Internetspiele sind insbesondere bei jungen Menschen sehr beliebt und verbreitet. Für einen Teil der Spielerinnen und Spieler besteht die Gefahr, davon abhängig zu werden. Im Mai 2019 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den neuen Katalog der Krankheiten (ICD-11). Neu wird die (Online-)Spielsucht («gaming disorder») mit anderen Suchtkrankheiten wie Glücksspielsucht gleichgesetzt. Das «gaming disorder» ist eine Form der problematischen Nutzung des Internets, die zu einer Abhängigkeit führen kann. Daneben gibt es weitere Formen. In der Schweiz sind gemäss dem Synthesebericht 2018 bis 2020 der Experten- und Expertinnengruppe «Onlinesucht» 3,8 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren, d.h. rund 270'000 Menschen, von einer problematischen Internetnutzung betroffen. Männer (4,3 %) häufiger als Frauen (3,3 %). Auch gibt es Unterschiede zwischen der Westschweiz, der Deutschschweiz und dem Tessin. In urbanen Gebieten tritt eine problematische Internetnutzung häufiger auf als in ländlichen. Renanto Poespodihardjo ist leitender Psychologe für Verhaltenssucht an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). Mit ihm sprach ich über die Onlinesucht.
SKZ: Herr Poespodihardjo, was hält Jugendliche und Erwachsene über Stunden im Internet?
Renanto Poespodihardjo1: Ich will hier etwas ausholen. Bei der Substanzsucht werden psychoaktive Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Heroin, Cannabis usw. konsumiert. Parallel zur Substanzsucht hat sich ein neues Suchtfeld entwickelt. In diesem stehen psychoaktive Produkte im Mittelpunkt. Es sind Produkte, aus denen sich eine Verhaltenssucht entwickeln kann. Bestimmte Produkte wie das Internet – und darunter fallen Bereiche wie Youtube, Instagram, Gaming usw. – beeinflussen den psychischen und physischen Organismus des Menschen. Die Glückspielsucht zählt auch zur Verhaltenssucht. Die Geldspielautomaten sind so entwickelt, dass sie mit der Spielerin oder dem Spieler interagieren. Je länger jemand spielt, umso intensiver wird das Spiel. Die Interaktion verdichtet das Verhältnis von Mensch und Maschine. Je mehr dieses Verhältnis verdichtet wird, desto grösser ist die Gefahr einer Abhängigkeit. Bei einem Geldspielautomaten ist diese sehr gross, bei einem Lottoschein gering. Die Schnittstelle zwischen mir und dem Produkt verdichtet sich von Jahr zu Jahr. Beispielsweise erkennt die Smartwatch meine psychophysiologischen Werte, in Zukunft wird die Uhr mit mir interagieren können. Die Vermengung von Mensch und Maschine, die enge Verknüpfung von mir mit dem Produkt, ist die Basis einer möglichen Suchtentwicklung. Ich will dies mit einem Vergleich zwischen Geldspiel und Internetnutzung verdeutlichen. Beim Geldspiel wirkt z. B. der Geldspielautomat wie eine psychoaktive Substanz. Ich gehe zur Konsole hin, spiele und gehe wieder weg. Die Konsole bleibt ein fremdes Objekt mir gegenüber, jedoch mit einem grossen Einfluss auf mein Empfinden. Sie verwebt sich jedoch nicht mit meinem Leben, meiner Geschichte, meinem Denken, Wahrnehmen und Fühlen. In der digitalen Welt sieht dies ganz anders aus. Ich habe in der digitalen Welt die Möglichkeit, mich in ganz unterschiedlichen Welten zu bewegen. Ich kann mich beispielsweise per «Zoom» mit einer realen Person treffen. Ich kann einem «Es» begegnen, das von einer Maschine generiert wurde, und ich habe die Möglichkeit, mit digitalen Personen zu kommunizieren, die von