«Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt» ist eine von vielen möglichen Übersetzungen eines Verses aus Psalm 30, der im Judentum bekannt ist unter dem Namen «Mismor Schir Chanukkat HaBajit – Harfenlied. Gedicht. Zur Weihe des Hauses». Der Psalm begegnet mir als religiöser Jüdin täglich, denn mit ihm eröffnet man die morgendlichen Lobsprüche (Psukej deSimra) zur Vorbereitung auf das Höre Israel (Schma) und das tägliche Gebet (Tefillah/Amidah). Dieser liturgische Ort des Psalms macht eine Deutung möglich, die sich auf das morgendliche Erwachen und den Beginn des neuen Tages bezieht, als sei jeder neue Morgen ein Tanz in den Tag hinein.
Wenn neues Leben ansteht
Rabbiner Meïr Leibusch ben Jechiel Michel Weisser (1809–1879), bekannter unter dem Akronym «Malbim», ein Rabbiner und Bibelkommentator des 19. Jahrhunderts, erklärte: «Der gesamte Psalm wurde geschaffen, um sich für die Genesung von einer Krankheit zu bedanken, es gibt keinen Zusammenhang zur Weihe eines Gebäudes. Er kann aber so erklärt werden, dass das in Frage kommende Haus eine Metapher ist für den Körper, der das Haus der Seele ist und das Zuhause der Persönlichkeit, die in ihm wohnt, denn die Seele ist die eigentliche Persönlichkeit, während der physische Körper nur ein materielles Zuhause ist, in dem sie wohnen kann.»
Andere deuten Psalm 30 so, als ob es hier um das Gebetsgebäude ginge. Synagogen sind sozusagen Mini-Tempel und unsere Gebete werden anstelle der Tieropfer dargebracht. Andere ordneten den Psalm als «Psalm des Tages» Chanukka zu, dem Gedenktag an die Wiedereinweihung des Tempels in hellenistischer Zeit, bis heute wird Ps 30 daher oft an Chanukka gelesen. Andere benutzen ihn beim Einzug in eine neue Wohnung und rezitieren ihn bei der Anbringung der Mesusot, der Kapseln mit dem Schma Israel, die sich an den Türrahmen jüdischer Häuser befinden. Eins ist jedenfalls nicht möglich: Man kann den Psalm nicht auf den Tempel in Jerusalem beziehen, denn diesen Tempel baute König Salomo bzw. Esra nach dem Exil, aber nicht König David. Es muss also um etwas anderes gehen. Da im Judentum das Verständnis eines Psalms stark von dem Setting her gedeutet wird, dass in seinem ersten Vers genannt wird, nimmt die Interpretation des ersten Verses breiten Raum ein und bestimmt die Deutung der folgenden Verse. Worüber also im Folgenden geklagt oder getanzt wird, das legt bereits das Verständnis des ersten Verses fest. Zusammengefasst lässt sich ganz allgemein sagen Psalm 30 ist ein Lied für «Anlässe der Erneuerung», ob dies die neue körperliche und seelische Kraft an jedem neuen Morgen ist oder die Genesung nach einer Krankheit, ob es Feste oder Gedenktage sind, die Erneuerungen vergegenwärtigen, oder der Einzug in ein neues Heim oder die Erfahrung von Vergebung.
Vergebung? – Vers 12 ist im Hebräischen nicht eindeutig übersetzbar. Er enthält seltsame Wörter. Was oft mit «Tanz» übersetzt wird – übrigens schon in den antiken griechischen (chorós1) und aramäischen Übersetzungen – heisst im hebräischen Text Machol. Das Wort kommt von der Wortwurzel chul «kreisen, etwas umgeben» und bedeutet zum Beispiel die Fläche, die einen Weingarten umgibt. Es kann auch einen Kreis von Sängern und Tänzern bezeichnen. Rabbi David Kimchi (1160–1235) aus Narbonne aber deutete das Wort von der Wortwurzel machal «vergeben» und las den Vers daher so: «Du hast meine Klage in Vergebung verwandelt». Aber auch das, was verwandelt wird, ist nicht einfach das übliche Jammern, sondern bezeichnet eine Enge oder Bedrängnis, ein Dilemma, eine Schwierigkeit, das Betrauern eines Verlustes. Beim Propheten Jeremia ist es Trauer, die verwandelt werden wird: «Dann wird die junge Frau im Kreistanz (Machol) sich freuen, ... ich verwandle ihre Trauer in Wonne, und tröste sie und erfreue sie nach ihrem Kummer» (Jer 31,12).
