Wegweiser aus der Tiefe

Auf der Suche nach dem Glück werden die Träumenden in Märchen von der realen Welt in die Zauberwelt geführt. Nach bestandenen Aufgaben kehren sie verwandelt zurück mit dem Schlüssel fürs Glück in der Hand.

 

Traumsprache und Märchensprache sind eng verwandt. Beide erzählen in Bildern von den Tiefen der Seele. Für Ingrid Riedel beschreibt die Sprache der Träume «in bildhaften Situationsschilderungen und Symbolen eine Lebenslage, die noch ganz oder teilweise unbewusst ist und nur gerade so und nicht anders ins Bewusstsein treten kann».1 Für das, was ein Traum zu sagen hat, gibt es nach Riedel gar keine bessere Ausdrucksweise, als die oft sonderbaren Traumbilder. In ganz ähnlicher Art erzählen Märchen von dem, was sich mit Worten kaum sagen lässt. Auch hier finden sich sonderbare Bilder, die Entwicklungs- und Selbstwerdungsprozesse als packende Geschichten erzählen.

Seppetoni Kuhschwanz – der Traum vom Glück

Ein weit verbreitetes Märchenmotiv ist der Traum vom Glück. Eine Schweizer Variante erzählt von Seppetoni Kuhschwanz, der in Grindelwald lebt und dreimal hintereinander im Traum eine Stimme hört, die ihn nach Thun schickt, dort warte auf einer Brücke sein Glück auf ihn. Zweimal lässt sich Seppetoni durch seine Frau von seinem Vorhaben abbringen – Träume sind Schäume, wettert sie. Aber beim dritten Mal schleicht er sich vor Tagesanbruch weg, geht nach Thun und kommt im ersten Morgenlicht zur Brücke. Der Geissenhirt ist gerade mit seinen Tieren auf dem Weg zur Weide. Seppetoni wartet nun auf der Brücke auf sein Glück. Den ganzen Tag wartet er. Sein Glück zeigt sich nicht. Am Abend staunt der Geissenhirt, dass der Fremde immer noch auf der Brücke ist: «Was machst du denn hier, den ganzen Tag?» Da erzählt Seppetoni von seinem Traum. Natürlich lacht der Geissenhirt ihn aus: «Ojemine, guter Freund, da kannst du noch lange warten! Ich habe auch schon mehrmals geträumt, und immer die gleiche Stimme hat mir gesagt: ‹Geh nach Grindelwald auf die Trichelegg zum Seppetoni Kuhschwanz, da ist unter dem Herd ein Kessel voll Gold vergraben.› Aber ich rühre natürlich keinen Finger und bleibe hier. Wie sollte einer, der recht im Kopf ist, auf so etwas hören! Denk doch nur, wer in aller Welt wollte auch Seppetoni Kuhschwanz heissen?» Selbstverständlich läuft unser Seppetoni schnurstracks zurück, gräbt unter dem Herd und findet das Gold.

Träume zeigen Entwicklungspotenzial

Träume sind Hilfen, um zu erkennen, welche Entwicklung im Leben gerade ansteht. Ingrid Riedel: «Uns in sie zu vertiefen bedeutet, die fälligen Übergänge ernst zu nehmen und sie innerlich und symbolisch auszuschreiten.»2 So ist es auch im Märchen: Ein Traum weckt Seppetoni aus seinem alltäglichen Trott. Sein Unbewusstes weiss, dass es Zeit ist für eine Veränderung, dass in ihm weit mehr Potenzial schlummert, als Seppetoni bis jetzt bewusst ist. Seppetoni erkennt zwar die Dringlichkeit des Traums, kann sie aber nicht direkt umsetzen. Erst nachdem er selbst einen Weg gegangen ist, kann er den Schatz bei sich daheim finden. Dass dieser beim Herd vergraben liegt, ist kein Zufall. Der Herd ist das Zentrum, das, was nährt und wärmt – also der Ort der Energie. Ähnliches sagt Verena Kast in einem Gespräch über Träume als Botschaften des Unbewussten: «Ich glaube, wir haben Bereiche in unserer Psyche, die unendliche Ressourcen bereithalten, wenn wir uns mit ihnen in Verbindung setzen können.»3

Man träumt immer von sich selbst

Eigentlich aber bräuchte das Märchen solche inneren Einsichten nicht als Träume zu erzählen. Es verfügt ja mit seinem Figureninventar von weisen Alten, helfenden Tieren und Wesen aus der Anderswelt (Hexen, Zwerge, …) über vielfältige Möglichkeiten, die eigene innere Stimme auszudrücken. Denn, so eine Erkenntnis aus der Märchendeutung, in einem Märchen können die vorkommenden Figuren immer auf eine hin gelesen werden. Sprich: Seppetonis Frau ist kein äusseres Gegenüber, sie verkörpert seine eigenen Zweifel. Der Hirt auf der Brücke genauso. Dies ist ein weiteres Element, das sich Märchen- und Traumsprache teilen: Auch in der Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Träumen werden die vorkommenden Figuren auf die träumende Person selbst gedeutet. Träumen können wir nie von anderen. Wir träumen immer von uns selbst.

