«Ein Stück fitter in der Lebensbewältigung»

Träume rütteln uns Menschen auf, seien sie schön, angenehm oder erschreckend. Die Traumbilder und die empfundenen Gefühle geben erste Anhaltspunkte, um die Botschaft des Traumes für unser Leben zu erahnen.

Margarethe Letzel (Jg. 1957) führt seit 1987 eine eigene Praxis. Sie ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP sowie Ausbildnerin in Personzentrierter Beratung für die Schweizer Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie und Beratung.

 

Selten, dass ich mich am Morgen erinnere, was ich nachts geträumt habe. Doch letzthin träumte ich, ich segelte ins offene Meer hinaus. Was dieser Traum wohl bedeutet? Unser nächtliches Kopfkino bezieht sich nach der Psychotherapeutin Ingrid Riedel nicht nur auf den Alltag, auf das, was gerade in unmittelbarer zeitlicher Nähe geschah oder bevorsteht, sondern beleuchtet auch den zukünftigen Lebensabschnitt. Nach ihr werden Träume zu Wegweisern; sie thematisieren, welche Entwicklungsschritte zu gehen sind.1 So gesehen würde ich doch gerne öfters wissen, was ich in der Nacht geträumt habe. Die Psychotherapeutin Margarethe Letzel befasste sich ebenfalls eingehend mit Träumen. Von ihr wollte ich mehr über Träume erfahren.

SKZ: Was war der Anlass, dass Sie sich intensiver mit Träumen beschäftigten und darüber ein Buch schrieben?  
Margarethe Letzel: Verblüfft hatte mich, für wie viele Menschen Träume ein Problem sind. Darauf kam ich durch mein Mandat als Kolumnistin und Beraterin für die Coopzeitung, für die ich über 20 Jahre schrieb. Es erstaunte mich, wie viele Menschen sehr an Träumen litten oder sich davon aufgewühlt und ratlos zurückgelassen fühlten. Die Leserinnen und Leser erhofften sich von mir Klärung, Hilfestellung. Natürlich wollten sie ihre Träume, ob schöne oder erschreckende, ins eigene Leben einordnen können. Mein Problem bei solchen Anfragen war nur: Losgelöst vom Kontext der Person lassen sich Träume nicht verstehen. Es gibt auch keine Deutung von Träumen ohne die Einfälle der Träumerin oder des Träumers. Zudem kannte ich weder die Lebensumstände noch die Erfahrungen der Betroffenen. Was also tun? Ich begann damit, die Geschichte, die der Traum erzählt, nochmals zu formulieren und mit meinen Worten zu beschreiben, was die Hauptperson erlebt. Zum Beispiel: «Es fällt auf: Alles geht schief, aber Sie bleiben ganz gelassen.» Solche Beobachtungen können beim Verstehen zum Leitfaden werden. Dabei stösst man ganz natürlich auf Fragen. Wie fühlte die Person sich dabei, dass sie so gelassen bleiben konnte? War das gut oder war es ein Problem? Wo in ihrem Alltag gibt es Parallelen zu einer solchen Reaktion? Träume sind immer verknüpft mit dem ganz konkreten Leben einer Person. Es sind Fortsetzungen von Denkprozessen, einfach in Bildern. Die sehr positiven Rückmeldungen wie beispielsweise «Die Albträume sind weg!» ermutigten mich, dieses Vorgehen in einem Buch vorzustellen. 

Warum und wozu träumen wir?
Dazu wissen die Forschenden aus den Traumlaboren inzwischen einiges zu berichten. Die Hinweise verdichten sich, dass Träume ganz verschiedene Funktionen haben, die unserer Alltagsbewältigung dienen. So werden Aspekte und Facetten von Erfahrungen mit bestehenden verknüpft, verglichen und neu kombiniert. Evolutionstheoretisch gesprochen werden wir durchs Träumen ein Stück fitter in der Lebensbewältigung. Indem im Traum Erfahrungen eingeordnet und mit bestehenden verknüpft werden, kommt es zu neuen Schlussfolgerungen, kann auch ein Transfer in noch unbekannte Situationen stattfinden. Gelegentlich sagen wir: «Das muss ich noch überschlafen». Und am Morgen ist die Entscheidung klar. Das geschieht über Nacht, unbewusst. Während des Schlafes vollzieht sich innerlich ein Prozess des Aufräumens und Abwägens. In der Nacht verarbeiten wir die vielen Eindrücke des Tages, trennen Wichtiges von Unwichtigem, vieles wird auch dem Vergessen zugeführt. In unserem Körper laufen Selbstheilungsprozesse ab und dies nicht nur physisch, wenn ich mich etwa in den Finger schneide und die Wunde von alleine zuwächst, sondern auch psychisch. Träumen ist für das innerliche Aufräumen da, aber auch fürs neu Verknüpfen und Weiterdenken. 

