SKZ: Wie kam es zu diesem Buch?
Esther Vorburger-Bossart: Sowohl bei meinen Forschungsarbeiten für das Lizenziat wie auch für die Dissertation über «Identitäten in der katholischen Frauenbildung» sah ich in den Archiven der Klöster, dass der einzelbiografische Ansatz in den schriftlichen Quellen fehlte. Zur Ereignis- und Institutionengeschichte liegt reichlich Material vor, zur Alltags-, Frömmigkeits- und Mentalitätsgeschichte der religiösen Frauengeschichte hingegen gibt es nur wenige Akten. Ohne diese Quellen können aber die Denk- und Handlungsmotive der einzelnen Schwestern nicht gezeigt und so die frauengeschichtlichen Aspekte der Kirchengeschichte nur ungenügend erforscht werden. Mir wurde bewusst, dass hier unbedingt mit Oral History gearbeitet werden muss.
Was ist Oral History?
Oral History ist ein methodisches Handwerkszeug, das sich eignet, einen perspektivischen Zugang zu einem Teil der religiösen Frauengeschichte zu erschliessen. Damit können die individuellen Denkwelten, auch das Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv, religiöser Frauen erstmals in den Fokus der Kirchengeschichtsforschung einbezogen werden. Historiografisch gesehen entspricht dieses Forschungsvorhaben einem weitgehenden Desiderat. Konkret erzählt die Schwester in einem ersten Teil frei. Sie entscheidet, wo sie beginnen will, wie sie ihre Erzählung strukturiert und was sie von sich preisgeben will. In einem zweiten Teil folgen Verständnisfragen zu den Hauptnarrativa und in einem dritten Teil stellt die Interviewerin Bezugsfragen zur Vertiefung und Erweiterung der Gesprächsinhalte. Da erzählte Erinnerungen beeinflusst sind vom aktuellen sozialen Umfeld und weiteren gruppendynamischen Faktoren, müssen diese mündlichen Quellen quellenkritisch erschlossen werden.
Gab es Schwierigkeiten in der Forschung?
Wirkliche Schwierigkeiten gab es keine. Es brauchte jedoch langwierige Vorbereitungen. So dauerte es manchmal lange, bis die Schwestern in die Interviews einwilligten, da sie zunächst die Notwendigkeit nicht sahen. Doch bei fast allen Interviews kam zum Schluss eine positive Rückmeldung. Die Schwestern schätzten es, dass ihnen jemand zugehört hatte, sie in ihrem letzten Lebensabschnitt von ihrer Lebensgeschichte erzählen konnten und sich so selbst nochmals darauf fokussieren konnten. Eine gewisse Schwierigkeit gab es beim Schreiben: Wir hatten uns verpflichtet, die Inhalte aus den Interviews weitgehend zu anonymisieren, damit eine Identifikation der einzelnen Respondentinnen auch für interne Kreise weitgehend ausgeschlossen werden kann. Dieser weitreichende Abstraktionsgrad in Sach-, Orts- oder Personenbezügen brachte gewisse Schwierigkeiten im Bemühen um eine möglichst präzise Darstellung mit sich. Als Drittes möchte ich meinen Respekt vor den Interviews selbst nennen. Mir war bewusst, dass ich als Oral Historian stets Teil dieses Interviews war und somit über die Interaktion mit der befragten Schwester an der Erinnerungsarbeit mitbeteiligt war.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?
Zunächst hat sich die These bestätigt, dass man fast alle Lebensgeschichten im ländlichen, katholisch sozialisierten Raum verorten konnte. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass es sich innerhalb einer Generation über alle Gemeinschaften hinweg um ähnliche Lebensläufe handelt, wenn doch jede einzelne Erzählung eine sehr individuelle Ausprägung hatte. Fast ausnahmslos handelte es sich um Erzählungen von Berufsbiografien oder um aus beruflicher Perspektive erzählte Lebensläufe, wobei die Erzählung der eigenen Kindheit oft fast einen Fünftel der Erzählung ausmachte. Es trat deutlich hervor, dass für viele Frauen die Erstmotivation für den Klostereintritt in der Berufsbildung und beruflichen Tätigkeit lag. Dies aber natürlich immer aus dem Gedanken der Nächstenliebe. Was für mich persönlich eher überraschend war: Die Schwestern wollten etwas für sich selbst. Dies wurde in den Gesprächen explizit so ausgedrückt. Sämtliche Narrative zeigen sich in der Selbstpräsentation als Erfolgsgeschichten, die durch Leistungen und Verantwortlichkeiten geprägt sind. Grösstenteils enthalten sie ausführliche Sequenzen zu positiv gerichteten Selbstreflexionen, zu strategischen und zielgerichteten Denk- und Handlungsmustern oder zu Situationen von gemeisterten Herausforderungen. War die Rede von Krankheit, Überforderung, zwischenmenschlichen Schwierigkeiten oder von Zweifeln, wurden auch diese Situationen generell in einer positiven Darstellungsweise erzählt, die übergeordnet in der Heilsgeschichte verortet wurde.
