Das Wort vom Zaun

Das Wort vom Zaun («Machet den Zaun nicht zu weit!») erscheint erstmals 50 Jahre nach dem Tod des Bruder Klaus beim Luzerner Gerichtsschreiber Hans Salat. Dieser veröffentlichte 1537 eine Lebensbeschreibung des Bruder Klaus. Dabei hat er die vom Berner Humanisten Heinrich Wölflin 1501 verfasste lateinische Biografie ins Deutsche übersetzt und mit ein paar eigenständigen Ergänzungen ausgestattet: darunter vor allem eine lange Ermahnung des Bruder Klaus an die Eidgenossen und eine Ankündigung der Reformation. In diesem Zusammenhang bringt er das Wort vom Zaun. Robert Durrer, der grosse Pionier der Bruder- Klausen-Forschung, schreibt in seinem Quellenwerk («Bruder Klaus», Sarnen 1917–1921): «Die angebliche Warnung, den Zaun der Eidgenossenschaft zu erweitern (ihr erstes Auftreten bei Hans Salat im Jahre 1537), fällt zeitlich zusammen mit den Bestrebungen Genfs, in den schweizerischen Schutzkreis zu treten, und mit dem Widerstand der Katholiken, die Neuerwerbungen Berns im Waadtland als eidgenössisches Territorium anzuerkennen. Dass der historische Bruder Klaus einer friedlichen Expansion nicht prinzipiell abgeneigt gewesen, bewies er ja dadurch, dass er den Widerstand seiner Landsleute gegen die Aufnahme von Freiburg und Solothurn gebrochen hat. War doch gegenüber Freiburg von den Gegnern gerade die welsche Nationalität ins Feld geführt worden » (Einleitung S. XXXI). Das Büchlein von Hans Salat ist eine Kampfschrift gegen die Reformation, und er möchte seinen Argumenten Gewicht geben, indem er sie Bruder Klaus in den Mund legt.

Aufschlussreich ist ein Blick auf den Lebenslauf des Hans Salat. Er ist 1498 in Sursee geboren. Er lernt zuerst das Seilerhandwerk und wird dann Chirurg. Nach fünf Jahren Reisläuferei auf italienischen Schlachtfeldern erhält er eine Anstellung bei der Luzerner Staatskanzlei, ab 1531 als Gerichtsschreiber. Sein polemisch-rhetorisches Talent macht ihn zu einem Wortführer der katholischen Innerschweizer gegen die sich ausbreitende Reformation. 1536 erscheint seine Schrift «Chronik vom Anfang des neuen Unglaubens». Der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger antwortet mit der Schrift «Salz zum Salat». 1540 verliert Salat die Gerichtsschreiberstelle wegen Liederlichkeit und Schuldenmacherei. Er wird wieder Reisläufer, diesmal bei der Konkurrenz in Frankreich. 1544 kommt er als Schulmeister und Theaterregisseur nach Freiburg. Dort wird er 1547 «wegen eines üppigen Spils, so er den Knaben hat geben zu spilen» entlassen. Er wendet sich der Wahrsagerei und Alchemie zu und stirbt völlig entgleist 1561.

Hans Salat ist kein Historiker, sondern ein kämpferischer Polemiker. Mit der Tagsatzung von Stans (1481) hat das Wort vom Zaun nichts zu tun. Salat erwähnt diese Tagsatzung gar nicht. Dieser Zusammenhang entsteht erst gut 100 Jahre später bei Johann Joachim Eichhorn (ein deutscher Konvertit, dieser war 37 Jahre lang Kaplan in St. Niklausen [OW]). Eichhorn schreibt über den Frieden von Stans so, als sei Bruder Klaus selber im Ratsaal dabei gewesen. Und er beschreibt in neun Merksätzen die angebliche Botschaft des Bruder Klaus an die Eidgenossen. Darunter sind das Wort vom Zaun und die angebliche Voraussage der Reformation durch Bruder Klaus, die der Konvertit Eichhorn gern von Salat übernommen hat. Eichhorns volkstümliche Geschichtsdarstellung hat sich in den folgenden Jahrhunderten in den Schulbüchern und in der Kunst durchgesetzt. Vor allem im barocken Volkstheater und später im national gesinnten 19. Jahrhundert sind viele Bilder der Stanser Tagsatzung mit dem anwesenden Bruder Klaus entstanden (so z. B. auch an der Aussenwand der Pfarrkirche von Sachseln). Erst die historisch-kritische Quellenforschung von Robert Durrer (1917–1921) hat diese falschen Bilder korrigiert: Bruder Klaus war nicht selber an der Tagsatzung, sondern sein Freund Heimo Amgrund (damals Pfarrer in Stans) rannte zum Einsiedler in den Ranft und brachte der Tagsatzung eine Antwort, die wir nicht kennen, die jedoch innert einer Stunde zum Frieden (Kompromiss) führte.

Papst Johannes Paul II. hat am 14. Juni 1984 bei seinem Besuch auf dem Flüeli das Wort vom Zaun ins rechte Licht gerückt: «Ja, ‹macht den Zaun nicht zu weit›, aber scheut euch nicht, über den Zaun hinauszuschauen. Macht die Sorgen anderer Völker zu euren eigenen und bietet über die Grenzen hinweg eine helfende Hand, und dies auch auf der Ebene eurer staatlichen Organe und Finanzmittel. Die internationalen Organisationen mit Sitz in Genf bedeuten eine ehrende Verpflichtung für die ganze Schweiz und jeden Einzelnen.»

 

 

Walter Signer (Bild bruderklaus.com)

Walter Signer

Walter Signer (1946) ist in Teufen (Appenzell Ausserrhoden) aufgewachsen. Theologiestudium in Münster und Jerusalem. 1978 Priesterweihe in St. Gallen. Vikar in Rapperswil. 1981 bis 1986 erstmals in Sachseln. Präses der KAB Schweiz. 1994 bis 2011 Pfarrer in Zürich Altstetten. Bis Herbst 2016 wirkte er als Bruder-Klausen-Kaplan.