Eine Gesellschaft am Rande der Cybersucht

Menschen surfen, schauen, spielen, chatten im Internet. Manche oft stundenlang. Was hilft den Menschen, einen massvollen und weisen Umgang mit dem Internet zu finden?

Der Psychiater und Neurologe Viktor E. Frankl hat bereits in den 1970er-Jahren davon gesprochen, dass das Wissen der Menschheit in einer totalen Vernetzung «explodieren» wird, es aber dringend nötig sein wird, dass der verantwortungsvolle Umgang damit Schritt hält. Er warnte davor, dass ein Maximum an Wissen, verbunden mit einem Maximum an Verantwortung, begleitet werde von einem Minimum an Verantwortungsbewusstsein.

Inzwischen ist es so weit. Per Internet steht ein ungeheures und rasant ansteigendes Mass an Wissen und Halbwissen selbst schon Kindern und Jugendlichen zur Verfügung. Und es wird die grösste Herausforderung der nächsten Generationen sein, den verantwortungsvollen Umgang damit zu erwerben. Aufmerksame Pädagoginnen und Pädagogen haben längst erkannt, dass der Grad zwischen Netzbegeisterung und Netzsucht schmal ist. Laut dem Anton-Proksch-Institut in Wien sind Jugendliche die cybersuchtanfälligste Gruppe, denn die Erkenntnis, abhängig zu sein, setzt bei ihnen extrem langsam ein. Deutliche Anzeichen für Abhängigkeit sind: zu wenig Schlaf, kaum mehr Offline-Kontakte mit den Gleichaltrigen und Entzugserscheinungen, sobald kein WLAN vorhanden oder der Handy-Akku leer ist.

Womit füttern wir unser Gehirn?

Was kann der Cybersucht vorbeugen? Meines Erachtens sollten von Anfang an «Offline-Zonen» im Familienleben installiert werden, an die sich alle Familienmitglieder halten. Geeignet dafür wären der gemeinsame Esstisch oder das Schlafzimmer. Auch fixe «Offline-Zeiten» sind zu empfehlen, die für etwas Interessantes genützt werden, z. B. für Gespräche, sportliche Betätigungen, Ausflüge in die Natur oder handwerkliche Produktionen. Unser Gehirn ist in den jungen Jahren lern- und speicherfähig wie nie mehr später. Es bildet ständig neue Nervenfasern gemäss dem aus, womit es aktiv beschäftigt ist, und knüpft neue Nervenknoten und -verbindungen zum bisher Erworbenen und Erinnerten. Es ist geradezu unglaublich, welche Mengen sich junge Menschen auswendig einprägen können: das Vokabular ganzer Sprachen, die Abläufe komplexer maschineller Prozesse oder lange Theaterrollenpassagen. Aber gelernt wird nicht nur in Schulen und Bildungsstätten, sondern mitten im Zentrum des Lebens. Wenn sich jemand mit Hilfe von Alkohol wiederholt in eine euphorische Stimmung versetzt, lernt sein Gehirn, dass Alkohol «was Feines» ist, das (kurzfristig) glücklich macht. Wenn jemand in Zorn und Wut wiederholt auf seine Gegner eindrischt, lernt sein Gehirn, dass Zuschlagen emotional erleichtert und Aggressionen (kurzfristig) verrauchen lässt. Unser Gehirn merkt sich fast alles, und je unverbrauchter es ist, umso besser.

Deswegen ist Achtsamkeit geboten, womit wir es wiederholt füttern. «Übung (= Wiederholung) macht den Meister», wie der Volksmund sagt. Erlauben wir ihm, oft in herrlichen Melodien zu schwelgen, lernt es, dass es schön ist, Musik zu lauschen. Erlauben wir ihm, beim Stapfen durch Flure und Wälder geniesserisch zu träumen, lernt es, von erholsamen Landschaften zu träumen. Trainieren wir es, sich einer Aufgabe in selbstvergessener Hingabe zu widmen, lernt es, die ihm gestellten Aufgaben pfeilgerade zu fokussieren. Und trainieren wir es, stundenlang im Netz zu surfen, zu spielen, zu chatten …, dann lernt es, sich im virtuellen Kosmos wohler zu fühlen als in der Realität. Dann ist der Boden für die Cybersucht bereitet.

Verminderung der Empathie

Wenn man sich alle gewünschten Informationen aus Google und Co. holen kann, macht das denkfaul, wie eine Forschungsreihe aus Kanada bewiesen hat. Zumal gegoogeltes Wissen weniger gut hängen bleibt als ein Wissen, das aus Büchern geschöpft wird, was ebenfalls belegt ist. Und es macht unsicher dazu, weil man sich nicht mehr auf die Recherchen seines eigenen Denkapparates verlässt. Apropos «sich verlassen können»: Was die Informationen aus dem Internet betrifft, so gibt es dort neben Irrtümern auch die gezielte Verdrehung von Tatsachen. Laut einer Studie des «Instituts für Jugendkulturforschung» in Wien gaben 61 Prozent der befragten Jugendlichen zu, nicht einschätzen zu können, ob eine Information aus dem Netz stimmt oder verfälscht ist. Sie hätten keine Überprüfungsmöglichkeit. Nun, das gilt für die Erwachsenen nicht minder.

