«Wer in der Kirche bewusst lebt, lebt schon in einer poetisch organisierten Welt», ist Heinrich Detering (*1959) überzeugt. Offen bekennt sich der Literaturprofessor als gläubiger Christ und erklärt die Bibel zu seinem Lieblingsbuch: «Die grossen Menschheitsfragen, die Fragen nach Gott und Welt werden in diesem heiligen Buch auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet. Wer sich an diese Texte halten will, muss ihre Widersprüche austragen, muss mit ihnen leben, muss in die Diskussion eintreten.» Dabei weiss Detering, dass «die eigentliche Mitte» der «vielleicht gerade darum heiligen Schrift», ihr Kern «im Dunkeln», ja «für alle, die darüber schreiben, auch noch für den Apostel Paulus, immer ein Mysterium» bleibt. Der theologisch interessierte Germanist ist als Lyriker selbst auch literarisch tätig. Immer wieder finden sich in seinen Gedichten poetisch entfaltete theologische Sujets und Assoziationen auf biblische Motive. Ein herausforderndes Beispiel ist «Nach Golgatha» (aus Deterings Gedichtband «Wrist» von 2009):
Als wir dann zurückkehrten in die Stadt,
hatte keiner etwas von einem Erdbeben bemerkt.
Es hatte leicht zu nieseln begonnen, die Steine
waren schlüpfrig, es war kein Vergnügen.
Seit drei etwa hatte es sich zugezogen vom Meer her, das
war die Dunkelheit, von der manche sprachen, später,
das war alles.
Wir hatten keine Gestalt gesehen
die uns gefallen hätte, nur ein zähes
Schauspiel, zu roh wie fast immer
und ermüdend.
So gingen die meisten schweigend.
Wir dachten an die Kinder, an das Abendessen,
an den Abend nach dem Essen, an die Nacht danach.
Sechs Tage lang haben wir auf diesen Abend gewartet,
wie jede Woche, wie jede
Woche. Nun ist er da, der Tag hat sich geneigt, es war ein langer Tag,
wie fast immer. Auch draussen
wird jetzt Ruhe sein.
Morgen ist arbeitsfrei.
Übermorgen dann alles wie gehabt.
Eine nicht näher charakterisierte Menschengruppe kehrt enttäuscht nach Hause zurück. Wie so oft. Nach sechs Tagen Arbeit und Alltagsroutine hatten sie sich eine Abwechslung erhofft. Nur aus dem auf den Ort der Kreuzigung Jesu verweisenden Gedichttitel ist zu erschliessen, dass es sich bei dem Spektakel um eine öffentliche Hinrichtung handelt. Solche Public Viewings waren ein nicht seltener, von vielen Schaulustigen aufgesuchter Zeitvertreib – unter Pontius Pilatus erfolgten an die zwei Kreuzigungen pro Tag.
Dieses Mal wird jedoch «nur ein zähes Schauspiel» geboten, «zu roh wie fast immer und ermüdend». «Keine Gestalt» war zu sehen, «die uns gefallen hätte». Die Stimmung der sich müde nach Hause Schleppenden ist gedrückt, immerhin ist morgen «arbeitsfrei». Und übermorgen geht die Tretmühle weiter wie eh und je: «alles wie gehabt». Unüberhörbar enthält der Text Anspielungen auf die biblischen Passionserzählungen und weist ihre Bedeutung ab: «von einem Erdbeben hatte keiner etwas bemerkt», für die dreistündige «Dunkelheit, von der manche später sprachen», gibt es ganz natürliche Ursachen. Was für das Neue Testament die österlich-endzeitliche Totenauferstehung markiert, die den gewohnten Lauf der Dinge ins Wanken bringt, wird als Erfindung abgetan: Nichts Ungewöhnliches. Alles wie fast immer.
Erhellendes Gegenbild
Deterings Gedicht funktioniert als erhellendes Gegenbild, ja, als Kontrasttext zur christlichen Deutung des Kreuzestodes Jesu von Ostern her. Und bringt gerade so die Ungeheuerlichkeit christlicher Osterhoffnung – die bewusst ausgesparte «eigentliche Mitte» – zum Leuchten. Dass Christen von diesem qualvoll zu Tode Gemarterten erzählen, dass er nicht im Tod geblieben ist, vielmehr von Gott zu neuer Lebendigkeit auferweckt wurde – das ist die unerwartete Unterbrechung der bis ins Heute verlängerbaren Kette von Hinrichtungen unschuldiger Opfer (un-)menschlicher Gewalt, die bleibend-endgültige Aufrichtung des von Jesus neu erschlossenen Heils-von-Gott-her.
Von seinem durch Ostern von Gott ins Recht gesetzten Leben erzählen, von seinem anstössig-befreienden Reden und Handeln bis in den Tod, ist schon Einspruch gegen den Tod! Dass man sich mit dem Kreuzigungstod gerade dieses Menschen nicht einfach abfindet, ihn vielmehr beklagt, bahnt gegenüber dem heillos resignativen «so wie immer» eine Verwandlung an als Zugang zum Ostermysterium − Gottes grundstürzendes grosses Ja, das durch ein Zuviel leicht zerredet wird.
Christoph Gellner