Menschen erschaffen wurden. Je mehr das «Es» seine Objektivität verliert, desto mehr wird es zum Subjekt. Dieses «Es» folgt der Intention der Maschine und dient gewissen Zwecken. Zum Beispiel kann es wie die Smartwatch um meine Gesundheit besorgt sein oder auch versuchen, mich länger online zu halten. Meine Fähigkeiten, mein Denken und meine Wahrnehmung passen sich der digitalen Welt an. Das «Es» beginnt sich mit mir zu verweben, die Trennung von Subjekt und Objekt wird aufgehoben. Dieses Ineinandergehen von Subjekt und Objekt macht auch die Therapie sehr schwierig. Wie soll das ins Subjekt integrierte Objekt vom Subjekt getrennt werden? Bei der Alkoholsucht werden durch die Therapie die psychologischen Prozesse neu reguliert und der Patient fühlt sich nach der Therapie besser. Er gewinnt an neuer Lebensqualität. Das Leben ist jetzt besser als vorher. Bei der Onlinesucht, wo es eine Koexistenz von Ich und digitaler Welt gibt, führt eine Therapie zu Beginn zu weniger empfundener Lebensqualität. Denn meine digitalen Identitäten gehören zu mir, sind ein Teil von mir. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Bei jungen Menschen ist es vor allem die Selbstwirksamkeit, die sie über Stunden im Internet hält. Im Internet haben sie die Möglichkeit, etwas gestalten zu können, was sie zutiefst befriedigt. Sie machen die Erfahrung, dass sie mit ihrem Dasein etwas bewirken können. Wie viele Menschen werden in ihrer Wirksamkeit in der terrestrischen Welt begrenzt?! Im Netz gibt es keine Beschränkungen. Die jungen Menschen finden immer ein Produkt, das ihnen entspricht, bei dem sie gestalten können und das von anderen Menschen belebt wird. Sie erleben im Netz auch so etwas wie Ruhe, was sie real vermissen.
Diese enge Verknüpfung von Subjekt und Objekt mit ihren Konsequenzen stimmt mich nachdenklich.
Ich frage mich: «Ist Onlinesucht eine Sucht?» Kann von Sucht gesprochen werden, wenn jemand über lange Jahre digitale Produkte nutzt, mit ihnen lebt und es zu einer Koexistenz von Ich und «Es» kommt? Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Gestern hatte ich einen Erstkontakt mit einer Person. Die Kontaktaufnahme erwies sich im Voraus als schwierig. Der Erstkontakt geschah dann über die digitale Plattform Zoom. Als Eingangsbild erwartete mich ein Haus im amerikanischen Stil, im Wohnzimmer knisterte das Kaminfeuer, Regen prasselte aufs Hausdach. Im zweiten Schritt begegnete ich dem Avatar2 dieser Person. Diese Person lebt seit vielen Jahren in wechselnden Avataren. Wenn ich das Verhalten dieses Menschen als Sucht deklariere, dann entmenschliche ich diese Person. Für mich als Psychotherapeut war dies eine skurrile Begegnung. Meine Herausforderung besteht darin, neue Formate der Begegnung mit diesen Menschen zu finden und sie therapeutisch zu begleiten. Ich muss mich auf ihre Lebensformen einlassen. Wenn ich auf die Gesellschaft schaue, sehe ich, dass sie in ihrer Beschäftigung mit diesem Thema erst ganz am Anfang steht. Wie gehen wir mit der Verschmelzung von Mensch und Maschine um? Erhält ein Avatar Rechte? Auf diese Fragen muss die Gesellschaft noch Antworten finden und dann entsprechende Konsequenzen auf der Ebene der Intervention und der Prävention ziehen. Durch die Digitalität werden wir als Gesellschaft auch auf Werte aufmerksam gemacht. Wir haben uns zu fragen, welche Werte uns wichtig sind, welche wir erhalten wollen und welche wir als bedeutungsvoll und