Handeln, das überzeugt

«Christliche Werte vertreten» lautet ein Kompetenzbereich im LeRUKa. Eigentlich liegt das Potenzial christlich gedeuteter Wertebildung für erwachsen werdende Menschen nur an einem Ort, dem Engagement.

Wer nach christlichen Orientierungsmassstäben oder Werten fragt, wartet wohl nicht lange, bis er oder sie auf Nächstenliebe und Barmherzigkeit als Leitvorstellungen eines christlichen Ethos hingewiesen wird. Das lege doch auch das einschlägige Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus Lk 10,30–37 nahe. Jesus lehre uns darin das Eigentliche christlicher Ethik. Es liessen sich hieraus die christliche Grundhaltung und Ausrichtung ableiten.

Dabei wird eine Pointe dieser Episode allerdings gern übergangen. Die Rolle des moralischen Vorbilds in dieser Episode nimmt der Samariter ein, also ein «Andersglaubender». Diese Einsicht beisst sich mit der Rede von «christlichen» Werten und müsste für sich alleine schon Grund für einen zurückhaltenden Umgang mit dieser Wortverbindung nahelegen. Und wer auf die Lehrautorität Jesu pocht, die oder der sollte zumindest nicht unterschlagen, wie nach den Evangelien Jesus wiederholt unerwartete Figuren von ausserhalb seines engsten Kreises als Vorbilder heraushebt. Einen Exklusivanspruch auf gewisse Werte und Normen jedenfalls haben Christinnen und Christen keinen.

Inhaltsleere «Identitätsmarke»?

Auch die Suggestion eines abgrenzbaren Kanons christlicher Werte ist problematisch. Unvermeidlich sind Nachfragen: Sind christliche Werte das, was Getaufte für sich als geltend anerkennen? Oder nur jene Werte, die auch real ausgelebt werden? Oder sind sie doch etwas objektiv Geltendes, egal ob Menschen sich danach ausrichten oder nicht? Instruktiv sind hier jüngste politische Debatten. Es jährte sich ja ironischerweise die heftige innerkirchliche Diskussion im Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungsinitiative, während eine in Teilen ebenso polemische Diskussion um das Referendum gegen die Änderung des Zivilgesetzbuches im Sinne einer «Ehe für alle» stattfand. Diese Streitereien bringen ein für die christliche Wertebildung relevantes Defizit zu Tage. Es betrifft die ethische Urteilsfähigkeit.

Mit Urteilen ist nicht etwa die Fähigkeit gemeint, eine Position beziehen zu können. Daran ermangelt es angesichts der bitteren Polemik auch in christlichen Kreisen offensichtlich nicht. Eine entschlossene Ja- oder Nein-Parole fassen zu können, zeugt allein allerdings noch nicht von Urteilskraft. Urteilen heisst im Gegenteil etwas «durchzudenken». Und hierzu gehört es, eine Linie zwischen der eigenen Positionierung und der persönlichen christlichen Überzeugung transparent machen zu können, also einen Begründungsweg zwischen den eigenen moralischen Orientierungsstandards und der konkreten Entscheidung offenzulegen.

Der Rekurs auf sogenannte «christliche» Werte stellt dabei eine verführerische, aber ebenso gefährliche Abkürzung dar: Verführerisch, weil so konkrete Positionen in aller Kürze vermeintlich begründet erscheinen. Gefährlich aber, weil diese Begründung nur aus einer leeren Autorität besteht und die eigentliche Begründungsaufgabe überspielt. Es reicht eben nicht aus, Werte wie Gerechtigkeit oder Besonnenheit als christliche zu benennen. Denn damit allein ist noch keine wohlbegründete Position gewonnen. Erst wenn ich aufzeigen kann, wie aus dem Gerechtigkeitsprinzip meine Entscheidung für oder gegen ein Gesetz folgt, oder weshalb Besonnenheit in dieser konkreten Frage die gebotene Haltung ist, erfülle ich diese Begründungsaufgabe. Das wiederum aber bedeutet, dass das Attribut «christlich» keine argumentative Funktion erfüllt. Es kann folgenlos gestrichen werden. Wer es dennoch gebraucht, fördert dessen Gebrauch als inhaltlich beliebigen «Identitätsmarker».

Lebensweltliche Herausforderungen

Es spricht für das Problembewusstsein des Lehrplans für den konfessionellen Religionsunterricht und die Katechese (LeRUKa), dass in ihm Wertebildung im Sinne einer Kompetenzeinübung verstanden wird. Denn es kann nicht das Ziel sein, einen vordefinierten Wertekanon in passiv Empfangende hineinzulegen, quasi wie wertvolles Wissen in ein Bankschliessfach. Vom Befreiungspädagogen Paolo Freire stammt dieses Bild einer pädagogischen «Bankiersmethode», die es zu überwinden gilt. In diesem Sinne bietet das genannte Gleichnis eine zweite Pointe. Es zielt nicht auf die moralische Erkenntnis an sich, vielmehr steht an seinem Ende der Aufruf, hinauszugehen und zu handeln. Eine Lebensform des Engagements mit der Welt gilt es einzuüben. Will man nun Menschen befähigen, die moralischen Herausforderungen in ihrer Lebenswelt positiv zu bewältigen und ihre Mitwelt bewusst mitzugestalten, dann funktioniert das nicht in einem Gestus des Lehr-Autoritarismus. Vielmehr gibt es kein Lehren ohne Lernen, und wer lehrt, lernt beim Lehren.1