Seltsam also, dass Märchen trotzdem immer wieder auf das Motiv des Traumes zurückgreifen, um eine sich anbahnende Erkenntnis zu erzählen. Schön daran ist, dass so eine direkte Verbindung geschaffen wird von der Märchenwelt in unsere reale Welt des Alltags. Träume im Märchen können Hinweise sein, auch auf die eigenen Träume zu achten.

Träume als «Tief»punkt des Unbewussten

Aber dies ist sicher nicht ihre Hauptfunktion. Diese ist in der grundlegenden Märchenstruktur zu suchen. Der Weg der Heldin bzw. des Helden führt von der realen Welt in die sogenannte Zauberwelt. Damit ist jene Wirklichkeitsebene gemeint, die sich in unserem Inneren zeigt. Im Märchen ist sie oft in Naturbildern ausgedrückt und durch übernatürliche Figuren wie sprechende Tiere, Hexen, weise alte Frauen usw.

Dort, wo sich die beiden Welten oder Ebenen berühren, tauchen Ahnungen, Intuitionen, Bilder auf. Im Märchen brechen Heldin oder Held aus dem Alltag auf und kommen auf ihrem Weg immer tiefer in die Zauberwelt. Nach durchstandenen Abenteuern kommen sie verwandelt wieder in diese Welt zurück. Der Heldinnen- bzw. der Heldenweg führt vom Verstand immer tiefer ins Unbewusste und angereichert mit den Erkenntnissen daraus zurück zum Verstand. Der Traum ist eine Etappe auf diesem Weg. Beispiele dafür aus der Grimmschen Sammlung wären etwa «Jorinde und Joringel», wo Joringel träumt, wie er die Zauberblume findet, mit der er Jorinde befreien kann. Oder «Die Nixe im Teich», wo die junge Frau im Traum den Weg zur weisen Alten sieht, die ihr dann hilft, ihren Mann zurückzugewinnen.

Antine – Stufe um Stufe tiefer zu sich selbst

Sehr schön aufzeigen lassen sich solche Stufen von immer noch mehr Unbewusstheit am italienischen Märchen «Die beiden Alten, die alles wussten». Hier bricht Antine aus eigenem Antrieb auf, sein Glück zu suchen. Es ist ein Vernunftentscheid, denn daheim reicht das Essen nicht (diese Welt). Er trifft unter einer Brücke drei alte Männer und schenkt ihnen seinen ganzen Proviant. (Erst später zeigt sich, dass hier schon der Übergang zur Zauberwelt stattfindet, die Brücke also die Schwelle von der bewussten Verstandeswelt zum Unbewussten markiert. Die drei Alten werden Antine Wege in sein Inneres zeigen; nach dem Happyend verabschieden sie sich und «wurden nie mehr gesehen».) Am folgenden Tag soll Antine für den König drei Aufgaben erfüllen. Er holt sich den Rat der drei Alten unter der Brücke, nicht ohne ihnen wieder gutes Essen mitzubringen. So nährt Antine sein eigenes Unterbewusstes und so können die drei Alten ihm helfen. Sie führen ihn durch einen dichten Wald und zu einer Höhle, in der die Grosseltern der drei Alten schlafen. Den Weg in die dunkle Höhle hinein muss Antine alleine gehen, nur das Summen von Bienen zeigt ihm die Richtung an. In der Höhle muss er sich zwischen die beiden schlafenden Uralten legen. Er schläft auch selbst sofort ein. Im Traum hört er die beiden sprechen und erfährt so die Lösung für seine Aufgabe. 

Nach dem ersten, einmaligen Weggehimpuls wiederholt sich dieses Schema dreimal, dreimal steigt Antine immer tiefer in sein Inneres, Unterbewusstes hinein – unter die Brücke, durch den Wald, in die Höhle, zwischen die beiden Uralten, schläft ein, träumt – und findet in dieser absolut innerlichen Welt die Antworten, die er braucht. Der Traum markiert hier den Höhe- oder eigentlich eher den Tiefpunkt des Unbewussten. So geführt gelingt es Antine, die Aufgaben zu erfüllen und schliesslich König zu werden. Was im Märchen meint: Sein Land – also sich selbst – gut und gerecht zu führen. Dank seinem Vertrauen in die Traumweisheit erfüllt sich also auch für Antine der Traum vom Glück.


Moni Egger

 

1 Riedel, Ingrid, Träume. Wegweiser in neue Lebensphasen, Ostfildern 2019, 23.

2 Ebd. 150.

3 Die geheimnisvolle Sprache des Unbewussten, SRF Hörpunkt vom 02.10.2007.

4 Vgl. dazu Hilty, Elisa, Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein. Wege zum Märchen, Bern 1988, 26–31.

 


Moni Egger

Dr. theol. Moni Egger (Jg. 1976) ist Märchenerzählerin, Leiterin der Fachstelle Katechese – Medien in Aarau, Dozentin für Bibelhebräisch an der Universität Luzern und Redaktionsmitglied der feministisch-theologischen Zeitschrift «FAMA». Darüber hinaus leitet sie unter dem Label «Bibel erzählt!» Kurse für biblische Erzählkunst in Zusammenarbeit mit Katja Wissmiller von der Bibelpastoralen Arbeitsstelle.