Immer digital erreichbar

Studien belegen, dass Jugendliche durchschnittlich in der Freizeit rund 37 Stunden pro Woche am Bildschirm verbringen. Thomas Boutellier weiss aus Erfahrung, dass sie Gespräche am Lagerfeuer dem Bildschirm vorziehen.

Mitten im Sommerzeltlager lese und beantworte ich meine Mails in Echtzeit. Nebenan spielen Kinder und Jugendliche und verlieren keinen Gedanken an ihr Smartphone. Sie sind damit beschäftigt, «echte» soziale Interaktion einzuüben, und das Smartphone ist in erster Linie ein Musikinstrument. Diese Situation zeigt gut, dass wir inzwischen alle in irgendeiner Form von Medien und deren Endgeräten abhängig sind. Wenn in einem Raum mit Menschen unter 50 nach der Uhrzeit gefragt wird, raschelt es und viele, sehr viele nehmen ihr Handy hervor, um nach der Uhrzeit zu sehen. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden das sicher 90 Prozent sein. Mit den Smartwatches ist zudem eine neue Komponente dazugekommen, die dauernde Erreichbarkeit ohne den Blick aufs Handy.

Fast eine Arbeitswoche online

Die Medienabhängigkeit lässt sich auf mehreren Ebenen aufzeigen. 99 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben heute ein Smartphone.1 Durchschnittlich verbringen Jugendliche 5 Stunden 17 Minuten und 24 Sekunden pro Tag am Bildschirm ihres Lieblingsgerätes. Das macht rund 37 Stunden in der Woche, also rund 90 Prozent einer Arbeitswoche.2  Erschreckend dabei ist, dass viele Erwachsene diese Zeiten ebenfalls erreichen. Wenn wir das Smartphone schon in den Händen haben, dann ergeben sich daraus auch logische Konsequenzen. Wir rufen mit ihm Wissen ab. Der Bildschirm ist gerade gross genug für wenige Sätze. Wir sehen immer das Wissen, das uns auf dem kleinen Bildschirm vorgegeben wird. Hier findet eine grosse Medienabhängigkeit statt, die uns mehr oder weniger unbewusst von den Anbietern wie Google und Co. gefiltert entgegen kommt. Wir lesen immer die gleichen Quellen. So ist zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche  bei politischen Diskussionen die Meinung der Eltern mit meist populistischen Haltungen aus dem Netz vermischen. Gerade in der Coronazeit kommt dieser Medienabhängigkeit eine besondere Rolle zu. Die populistischen, querdenkerischen Standpunkte sind sehr prominent und mit viel Aufwand auf den ersten Plätzen der Suchmaschinenergebnisse platziert. Wer sich nicht die Mühe macht, weiter zu scrollen, wird nur eine Botschaft lesen.

Spielen, vernetzen, präsentieren

Neben dem Smartphone sind Jugendliche selbstverständlich noch auf anderen Endgeräten unterwegs. Trotzdem nutzen sie immer etwa die gleichen Apps, auch auf dem PC oder dem Tablet. Die wichtigsten dieser Apps sind solche, bei denen sie sich präsentieren können und müssen. Auf Tik Tok, Instagram usw. verbringen die Jugendlichen Stunden. Es geht hier um Selbstdarstellung, Fremdschämen und vor allem um Likes und Views. Am Ende des Tages zählt, wer mich wahrnimmt und wie viele es sind. Damit verbringen Jugendliche viel, sehr viel Zeit: Mädchen bis zu 20 Stunden in der Woche.

Spannenderweise sind die jungen Männer da zurückhaltender mit elf Stunden.3 Danach folgt die Kommunikation auf den verschiedensten Kanälen. Doch weil auch da Fotos, Videos und Statusmeldungen abgesetzt werden, ist sehen und gesehen werden hier ebenfalls ein zentrales Thema. Ob wir bei diesen Zahlen von Sucht sprechen können, steht auf einem anderen Papier geschrieben. Die Zahlen zeigen einfach ein anderes Freizeitverhalten. Was Kinder und Jugendliche früher Fussball spielten und im Wald waren, findet heute auf dem Smartphone.

Veränderungen in Coronazeiten

Vergleicht man die Mediennutzungszeiten der Jugendlichen im Zeitraum vor Corona mit dem ersten Lockdown April/Mai 2020 und dem zweiten Höhepunkt der Pandemie im Januar 2021, dann zeigen sich klare Tendenzen. Die Nutzungszeit der Medien hat sich im ersten Lockdown selbstverständlich vergrössert (Homeschooling). Die digitale Kommunikation und die Nutzung der sozialen Netzwerke nehmen im Vergleich zur Zeit vor Corona um mehr als 30 Minuten pro Tag zu. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass die «analoge» Kommunikation komplett ausgefallen ist.4 Weibliche Jugendliche kommunizieren mehr in diesen Zeiten und lesen mehr Bücher. Männliche Jugendliche spielen mehr Spiele und schauen mehr Fernsehen. Im Vergleich dazu nimmt die Zeit für körperliche Betätigung nicht ab. Im Januar 2021 fallen die Nutzungszeiten der digitalen Medienwelt sogar wieder hinter die Zahlen von vor Corona zurück. Dies entspricht auch den Beobachtungen der Kinder- und Jugendarbeit, die ein vermehrtes Bedürfnis nach realen Treffen und Aktivitäten in der zweiten Phase der Pandemie feststellte. Angebote, welche durchgeführt werden durften, wurden sehr rege genutzt.