Ohnehin wird sich das Lehren und damit auch jeder Lehrplan bei der Formulierung der angezielten Kompetenzen danach ausrichten, was als die lebensweltlichen Herausforderungen erkannt wird. Deutlich geht dabei der LeRUKa nicht von einem homogenen Gesellschaftsbild aus, sondern anerkennt, dass Heterogenität den Normalfall darstellt. Menschen bewegen sich in heterogenen Gruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und stehen vor der Herausforderung, darin eine eigene Identität zu bilden. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass die Vielfalt an Überzeugungen auch innerhalb der religiösen Gemeinschaften erfahren wird und eine Erfahrung von Pluralität nicht etwa vorrangig durch Überschreitung der Grenze der eigenen religiösen Gruppe entsteht. Ein gegenüber von «christlich» und «weltlich» gibt es in diesem Sinne nicht.

Die Herausforderung für christliche Wertebildung besteht so weniger in der Frage, wie ein gutes Zusammenleben in einer multireligiösen und -perspektivischen Gesellschaft eingeübt werden kann. Schon vorgelagert muss gefragt werden, wie der einzelne Mensch seine eigene Identität als eine christliche gewinnen kann und welche Rolle dabei sein moralischer Kompass einnimmt.

Damit ist angedeutet, wie die Kompetenzen aus dem Bereich «Christliche Werte vertreten» von den Kompetenzbereichen «Identität entwickeln» und «Religiöse Ausdrucksfähigkeit entwickeln» abhängig sind. Wer seine eigene religiöse Identität nicht als christliche zu erkennen und auszudrücken vermag, der wird auch keine «christlichen» Werte vertreten können. Ebenso wird eine glückende eigenständige Identität eine solche ethische Kompetenz miteinschliessen, nämlich die von anderen und von sich selbst gelebten und verfolgten Werte wahrzunehmen, sie zu reflektieren und zu begründen und schliesslich eine befreiend-sinnstiftende Ausdrucksform für das Leben zu finden.

Gerechter Zorn

Damit wäre der letzte und wichtigste Punkt angedeutet. Bei einer Wertebildung aus christlicher Sicht kann das Ziel nicht die intellektuelle Übung alleine sein. Denn auch das Schärfen der Urteilsfähigkeit ist nicht Selbstzweck, sondern zielt auf Aktivierung, also auf das «Vertreten».

Sicherlich sind für den Unterricht Diskussionen beispielsweise um ethische Dilemmata anregend und lehrreich, doch die eigentliche Herausforderung liegt darin, an der Veränderung der Welt mitzuwirken. Verbunden mit kritischem Denken sind also auch diejenigen Kompetenzen anzupeilen, mit denen es möglich ist, sich konstruktiv zu engagieren. Empirische Studien zur Wirkung des Religionsunterrichts lassen allerdings Zweifel aufkommen, inwiefern dies überhaupt ein realistisches Ziel sein kann. Die Wissensvermittlung scheint weiterhin dasjenige Ziel, welches im Unterrichtssetting am ehesten erreicht wird. Bei prosozialen Einstellungen wie Beteiligungsbereitschaft, Verantwortungsübernahme oder Gerechtigkeitsstreben hingegen ist kein positiver Effekt zu beobachten. In einem gesellschaftlichen Umfeld, welches die Katechese immer weiter aus dem schulischen Kontext hinausdrängt, eröffnet folgende Beobachtung allerdings Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Wird Wertebildung praxisbezogen gestaltet und bezieht sie sich auf Praxiserfahrungen in einem Engagement, erzielt sie Wirkung. Werden solche praktischen Erfahrungen reflektiert, dann können sich Handlungsbereitschaft und wertschätzende Haltungen entwickeln, gerade auch gegenüber sonst fremd bleibenden Gesellschaftskontexten.2 Um nochmals einen Gedanken von Paolo Freire aufzugreifen: Für eine Engagementbereitschaft braucht es neben Kenntnis auch die emotionale Ergriffenheit durch «Zorn». Berechtigter Zorn auf Ungerechtigkeit, Lieblosigkeit oder Ausbeutung benötigt aber der Einordnung in der gemeinsamen Reflexion, um sich nicht zu Hass hochzuschaukeln.3 Wer also will, dass christliche Werte wirklich vertreten werden, der oder die muss auf soziale Praxiserfahrung setzen und deren Reflexion fördern.

Gregor Scherzinger

 

1 Freire, Paulo, Pädagogik der Autonomie. Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis, Münster, New York, München, Berlin 2008, 25–26.

2 Vgl. Unser, Alexander, Der Reli-Effekt. Bewirkt der Religionsunterricht, was er bewirken soll?, in: Herder-Korrespondenz Spezial. Das Lieblingsfach. Warum Religionsunterricht unterschätzt wird, Freiburg i. Br. 2021, 3–25.

3 Freire, Paulo, Pädagogik der Autonomie, 40.

Die SKZ veröffentlicht in loser Folge Beiträge zu den Kompetenzbereichen des «Leitbild Katechese im Kulturwandel». Weitere Informationen zum Leitbild finden sich unter www.reli.ch


Gregor Scherzinger

Dr. theol. Gregor Scherzinger (Jg. 1982) lehrt am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern allgemeine und theologische Ethik und arbeitet in der Diakonieanimation der Caritas St. Gallen-Appenzell. (Bild: Peter Dotzauer)