«Es bleibt viel zu tun!»

Im Oktober 2019 fand in Rom die Amazonien-Synode statt. Im Vorfeld, während und unmittelbar nach der Synode wurde viel darüber geredet und geschrieben – inzwischen ist es ziemlich ruhig um die Thematik geworden.

Regina Reinart (Jg. 1969) studierte Theologie und kulturellen Anthropologie in Dublin und São Paulo. Im Rahmen ihres Promotionsstudiums untersuchte sie die Amazonien-Synode und gestaltete die Side-Events mit. Seit 2013 arbeitet sie als Brasilienreferentin beim Hilfswerk MISEREOR (Aachen) und ist u. a. für die Projekte im brasilianischen Amazonasgebiet verantwortlich. (Bild: MISEREOR)

 

SKZ: Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse der Synode?
Regina Reinart: Überzeugt, dass «alles mit allem verbunden ist in diesem gemeinsamen Haus», plädiert die Amazonien-Synode für eine ganzheitliche Ökologie und einen umfassenden Umweltschutz, der entsprechende politische Rahmenbedingungen, eine notwendige kulturelle Sensibilität und kirchlichen Kompetenzaufbau verlangt. Die 120 Absätze des Schlussdokuments (SAS) gehen auf diese Aspekte ein. Die zentralen Themen der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellín, Puebla, Santo Domingo und Aparecida wurden aufgegriffen und priorisiert. Unabdingbar ist die «Option für die indigenen Völker» (SAS 27) und der Aufbau einheimischer Ortskirchen mit dem Gesicht und Herzen Amazoniens (vgl. SAS 41). Die Synode spricht von der Stunde der Frau und von Räumen für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche sowie der Einbindung von Frauen in Entscheidungsprozesse (SAS 99–101). Es wird der Zugang zu Dienstämtern thematisiert, dabei werden explizit das Amt der Leiterin einer Gemeinde und das ständige Diakonat der Frau genannt (vgl. SAS 102–103).

Wie gross sind die Chancen, dass diese Erkenntnisse konkret umgesetzt werden?
Derzeit tut sich viel. So fand z. B. am 24. Juni ein Online-Treffen von Frauen der Amazonasregion statt, organisiert vom «Núcleo de Mulheres da REPAM», einem wichtigen Zweig von REPAM1. Nicht nur nahmen ca. 80 Frauen – überwiegend aus den neun Anrainerländern kommend – daran teil, es flossen auch die Stimmen von mehr als 170 Frauen, die sich im Vorfeld an einer schriftlichen Befragung beteiligten, in die Reflexionen mit ein. Die basisnahe partizipative Methode geht auch nach der Amazonien-Synode weiter. Es geht darum, die Stärke und die Bedeutung der Frauen in der amazonischen Kirche sichtbarer zu machen und konkrete Veränderungen in den kirchlichen Strukturen herbeizuführen, «denn ohne dies wird jedes neue Amt, das geschaffen wird, den Klerikalismus reproduzieren», so die Pressemitteilung der Teilnehmerinnen. Der kurze, aber sehr klare Text greift erneut das Motiv des Traumes auf, dieses Mal aus der Perspektive der Frauen: «Wir träumen von einer zirkulären, synodalen, interkulturellen, gemeinschaftlichen, prophetischen, missionarischen, samaritischen, verbündeten und betenden Kirche, die mit ihrem gesamten Volk gemeinsam unterwegs ist und die tatsächlichen und strukturellen Schwierigkeiten, die sie betreffen können, angeht.» Die Vertikalität solle der Zirkularität Platz machen. Die Frauen nennen die Dinge beim Namen. Es geht um ein Sichtbarmachen ihrer Präsenz, alles andere bedeute «Nährboden für Gewalt». Sie seien nicht interessiert an Macht, sondern forderten die deutliche Anerkennung ihres Wirkens vor Ort sowie die Möglichkeit, das Wort öffentlich zu verkünden und zu predigen. Auch das Diakonat der Frau müsse anerkannt werden, da dieses längst im Amazonasgebiet ausgeübt wird. Dringend notwendig aber sei die Befähigung und Stärkung der Frauen für die Leitung der verschiedenen Dienste und Ämter.

Sie schreiben, dass ein interdisziplinärer und interreligiöser Ansatz im Kontext der Mission notwendig ist. Wie könnte diesem Anliegen entsprochen werden?
Ohne z. B. die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Klimatologie, der Botanik und der Anthropologie, ohne Kenntnisse von Geschichte und den Religionswissenschaften sind die Ortskirchen verloren. Es ist dringend erforderlich, sich sowohl vom Evangelium als auch von diesen Disziplinen leiten zu lassen. Auch müssen wir die politischen Zusammenhänge sowie die internationalen Beschwerdemechanismen im Falle von Menschen-, Land- und Umweltrechtsverletzungen verstehen. Konkrete Beispiele sind das viel diskutierte Lieferkettengesetz oder das EU-Mercosur-Abkommen2. Insofern ist Mission ein hochanspruchsvolles Unterfangen, das neben einem stetig überprüften Glauben auch echtes Know-how verlangt. Ansonsten agieren wir nur in dem jeweiligen Hinterhof, was tatsächlich grosse Negativeffekte haben kann. Es geht um das Verstehen der Zusammenhänge und einen uneingeschränkt ganzheitlichen Ansatz. Im Bereich der Missionswissenschaft hat sich sehr viel getan, dennoch bleibt sehr viel mehr zu tun. Wiederum – aus der Perspektive der Frauen – müssen wir auf allen Ebenen, sei es als Ausbilderinnen in den verschiedenen Sektoren, sei es bei den Entscheidungsprozessen, vollberechtigte Stimmen haben. Und: Inhalte über Frauen müssen sowohl in den Lehrplänen vorkommen als auch von Frauen gelehrt werden.