existenziell erachten. Ich will noch ein Wort zur neuen Zuteilung der Weltgesundheitsorganisation sagen. Ich finde es schade, dass die Sex- und die Kaufsucht im Internet noch nicht in die Definition aufgenommen wurden. Es gibt viele Kaufsüchtige in der Schweiz und im Vergleich zum Gamen werden viel mehr davon abhängig. Beim Gamen hat die Interaktivität einen präventiven Charakter. Alle wissen, dass es die Kaufsucht gibt. Und sie ist viel grösser und verbreiteter als die Geldspielsucht. Bei letzterer werden riesige Mengen Geld in die Präventionskampagnen investiert. Ich habe indes noch keine Kampagne gesehen, die die Menschen auf die Problematik der Kaufsucht sensibilisiert. Kaufen ist in der Gesellschaft positiv besetzt. Die Gesellschaft hat bislang keinen Zugang zum Thema und erachtet es nicht als eine psychische Krankheit. Sie ist aber eine. Hinzu kommt, dass eine hohe Verschuldung in der Regel auch das Umfeld betrifft. Die UPK sind die einzige Einrichtung in der Schweiz, die Menschen mit Kaufsuchterkrankung stationär behandeln.
Welche Sehnsucht steckt hinter der Onlinesucht?
Insbesondere junge Menschen halten Ausschau nach Erfüllung, Halt, Anerkanntwerden, menschlicher Nähe und sozialen Kontakten. In der digitalen Welt ist die Erfüllung dieser Sehnsucht machbar und erlebbar. Die Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, bilden einen kleinen Ausschnitt von denen, die sich digital intensiv beschäftigen und unterwegs sind. Es sind Menschen, die nur schwer ihren Ort in der Gesellschaft finden. Sie weisen oft Erkrankungen im autistischen Spektrum wie das Asperger-Syndrom auf, sie zählen zu den Personen mit ADS oder ADHS und/oder kamen in der Arbeitswelt nicht zurecht. Sie machten und machen die Erfahrung, dass sie den gesellschaftlichen Ansprüchen nicht genügen. Es sind Menschen, die nicht gesehen und anerkannt werden. Teils sind sie in ihrer Biografie sozial vorbelastet. Sie haben Schwierigkeiten, in soziale Interaktionen zu treten. Ihre Beziehungsfähigkeit ist eingeschränkt, ihre Entwicklung ist gehemmt. Demgegenüber sind sie digital sehr gut unterwegs. Sie handeln, gestalten und sind hoch motiviert. Sie erschaffen mit viel Fleiss, Kreativität und Einsatz ganze Welten. Jedoch ist es ihnen nicht möglich, das gleiche in der realen Welt zu tun.
Weshalb können sie diesen Transfer in die reale Welt nicht machen?
Ein Gamer fühlt sich in der realen Welt als unzureichend und unfähig. Ein Formular auszufüllen übersteigt seine Kräfte. Wenn jemand über mehrere Jahre vornehmlich digital unterwegs ist, entwickelt sich sein Organismus entsprechend. Die Sinnesorgane verändern sich; Riechen und Schmecken werden weniger gebraucht; Hören hingegen wird gestärkt und gefördert. In der Psychotherapie führe ich die Klientinnen und Klienten an ihre Fähigkeiten heran, die sie digital besitzen, und leite sie an, diese auch terrestrisch umzusetzen. In der letzten Woche hatte ich einen Klienten erstmals hier, der seit zehn Jahren – seit seiner Matura – im Internet spielt. Er kam ziemlich verwahrlost zur ersten Begegnung. Die Kleider waren schmutzig und stanken, die Haare waren ungepflegt. Ich habe ihn zuerst gebeten, zum Coiffeur zu gehen, und ihm aufgetragen, neue Kleider zu besorgen. Denn meine leiblichen Reaktionen auf seine schmutzigen und stinkigen Kleider sind für ihn wahrnehmbar. Das führt zu Interaktionsstörungen. Eine therapeutische Beziehung kann so nur schwer aufgebaut werden.