Weshalb können wir uns am Morgen meistens nicht mehr an die Träume erinnern? 
Das ist von Person zu Person verschieden, aber hängt sicher auch mit dem Schlafrhythmus zusammen. Gegen Morgen werden die REM-Phasen2 länger. Wenn Sie sich an Ihre Träume erinnern möchten, dann stellen Sie den Wecker 20 Minuten vor der gewohnten Aufwachzeit. Zuerst erschrecken Sie vielleicht über den Wecker und vergessen die Traumbilder deswegen womöglich gerade wieder. Geben Sie sich daher Zeit, fühlen Sie nach der Stimmung, in der Sie erwacht sind! Und: Ist ein Gedanke oder ein Bild präsent? Schreiben Sie auf, was noch da ist! Sie werden sehen, es kommen Ihnen noch weitere Details in den Sinn. Wenn Sie dies öfter tun, erinnern Sie sich leichter an Ihre Träume. Und es wird einfacher, einen roten Faden in den Träumen zu entdecken. Die Frage ist aber: Wollen Sie das überhaupt? Denn das Schöne ist ja: Der Aufräum- und Verknüpfungsprozess beim Träumen läuft ohne unser bewusstes Zutun.  

Was fasziniert Sie an Träumen? 
Träume sind Bildergeschichten, sie sind eine frühe Form von Sprache, das fasziniert mich sehr. Wenn Sie bedenken: Ein Kind macht bereits im Mutterleib verschiedene Sinneserfahrungen. Und wenn es auf die Welt kommt, ist es mit einer Flut von neuen Sinneseindrücken konfrontiert, sowohl angenehmen wie auch unangenehmen. Es nimmt diese wahr, aber ohne zu diesem Zeitpunkt über ein Sprachkonzept fürs Denken zu verfügen. Die Sinneseindrücke sind eine Art Abbild der Emotionen und des Befindens insgesamt. Unsere Emotionen, aber auch unser Begreifen von Welt reichen weit in den vorsprachlichen Bereich unseres Lebens. Daher bestehen auch unsere Träume aus vielen vorsprachlichen Elementen. Träume sind eine frühe Form, Erfahrungen zu erzählen, in Bildsprache. Um etwa Emotionen einzuordnen, ist Sprache zentral. Wenn man Eindrücke versprachlicht, regulieren sich Emotionen. Auch in unseren Träumen regulieren wir im Normalfall die Intensität von Emotionen des Tages herunter. Sogar wenn man aus einem Albtraum erwacht, nimmt man diesem ebenfalls bereits etwas von seinem Schrecken, wenn es gelingt, ihn in Worte zu fassen.  

Was empfehlen Sie zur Versprachlichung?
Wenn Sie aufwachen, notieren Sie Ihren Traum gerade so, wie Sie ihn vor sich sehen, mit allen komischen, unlogischen oder gar «falschen» Zusammenhängen. Welche Bilder, welche Abläufe sahen Sie? Gehen Sie ganz praktisch vor! Wo bin ich in dieser Situation? Wie geht es mir? Was fällt Ihnen als widersprüchlich auf? Welche Gefühle sind Ihnen zuvorderst? Was verwundert Sie besonders, verängstigt Sie oder berührt Sie tief? Erst in einer zweiten Etappe geht es ans Verstehen. 

Das ist aufwändig. Es gibt grosse Lexika zur Traumsymbolwelt. Inwieweit helfen mir diese, meine Träume zu erschliessen? 
Erklärungen aus Lexika der Symbole führen aus meiner Sicht eher weg. Im besten Fall beschreiben sie etwas allgemein Gültiges. Um einen Traum zu verstehen, brauchen wir aber immer die eigenen Erfahrungen, Emotionen und Einschätzungen zu den Bereichen, die die Bilder antippen. Der Traum ist eine Bildergeschichte zur eigenen aktuellen Lage, erzählt mit Fragmenten eigener Erfahrungen. 

C. G. Jung spricht von archetypischen Träumen. Was ist darunter zu verstehen? 
Bei den archetypischen Träumen geht es um Lebensthemen, die alle Menschen betreffen: Geburt, Tod und auch Übergänge wie von der Pubertät ins Erwachsenenalter oder vom Arbeitsleben ins Pensionsalter. Auch hier bietet sich an, die Bildersprache daraufhin anzuschauen, welche Sprachbilder dabei auf der Hand liegen: «hinterherrennen, obenauf schwimmen, den Einstieg nicht schaffen, es geht ums Umsteigen, eine Kraft zieht nach oben». Solche Sprachbilder, die die Traumbilder anbieten, legen die Übersetzung in den Alltag auf die Hand. So übertragen und verknüpfen Sie Ihre bildhaften Überlegungen aus dem Traum mit dem, was Sie gedanklich im Alltag beschäftigt.  

Ich radle nach dem Gespräch nach Hause. Das Bild des nächtlichen Aufräumprozesses gefällt mir. Ich kann darauf vertrauen, dass sich Fragen über Nacht klären, Entwicklungsschritte abzeichnen und Entscheidungen heranreifen.  

Interview: Maria Hässig
 

 

1 Riedel, Ingrid, Träume. Wegweiser in neue Lebensphasen. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Ostfildern 2019.

2 Neben den Tiefschlafphasen gibt es während der Nacht vier bis sechs Phasen, in denen sich die Augen unter den geschlossenen Lidern intensiv bewegen. Das gab diesen Schlafphasen den Namen: Rapid Eye Movement Sleep/REM-Schlaf. Auch die Hirnaktivität ist in diesen Phasen messbar erhöht.

Buchempfehlung: «Was macht der Eisbär in meinem Bett? Träume deuten und verstehen». Von Margarethe Letzel. Stuttgart 2018. ISBN 978-3-485-02943-8, CHF 27.90. www.kosmos.de

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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