Inwiefern wären das Wissen und die Kultur(en) der indigenen Völker im Amazonasgebiet ein Gewinn für die Kirche in Europa?
Die ca. 390 indigenen Völker Amazoniens sind sehr unterschiedlich. Es geht darum, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Papst Franziskus sagte es beim Treffen mit den Indigenen in Puerto Maldonado als auch in seiner Ansprache zur Eröffnung sowie in der Angelus-Ansprache am Ende der Synode deutlich: Ein respektvoller Umgang mit den indigenen Kulturen und ihrem vielfältigen Lebensstil, oftmals im Sinne des «buen vivir» (gutes Leben für alle) ist wesentlich. Satellitenbilder zeigen, dass dort, wo indigene Territorien von Bergbau, Agrarindustrie usw. noch unberührt sind, die Natur intakt ist. Wenn wir wirklich von dem Wissen und den Kulturen der indigenen Völker Amazoniens lernen wollen, müssen wir zunächst verlernen (vgl. SAS 81), denn die Brutalität des modernen Kolonialismus ist allgegenwärtig, so die CIDSE3-Generalsekretärin Josianne Gauthier während der Synode. Wollen wir wirklich von den Indigenen lernen, wollen wir tatsächlich einen Gewinn im Sinne von Umkehr und «buen vivir» erzielen, dann müssen wir der hemmungslosen Gier nach Wirtschaftswachstum und dem zerstörenden Ausbeuten der Natur entschlossen entgegenwirken. Wir müssen neu lernen: mit wem sonst, als mit den Indigenen, die im, vom und mit dem Wald und dem Wasser leben. Meine bescheidene Erfahrung mit den Indigenen der Munduruku und der Guarani-Kaiowá sagt mir, dass sie allesamt eine grosse Kenntnis ihrer Mitwelt haben und eine wahre Achtsamkeit tagtäglich leben. Dabei ist die eigene Spiritualität, gelebt in der Gemeinschaft, ein wichtiges Element. Ein Gewinn wäre es sicherlich, von ihrem Weltbild und ihrer Religion mit den jeweiligen Göttern Kasaikaybu und Nhanderu zu lernen. Lernen meint hier, zu verstehen versuchen und dann Erkenntnisse im jeweiligen eigenen Kontext anzuwenden.

Wo wäre aus Ihrer Sicht der beste Ort, um die Kirche Europas und Amazoniens ins Gespräch miteinander zu bringen?
Ich würde da ansetzen, wo es wehtut. Amazonien erlebt einen konstanten Karfreitag: Landraub und Bergbau zerstören den Regenwald. Indigene werden von ihren Territorien vertrieben, nicht zuletzt auch aufgrund der Profitgier Europas. Brandstiftungen in indigenen Dörfern, polizeiliche Gewaltdelikte als Reaktion auf friedliche Protestmärsche von Indigenen, Gesetzeserlasse mit verheerenden Folgen – das ist der Alltag für Indigene. Die jeweiligen Kirchen setzen hier bereits an. Europäische Hilfswerke unterstützen die Kirchen Amazoniens, um die Indigenen in ihrer Rechteverteidigung zu stärken. Wenn sich Schöpfungstheologie so versteht, dass es mit einer Bewahrung der Schöpfung bis in die letzten Konsequenzen hinein einhergeht, so wie Schwester Dorothy Stang4 es uns vorlebte, dann ist das der Ort einer Kooperation. Die Schöpfungstheologie bietet ein breites Spektrum von Bereichen, so u. a. auch der Dialog über die Schöpfungsmythen, die sich wiederum in die Liturgie der Osternacht einbauen liessen. Auch die aktive Menschen- und Landrechtsverteidigung verstehe ich als kirchlichen Auftrag im Kontext der Schöpfungstheologie. Es tun sich weitere neue Orte auf, die hoffnungsvoll stimmen. So sprechen die Theologinnen Katrin Bederna und Claudia Gärtner von einer öffentlichkeitswirksamen Theologie, die die Zeichen der Zeit nicht nur beobachtet, sondern auch kommuniziert, neu denkt und erweitert.5 Die politische Theologie wäre ein weiterer Ort, denn längst haben nicht alle europäischen Länder die Konvention ILO 1696 ratifiziert, und selbst bei einer Ratifizierung muss das Follow-up einer verbindlichen Umsetzung gesichert sein. Es bleibt viel zu tun!

Interview: Rosmarie Schärer

 

1 REPAM (Red Eclesial Panamazónica) ist das kirchliche panamazonischen Netzwerk.

2 Ein Vertrag zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten für offenere Märkte.

3 «Coopération Internationale pour le Développement et la Solidarité» ist ein Dachverband für katholische Entwicklungsorganisationen aus Europa und Nordamerika.

4 Dorothy Stang (1931–2005) war eine katholische Ordensschwester und Umweltaktivistin.

5 Bederna, Katrin und Gärtner, Claudia, Wo bleibt Gott, wenn die Wälder brennen? Welche Fragen die Klimakrise der akademischen Theologie aufgibt, in: Herder Korrespondenz 74/3 (2020), 27–29.

6 Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte indigener Völker.

Buchempfehlung: «Die Amazonien-Synode. Chance und Herausforderung der Mission». Von Regina Reinart. Studia Instituti Missiologici SVD 118. Siegburg 2021. ISBN 978-3-87710-557-3.