Woran merkt ein Familienmitglied oder ein Mitarbeiter, dass jemand in eine Onlinesucht rutscht?
Wenn die Ansprüche des terrestrischen Lebens nicht mehr eingelöst werden: schulische, soziale, berufliche. Wenn die Person das terrestrische Leben vernachlässigt, es nicht mehr gestaltet und dies trotz massiver Einwirkung des nahen Umfeldes auf den Süchtigen oder die Süchtige. Bei dem vorhin genannten Klienten haben die Eltern über zehn Jahre dessen Krankenversicherung bezahlt. Er war die ganze Zeit bei ihnen wohnhaft. Ich habe ihn neben dem Coiffeur auch aufs Sozialamt geschickt, damit er lernt, Schritt für Schritt Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.
Welche Entwicklungen im Bereich der problematischen Internetnutzung beobachten Sie in den letzten Jahren?
Ich mache zwei Entwicklungen aus. Die erste beängstigt mich. Wenn jemand zehn Jahre lang «Civilization» im Internet spielt, dann erschafft er etwas. Er erstellt zum Beispiel eine Türe, die sich automatisch öffnet, er erklimmt einen Berg mit etlichen Herausforderungen. Das heisst, sein Gehirn ist aktiviert. In seiner Vorstellung passiert dies. In den letzten Jahren beobachte ich immer mehr digitale Produkte, die die Nutzerinnen und Nutzer gestalterisch nicht bis wenig herausfordern, sondern blosse Betäubung sind. Bei Youtube, Tik Tok usw. sind die Nutzerinnen und Nutzer passiv. Der Organismus Mensch mit seinen Verhaltensstrukturen wird nicht aktiviert. Das Passive war früher das Endstadium jener, die über Jahre fast nur noch in der digitalen Welt lebten. Sie waren verkümmert. Heute setzt dieser Prozess schon viel früher ein. Das ist erschreckend und beängstigend. Und die Prävention hat dies noch nicht im Blick. Es sind nur ganz wenige Personen, die diese Entwicklung wahrnehmen. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen und zu differenzierten Konsequenzen zu kommen. Das Internet verteufeln ist kein Weg. Mir schwebt vielmehr die Entwicklung von tollen Apps vor, die die Nutzerinnen und Nutzer herausfordern und fördern. Auch die Kombination von digital und terrestrisch erachte ich als zukunftsweisend. Zweitens beobachte ich, dass die Nutzerinnen und Nutzer früher lange ihrer Sparte treu blieben. Sie bewegten sich innerhalb ihrer Sparte und entwickelten sich da weiter. Heute bewegen sich die Nutzerinnen und Nutzer in unterschiedlichen Sparten. Sobald ihnen eine Aufgabe zu schwierig wird oder die Sparte ihnen zu langweilig wird, wechseln sie. Sie weichen den Herausforderungen aus. Die Folge ist ein ständiger Wechsel der digitalen Identität. Sie gehen immer und kennen kein Bleiben. Ich erachte das Bleiben als einen Moment der Befriedigung. Auch wenn diese Entwicklungen mich erschrecken, sehe ich keine düstere Zukunft. Ich kenne Jugendliche, die mir sagen, dass sie mit Telefon und SMS viel besser zurechtkommen als mit dem Smartphone.
Am 9. Juni, einen Tag nach dem ich das Gespräch mit dem Psychologen Renanto Poespodihardjo führte, sprach sich der Nationalrat für verbindliche Jugendschutzregeln für Filme und Games aus. Minderjährige sollen vor Medieninhalten in Filmen und Games geschützt werden, die ihre körperliche, geistige, psychische, sittliche und soziale Entwicklung gefährden könnten. Dabei geht es vor allem um Sex- und Gewaltdarstellungen in Filmen und Games.
Interview: Maria Hässig