«Am Anfang war der Tanz», so lautet der Titel des neu erschienenen Büchleins mit rotem Einband mit bisher unveröffentlichten Texten von Silja Walter.1 Es liegt auf dem dunklen Holztisch, an dem die Katechetin Daniela Siegrist und ich zum Gespräch sitzen. Am Anfang war der Tanz – nicht ganz im Leben von Siegrist. Als Kind hätte sie gerne die Ballettschule besucht, aber das lag ausserhalb der familiären Reichweite. Der Tanz fand später, in einer schwierigen und herausfordernden Phase in ihr Leben, und seitdem ist er Dreh- und Angelpunkt, um den ihr Leben kreist.
SKZ: Was bedeutet für Sie denn tanzen?
Daniela Siegrist: Ich verstehe das Menschsein zwischen Himmel und Erde ausgespannt und aufgerichtet. Tanzen bedeutet für mich, meine Biografie, auch mit ihren Brüchen, in leiblichen Bewegungen auszudrücken, zu symbolisieren und mich mit Lebensthemen wie Geburt und Tod, Freude und Leiden, Konflikt und Versöhnung, Enttäuschung und Erfüllung, Verstrickung und Lösung auseinanderzusetzen. Im Tanzen lerne ich, meinen Lebensweg anzunehmen und im Fluss der tänzerischen Bewegung weiterzugehen. Tanzen ist Aufrichten und Ausrichten und deshalb Einübung ins Menschsein. Ich komme ins Menschsein.
Verstehe ich Sie richtig: Tanzen hat wesentlich mit Versöhnung zu tun?
Ja, tanzen hilft, das Leben zu bejahen, anzunehmen und mit ihm versöhnt zu sein. Tanzen hilft, seinen eigenen Weg zu finden und auf ihm zu bleiben. Ich übe Meditation des Tanzes aus. Diese Form des Sakraltanzes ist auch ein Erkenntnisweg, ein Weg der Selbsterkenntnis, und zwar über leibliche Bewegungen und Erfahrungen. Auch lerne ich leiblich Haltungen wie Dankbarkeit kennen und lerne darin zu wachsen. Aber tanzen ist viel mehr. Tanzen ist auch ein Weg zu Spiritualität und ein Weg in die Stille. Tanzen, dieses Aufrichten und Ausrichten als zentrale Bewegungen in der Meditation des Tanzes, bedeutet für mich beten. Tanzen ist Gebet. Und dies immer in Gemeinschaft mit anderen, das ist ganz wichtig.
Sie sprachen von Meditation des Tanzes. Was muss ich genau darunter verstehen?
Meditation des Tanzes kommt aus dem klassischen Tanz. Ihr Begründer war der Ostdeutsche Bernhard Wosien (1908–1986). Er war Ballettmeister, Choreograf und Professor für Ausdruckspädagogik und Tanz. Er setzte sich intensiv mit traditionellen europäischen Folkloretänzen beispielsweise aus Osteuropa und dem Balkan auseinander. Er kam zudem in Kontakt mit der spirituellen Gemeinschaft in Findhorn in Schottland2 und der Friedensbewegung der 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Herkommend vom klassischen Tanz und in Berührung mit diesen verschiedenen Tänzen und Bewegungen entwickelte er die Meditation des Tanzes. Bekanntestes Beispiel ist der Sonnentanz. Wosiens Tanzchoreografien drücken die Sehnsucht nach Spiritualität, Gemeinschaft und Frieden aus. Aus diesem Grund ist Meditation des Tanzes nicht nur Tanzen, nicht nur eine Einübung in Stille und Meditation, sondern sie ist auch Versöhnungs- und Friedensarbeit. Meditation des Tanzes ist Arbeit, Arbeit an sich selber und am Frieden. Seine langjährige Schülerin und Mitarbeiterin Friedel Kloke-Eibl (Jg. 1941) – auch sie kommt aus dem klassischen Tanz – verband Meditation des Tanzes mit der méditation en croix/Kreuzmeditation. Sie hat die Meditation des Tanzes weiterentwickelt und über 250 Tänze choreografiert und über 800 Menschen weltweit in dieser Tanzweise ausgebildet. Die Kombination von Musik, Bewegung, Körperarbeit und Text führt zu sehr gehaltvollen und tiefen Tänzen. In der Meditation des Tanzes sind Texte ein ganz wichtiges Element. Poetische Texte, biblische Geschichten oder auch Märchen fliessen ein. In ihnen kommen Lebensthemen zur Sprache, die im Tanz bearbeitet und vertieft werden.3
Wie verbinden Sie Meditation des Tanzes und Katechese?
In Worb, wo ich seit 13 Jahren als Katechetin tätig bin, gab es zu Beginn meiner Tätigkeit im Advent einen von der Diakonin verantworteten offenen Tanzabend. Sie kam mit der Frage auf mich zu, ob ich diesen Abend gestalten möchte. Inzwischen sind es vier Abende pro Jahr und sie gehören zu meinem Aufgabenheft. Meditation des Tanzes in meine katechetische Arbeit mit Kindern einzubringen, hängt einerseits von meiner Kraft ab und andererseits braucht es eine gewisse Atmosphäre in der Klasse. Ich kann sie nicht einfach einbauen. In Konfirmationslagern gestaltete ich auch schon den Tagesbeginn mit Gebärden und Tanzbewegungen. Anfangs ist dies für die Konfirmandinnen und Konfirmanden sehr ungewohnt, gegen Ende der Woche summen sie unbemerkt die Melodie der Musik. Das Unser Vater erarbeite ich mit den Kindern jeweils auch mit Gebärden nach der Meditation des Tanzes. Ich versuche, den Kindern und Jugendlichen verschiedene Zugänge zum Gebet Jesu zu geben.