Gab es weitere Ähnlichkeiten?
Auffallend sind die ähnlichen Erzählstrukturen über diese 53 Interviews hinweg. Wobei hier der am meisten auftauchende Topos systembedingt ist: Eine autonome Planung des eigenen Lebensentwurfs wurde kaum erzählt oder als passives Element dargestellt. Hingegen wird die Deutung der Lebensgeschichte aus der rückblickenden Perspektive innerhalb eines rekonstruierenden Sinnzusammenhangs aktiv und affirmierend vorgenommen. Ein anderes Grundmuster konnte aus den Erzählstrukturen heraus analysiert werden, das sich im mündlichen Umgang mit der eigenen und kollektiven Frömmigkeits- und Religionspraxis zeigte. Dieser Bereich blieb wohl aufgrund der Selbstverständlichkeit einer der grossen Leerstellen innerhalb der freien Erzählung. Erst im zweiten Teil des teilstrukturierten Interviews, im stimulierten Gespräch, berichteten die Schwestern – nun überaus engagiert – über religiöse Themen. Weiter zeigten sich auffallend häufig begriffliche Stereotypen oder Erzähltopoi innerhalb unpersönlich formulierter Interpretationen wie «es war einfach so» oder «man hat es einfach gemacht». Da sich die meisten Respondentinnen zur Zeit der Interviewaufnahme im Pensionsalter befanden, bildete das Älterwerden einen weiteren grossen Erzählteil. Hier wurde vielfach die Gemeinschaft und damit die soziale und wirtschaftliche Absicherung als tragendes Element erwähnt, das die gemeinschaftsbedingten Einschränkungen durchwegs übertreffen würde.
Was in den Erzählungen hat Sie besonders beeindruckt, angesprochen, bedrückt?
Zunächst war ich beeindruckt von der allgemeinen grossen Offenheit unter den Schwestern in allen acht angefragten Gemeinschaften. Innerhalb der Erzählungen beeindruckte mich, wie fast ausnahmslos alle Erzählerinnen ihr Leben als ein gelungenes, in Gott getragenes darstellten, trotz teilweise herausfordernder Lebensverläufe, von denen die Schwestern berichteten. Fast alle gaben am Schluss des narrativen Teils an, diese Lebensform im Kloster wieder zu wählen bzw. keine Schwester gab an, nicht noch einmal ins Kloster eintreten zu wollen. Bei Berichten von gegenseitigen Unstimmigkeiten oder Verletzungen, die innerhalb von sozialen Gemeinschaften unvermeidbar sind, verknüpften die Erzählerinnen diese Begebenheiten gleichzeitig mit dem tiefen Wunsch oder der Bereitschaft zur Verzeihung oder Wiedergutmachung gegenüber der Mitschwester. Das stete Bemühen, nach den Gelübden und dem Evangelium zu leben, beeindruckte mich ebenfalls. Was ich nicht erwartet hatte, war das Selbstbewusstsein, mit dem die Schwestern im Interview auftraten. Es hat mich sehr gefreut, dass sie dieses Selbstbewusstsein entwickelt haben.
Können Sie das ausführen?
Die Schwestern waren bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts oft auch Managerinnen und besetzten Leitungsämter – lange bevor in der weltlichen Öffentlichkeit Frauen Führungspositionen übernahmen. Sie führten so mehrere Hundert Schwestern oder als Generaloberinnen der grossen Kongregationen gar mehrere Tausend Schwestern schweiz- und weltweit. Im Interview sprachen die Schwestern mit grosser Selbstverständlichkeit und oft auch Leichtigkeit über die enormen Arbeitspensen. Ferien oder freie Tage gab es normalerweise nicht. Oft musste eine Schwester von einem Tag zumanderen den Ort und die Arbeit wechseln. Umgekehrt konnte ich feststellen: Es handelte sich hier meist um Biografien, die über 60 bis 70 Jahre kontinuierliche Karriere- oder Berufsverläufe zeigten, weder durch Schwangerschaften noch Pensionierungen unterbrochen, da die meisten Schwestern bis ins hohe Alter für gewisse Aufgaben verantwortlich bleiben.
Interview: Rosmarie Schärer