Der regelmässige Konsum von Gewalt simulierenden Filmen und Computerspielen beeinflusst unsere Empathiefähigkeit im Negativen. Bei Personen, die wegen Verhetzung, Hassparolen und sonstigen Abscheulichkeiten im Netz angezeigt und verurteilt worden sind, ist wiederholt festgestellt worden, dass sie sich über ihre Bestrafung wunderten. Sie hatten kein klares Schuldempfinden. Forscher der Medizinischen Universität Wien fanden heraus, dass auch Verursacher von Cybermobbing sich der desaströsen Konsequenzen ihres Handelns oft gar nicht bewusst sind. Im Gegenteil: Die Blossstellung und Beschämung anderer wird als lustig und unterhaltsam angesehen.

Was fördert hingegen Empathie? Das haben die Neurobiologen längst entdeckt: Die reale Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Sie ist durch keine virtuelle Kommunikation zu ersetzen! Nur ein leibhaftiges Gegenüber, dessen Aura und nonverbale Signale seine sprachlichen Äusserungen ergänzen, erzeugt die Einfühlung in dessen leib-seelische Befindlichkeit. Was Blutbäder oder Schreckensszenen am Bildschirm angeht, ist die moderne krimierprobte Gesellschaft mittlerweile völlig abgestumpft. Kinder entwickeln Empathie, Mitleid und Barmherzigkeit fast ausschliesslich in der intakten Gemeinschaft einer Familie, in der sich noch jeder um jeden persönlich kümmert. Haben sie keine solche erlebt, können sie zwar später noch in die mitmenschliche Liebe hineinreifen, aber der seelische Aufwand dafür ist beträchtlich und gelingt oft nur über schwere Leiderfahrungen.

Verminderung der Arbeitsqualität

Was Leiderfahrungen betrifft, so hat bereits der Randbereich zur Cybersucht seine konkreten Nachteile. Gemäss einer Umfrage liegt die längste Tageszeitspanne, die «Digital Natives» aushalten ohne ihr Handy zu zücken, bei drei bis vier Stunden! Die Folge: Das Handy frisst Zeit en masse. Laut einer anderen Studie der Universität Regensburg leiden 69 Prozent der Befragten seit der Digitalisierung unter Zeitdruck, Informationsüberflutung und ihrer permanenten Erreichbarkeit. Bei ihrer Arbeit seien sie laufend im «Multitasking», weil sie gleichzeitig ihr Smartphone im Auge und Ohr behielten, um nicht irgendwelche eingehenden Nachrichten zu versäumen. Das belaste ihre Konzentration, mache sie fahrig und mindere ihre Leistungskapazität. Die ständige Verfügbarkeit hat die Aufmerksamkeit vieler Leute in winzige Scheibchen fragmentiert. Wenn, wie die Statistik zeigt, knapp 30 Prozent der Arbeitszeit allein auf das Lesen und Beantworten von E-Mails entfallen und weitere 15 bis 20 Prozent auf Internetsuche, dann wird nur mehr in «zerfahrenen Streiflichtern» gearbeitet, und das vermindert logischerweise die Arbeitsqualität.

Das innerste Gespür entwickeln

Wie können wir die Nachteile der Digitalisierung eliminieren? Wohl nur durch ein striktes, zeitlich begrenztes Abschalten der Geräte. Schliesslich haben wir unsere elektronischen Diener, und nicht sie uns. Es gilt, wieder Stille auszuhalten, auch Funkstille, auch elektronische Stille. Keine Berieselung im Ohr und kein Geklingel in der Jackentasche. Allein mit sich selbst sein – in lockerer Entspannung oder in konzentrierter Arbeitsanspannung. Wenigstens für kurze Einheiten täglich. Freilich, die Digitalisierung ermöglicht blitzschnelle Verbindungen mit Angehörigen, Freunden, Kollegen über Kontinente, Lüfte und Meere hinweg, was alles früher undenkbar war. Man ist gut beraten, das Internet und die von ihm eröffneten Chancen wachsam zu betreten, das Beste daraus zu verwenden und das Schlimmste daran zu umschiffen. Deshalb wird ein Schulfach in den nächsten Jahrzehnten an immenser Bedeutung gewinnen, nämlich der Ethikunterricht, der derzeit erst zögernd anläuft. Bedenken wir: Die Computer werden bald schon so unendlich viel tüchtiger und gescheiter als wir Menschen sein – was haben wir Menschen ihnen da noch entgegenzusetzen? Nur eines: unsere Geistigkeit, und die Rede ist nicht von Kognition. Die Rede ist von unserem Gewissen. Von unserem innersten Gespür für Recht, für Anstand, für Fairness, für Nächstenliebe, für Vergebung, für das Gute an sich, das jenseits allen Kalküls wohnt. Das Wissen der Maschinen muss durch das Gewissen der Menschheit ausbalanciert werden.

Elisabeth Lukas


Elisabeth Lukas

Univ.-Prof. h.c. Dr. phil. habil. Elisabeth Lukas (Jg. 1942) ist klinische Psychologin und approbierte Psychotherapeutin sowie Schülerin von Viktor E. Frankl. Sie leitete von 1986 bis 2003 das Süddeutsche Institut für Logotherapie. (Bild: Elisabeth-Lukas-Archiv)

 

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