Sie haben im Winter in der Kirchgemeinde Biglen einen Tanzkurs zum Thema «Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt» (Ps 30,12) angeboten. Wie setzten Sie das Thema tänzerisch um?
Der Tanzkurs in Biglen umfasste fünf Einheiten, hierfür wählte ich fünf bis sieben Tänze aus. Der Aufbau einer Kurseinheit ist immer gleich: Es gibt einen gleichbleibenden Anfangstext und am Schluss ein wiederkehrendes Segensgebet. Wiederholung ist ein wichtiges Element. Der Text im Mittelteil – passend zur gewählten Tanzchoreografie – wechselt in jeder Einheit. Die Tänze wählte ich so aus, dass die Teilnehmenden durch die Bewegung in die Stille und in die Meditation kommen. Sie sollten sich nicht mehr intensiv auf die Bewegungsabläufe konzentrieren müssen. Zu «Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt» wählte ich die Choreografie «Dornenkrone» aus. Bei dieser Choreografie werden die Tanzenden durch verschiedene Gebärden der Verstrickung zu Gebärden der Lösung geführt. Das Thema liesse sich mit der Choreografie «Rose» weiterführen, in der die Tanzenden durch verschiedene Schrittfolgen zur Gestaltung einer Rose kommen. «Wenn Dornen zu Rosen werden» – das verbinde ich zum Beispiel mit «Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt».
Der Tanz führte im europäisch geprägten Christentum ein marginales Dasein.
Ja, und insbesondere in der reformierten Tradition kam und kommt die Leiblichkeit zu kurz. Der leibliche Ausdruck des Glaubens ist sehr verschüttet. Wenn ich in die Bibel oder auch in die verschiedenen Religionen schaue, dann entdecke ich, dass Bewegungen und Gebärden wesentlicher Bestandteil der jeweiligen Spiritualität waren und sind. In der leiblichen Bewegung kann der Glaube symbolisch Ausdruck finden. Gebärden, leibliche Bewegungen und Haltungen sind zentral für den Glauben und die Spiritualität. Ich begegne Menschen in den Tanzkursen, die kirchlich distanziert sind oder nie wirklich mit ihr in Berührung kamen. Durch die Meditation des Tanzes erhalten sie einen Zugang zu Spiritualität und Gebet und oft auch eine Antwort auf ihre tiefste Sehnsucht.
Wie weit kann die Meditation des Tanzes in Gottesdienste integriert werden?
Die Meditation des Tanzes ist grundsätzlich nicht für Aufführungen gedacht. In Kursen werden die Schritte und Bewegungen gelernt, die Themen werden gemeinsam er- und bearbeitet. Eine Aufführung im Gottesdienst ist nicht das Ziel. In Biglen sind aber aus einem Tanzkurs einmal zwei Tänze in die Taizéfeier eingeflossen, sie wurden organisch eingebaut. Die Lieder waren Teil der Liturgie, sie wurden gesungen, und wir haben diese Lieder mit den Tänzen symbolisch bebildert und damit einen neuen Zugang zum Text der Lieder geschaffen. Die Teilnehmenden waren sehr berührt von den Tänzen, sie waren Teil der Bewegung, auch wenn sie nicht mittanzten. Es gibt übrigens auch Feiern mit Anselm Grün. Im Münster in Bern versammeln sich dabei viele Hundert Menschen zu Musik, Texten und Stille. Am Schluss werden jeweils alle zu ein paar Gebärden eingeladen, beispielsweise zu einer Gebärde des Dankes, des Friedens. Diese Gebärden können bei den Teilnehmenden viel auslösen.
Was wäre Ihr «tänzerischer» Traum?
Mein tänzerischer Traum – so viel wie möglich von der Kraft und Symbolik der Tänze in die Welt tragen. Mir ist eine gelebte, gefühlte und gebärdete Spiritualität sehr wichtig. Es gibt Menschen, die stärker auf Gebärden und die Symbolsprache ansprechen, andere finden einen leichteren Zugang zum Glauben übers Wort. Es braucht beides. In der reformierten Kirche muss die Sprache des Leibes klar gefördert werden. Die Kunst ist, beides miteinander zu verbinden. Im reformierten Gottesdienst gibt es zwei Bewegungen: erheben und absitzen. Es geht darum, diese Bewegungen neu zu füllen und sie bewusst zu vollziehen. Ich habe schon an Tanzexerzitien im Lasalle-Haus in Edlibach ZG teilgenommen. Hier habe ich die Gebärden und Bewegungen der katholischen Tradition kennengelernt und erlebt. Es war für mich eine eigene und gute Erfahrung, diese mitzumachen. Der Tanz hilft, die liturgischen Gebärden und Bewegungen neu zu füllen, sich ihrer wieder viel bewusster zu werden und sie bewusst zu vollziehen.
Daniela Siegrist zückt unter dem roten Büchlein ein Papier hervor. Ihr sei heute Morgen folgendes Gedicht von Silja Walter in den Sinn gekommen, vor allem der zweite Teil drücke das aus, was ihr am Tanzen und im Leben wichtig sei: «Die Stille singt und ganz rein wird die Nacht und Himmel und Welt sind als Ganzes gedacht» – Himmel und Welt sind als Ganzes gedacht.
Interview: Maria Hässig