Klage und Verantwortung
Klage und Tanz, beide haben im Judentum ihre festen liturgischen Orte. Schon aus dem babylonischen Exil im 5. Jahrhundert v. d. Z. sind liturgische Klagezeremonien belegt (Jer 41,5; Sach 7,3; Ps 137; u. a.), in deren Zentrum Sündenbekenntnisse standen (Esra 9,3–15; Neh 9,1–37; Dan 9,15–19). Im heutigen Judentum sind es vor allem Fasttage, darunter besonders zu nennen ist der 9. Tag des jüdischen Monats Av, an denen die Gottesdienste von Klageliedern bestimmt werden. Am 9. Av wird das biblische Buch der Klagelieder (hebr. Echa) im Abend- und im Morgengottesdienst kantilliert, gefolgt von weiteren Klageliedern aus allen Jahrhunderten, die auf dem Boden sitzend rezitiert werden: Klagen über antike und mittelalterliche Pogrome, Klagen über Judenverfolgungen und Gemeindezerstörungen in verschiedenen Städten, über Schändungen religiöser Bücher und Torarollen, über das Leiden und Sterben von Menschen. Das Klagen geschieht jedoch nichts zum Selbstzweck. Im Judentum soll man sich nie als leidendes Opfer betrachten, sondern Verantwortung übernehmen. Die Klage zielt auf eine Reflexion über das eigene Verhalten ab. Eine Erzählung im Talmud zum 9. Av leitet das Nachdenken in eine Richtung. Dort heisst es: Warum wurde der Ort der Gegenwart Gottes, der Tempel, zerstört? Was führte zum Verlust der Anwesenheit Gottes unter den Menschen? Es war grundloser Hass, Verleumdung und fehlende Barmherzigkeit. Doch Klage im Judentum ist nie bodenlos. Im Zentrum des biblischen Buches, das nichts als Klagelieder enthält, leuchtet der Vers: «Das erwidere ich in meinem Herzen, darum hoffe ich: die Liebe des Ewigen, dass sie noch nicht aufgehört, dass noch nicht zu Ende ist Gottes Erbarmen, es ist neu an jedem Morgen, gross ist deine Treu!» (Kld 3,25). Die Klage wird nicht verwandelt in ekstatischen Tanz, aber sie wird gegründet in eine abgrundtiefe starke Hoffnung auf die niemals endende Liebe und Güte Gottes.
Der Braut entgegentanzen
Diese Liebe und Güte Gottes manifestiert sich im Judentum symbolisch in der Gabe der Tora. Man kann sie als das Heiratsdokument zwischen Gott und Israel verstehen. Das Fest der Toragabe wird daher oft als die Hochzeit zwischen Gott und Israel gedeutet. Zu einer Hochzeit gehört freilich Tanz. Und so wird am Fest Simchat Tora – Tora- freudenfest – mit den Torarollen in der Synagoge getanzt. Heutzutage gibt es jüdische Gemeinden (m. W. jedoch nicht in der Schweiz), die auch im Gottesdienst zu Beginn des Schabbat tanzen. Dies geschieht während des Schabbat-Hymnus Lecha Dodi likrat Kalla «Auf mein Freund, der Braut entgegen». Einige stehen auf und beginnen den Tanz, reichen anderen die Hand und nehmen sie in den Tanz hinein. Der Kreis der Tanzenden durch den Synagogenraum wird immer grösser – doch niemand wird gezwungen. Die einen tanzen, die anderen singen stehend in der Mitte der Tänzer, bis alle wieder zur Ruhe kommen bei den Worten: «Komm in Frieden, du Schabbat, in Freude und Frohlocken inmitten der Treuen des Gott eigenen Volkes, komm Braut, komm.» Sitzend wird dann «Ein Psalm. Lied für den Schabbattag» (Ps 92 u. 93) gesungen, welcher in das Abendgebet am Schabbat hinüberleitet. Der Schabbat gilt unter anderem als Vorgeschmack der kommenden Welt – das Ziel unseres Handelns –, in der die ganze Welt von Gottes Gegenwart erfüllt ist.
Es gibt Stimmen in der jüdischen Tradition, denen zufolge der Tanz in der Form eines Kreises – also eine endlose Aktivität – vergleichbar ist mit der endlosen Güte Gottes, die den Gerechten in der kommenden Welt zuteil würde. Einer der Vorstellungen der Zukunft ist daher ein göttlicher Kreistanz: «Ula Bira'a sagte im Namen R. Elasars: Dereinst wird der Heilige, gepriesen sei er, im Garten Eden einen Kreistanz für die Gerechten (Machol laZadiqim) veranstalten; Gott wird in ihrer Mitte sitzen, und jede/r Tanzende wird mit dem Finger auf ihn zeigen, denn es heisst (Jes 25,9): ‹An jenem Tage wird man sprechen: Da ist unser Gott, von dem wir hofften, dass er uns helfen solle; das ist der Ewige, auf den wir hofften! Lasst uns jubeln und fröhlich sein über seine Hilfe›» (Talmud Taanit 31a).
Annette M. Boeckler