott und Mensch, alles das, wofür die biblische Figur Hiob (im Unterschied zu seinen Freunden) und die theologische Tradition der Theodizee stehen, in seinem Gottesund Menschenbild weitgehend ausgeblendet werden. Das heisst nicht, dass er diese Dimensionen in seinen einschlägigen Publikationen nicht erwähnt hätte oder diese nicht kennen würde. Schon in jungen Jahren habe ich beispielsweise Hans Küngs Bücher «Christ sein» (erschienen 1974) und «Ewiges Leben? » (erschienen 1982) nicht zuletzt aufgrund der hier gebotenen systematischen Übersichten mit Gewinn gelesen. Aber es heisst so viel, dass der Autor in seiner Biografie ein durchwegs geglücktes Leben beschreibt, in welchen die genannten Dimensionen keine erwähnenswerte Bedeutung erlangt haben. Letzterer Befund könnte auch mit erklären, warum die Reaktionen auf das Oeuvre von Hans Küng so kontrovers ausfallen.