Homeschooling und Medien in der Freizeit

Die Umfragen ergaben, dass bei Jugendlichen während des Homeschoolings die Bildschirmzeit in der Freizeit nicht zunimmt. Offenbar können und wollen sie irgendwann nicht mehr in den Bildschirm schauen. Das gilt aber nicht für alle Jugendlichen. Es gibt immer die, die anfälliger sind, sich in den Medien, in den Spielen zu verlieren. Im Grossen und Ganzen kann man aber sagen: Wer vor Corona kein Problem hatte mit dem Konsum von digitalen Medien und Spielen, hatte es auch in der Coronazeit und danach nicht. Was hingegen immer wieder Probleme bereitete und bereitet, ist das bewusste Abgrenzen von Musszeiten und Kannzeiten. Wann muss ein Kind oder ein Jugendlicher die Medien für die Schule nutzen und wann machen sie es zusätzlich oder spielen anstatt zu lernen?

Aufklären und aufdecken

Im Religionsunterricht, der Jugendarbeit oder bei den Jugendverbänden kommen die Lehrpersonen und Begleitenden mit Mediensucht oder extensivem Medienkonsum spürbar in Kontakt. In den von ihnen gestalteten Aktivitäten und Zeiten können sie die problematischeren Seiten dieses Medienkonsums mit den Kindern und Jugendlichen thematisieren. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen schon in der Unterstufe mit dem Thema Medienkompetenz konfrontiert werden, schaffen es gewisse Erkenntnisse nicht aus dem Schulzimmer heraus. Oft brauchen Kinder und Jugendliche einen Anstoss, um Gelerntes im Leben umzusetzen. Hier sehe ich die grosse Chance für Religionpädagoginnen und Jugendarbeiter.

An einem der Firmabende fragen wir jeweils die Jugendlichen, wann sie das letzte Mal nichts getan haben. Diese Frage können wir uns alle stellen. Was machen wir, wenn wir mal nichts zu tun haben? Ich selbst nehme automatisch mein Handy hervor und schon ist das Nichtstun vorbei. Wir lassen die Jugendlichen einmal bewusst nichts tun. Mindestens zehn Minuten müssen sie es aushalten, nach oben ist die Zeit offen. Regelmässig brechen wir die Übung nach 45 und mehr Minuten ab, weil dann immer noch ein Grossteil der Jugendlichen nichts tut. «Es tut einfach gut, mal nicht aufs Handy zu schauen, zu planen usw.», ist dabei eine vielgehörte Aussage. Doch es gibt auch die anderen, die sofort zappelig werden. Hier ist es an uns, mit den Jugendlichen genau anzuschauen, warum sie es nicht aushalten. Dabei ist in der Regel nicht das Handy selbst das Problem, sondern es sind «soziale» Gründe, zum Beispiel die Angst, etwas zu verpassen.

Als wir vor einigen Jahren auf der Rückfahrt von Taizé die Schweizer Grenze passierten und wieder das Schweizer Mobilfunknetz hatten, kamen von den Jugendlichen die Zahlen der verpassten Nachrichten – alle im vierstelligen Bereich für vier Tage Auszeit. Auf dem Rastplatz kamen wir darüber ins Gespräch: Wie viele der hunderten Nachrichten hatten eine Relevanz? Was haben sie wirklich verpasst? Welche Nachrichten bestanden nicht nur aus Emojis? Haben sie mehr verpasst als erlebt? Führen wir Diskussionen über Werte, dann besteht unsere professionelle Aufgabe als Religionspädagogen und Jugendarbeiterinnen immer weniger darin, Stellung zu nehmen. Immer öfter gilt es, Fake News zu erkennen und das Wissen in einen grösseren Kontext einzuordnen.

In unseren Handlungsfeldern treffen wir immer wieder auf Kinder und Jugendliche, die einen problematischen Umgang mit Medien haben, die zu viel gamen, die sich in bestimmten Bildern und Gruppen «verlieren». Das Format der informellen Bildung hilft uns, Klischees zu durchbrechen. Es hilft, auch einmal im Wald über Medien zu diskutieren. Das schafft eine gesunde Distanz, mit der es gelingt, das eigene Handeln besser einzuordnen. Zu guter Letzt – das zeigen nicht nur Pfadi und Co.: Die Jugendlichen ziehen auch heute noch ein gutes Spiel, ein Feuer oder eine angeregte Diskussion  einem Like auf Tik Tok, Instagram und Co. jederzeit vor.

Thomas Boutellier

 

1 vgl. JAMES-Studie 2020 der ZHAW; die Studie kann heruntergeladen werden unter www.zhaw.ch (Psychlogie, Upload, Forschung, Medienpsychologie, James 2020).
2 vgl. Social Media Studie 2021 der XEIT Gmbh, die Studie kann unter www.xeit.ch bestellt werden.
3 vgl. ebd.
4 Jugend in Zeiten der Covid19-Pandemie. Ergebnisse einer Wiederholungsbefragung von Jugendlichen im Kt. Zürich, März 2021 (ZHAW). Mit der Eingabe des Titels kommen Sie direkt auf das pdf: https://digitalcollection.zhaw.ch

 


Thomas Boutellier

Thomas Boutellier (Jg. 1979) ist Religionspädagoge und Stellenleiter der kirchlichen Fachstelle Jugend der römisch-katholischen Synode des Kantons Solothurn. Er ist darüber hinaus nationaler Krisenverantwortlicher der Pfadibewegung Schweiz.