«Die Kapelle ist nicht sehr hoch, aber geruhsam breit, wie ein alter, behäbiger Bergbauer in der Kirchenbank.»1 So beschreibt der damalige Kaplan Paul Steiner die Wallfahrtskirche «Unsere Liebe Frau vom Riedertal», die sich in einem kleinen Seitental oberhalb von Bürglen befindet.
Der Ursprung der Kapelle liegt im Dunkeln. Die Legende weiss zu erzählen, dass ein Hirtenjunge nie in die sonntägliche Messe kam. Vom Pfarrer zur Rede gestellt, erklärte er, dass im Riedertal sonntags Engel zu sehen seien. Einer würde die Messe feiern, die anderen wunderschön dazu singen. Der Pfarrer konnte nicht glauben, dass der Junge log, und so begab er sich am nächsten Sonntag selbst ins Riedertal. Engel sah er zwar keine, aber den Hirtenjungen tief in Andacht versunken. Kurz darauf fand man ein Marienbild in der Nähe. Für dieses wurde eine Kapelle gebaut.
Urkundlich wird die Kapelle erstmals 1535 erwähnt. Der Chor stammt aus dem Jahr 1545, das Kirchenschiff aus dem Jahr 1588. Die fast vollständige Ausmalung des Schiffs wurde 1645 fertiggestellt. Im 18. Jahrhundert wurde die Kapelle barockisiert. Um 1900 wollte man die Kapelle restaurieren, entdeckte dabei aber unter mehreren Putz- und Malschichten die heute sichtbaren Fresken2. Diese wurden freigelegt und der Originalzustand der Kapelle rekonstruiert.
Heitere Ruhe im Chorraum ...
Der Chor mit seinem eindrücklichen Rippengewölbe gilt als der schönste vollständig erhaltene gotische Innenraum im Kanton Uri. Über dem Hauptaltar thront das Gnadenbild der Schmerzhaften Mutter. Die Pietà, in den Jahren 1340–1350 von einem unbekannten Künstler geschaffen, steht vor einer goldenen Gloriole von schwertähnlichen Strahlen. Das Gnadenbild besticht durch seine Schlichtheit und das Lächeln der Muttergottes, das eine heitere Ruhe und Erhabenheit ausstrahlt. In der Mitte des Chorgewölbes erblicken wir die Krönung Mariens. An den beiden Seitenwänden sind die vier Evangelisten mit den ihnen zugeordneten Symbolen dargestellt. Im Chorbogen findet man das älteste Fresko: die Ermordung Abels durch Kain.
Der linke Seitenaltar zeigt die Pietà, der rechte stellt die «Dormitio» Mariens im Kreis der Apostel dar; Johannes reicht die Sterbekerzen, Petrus spendet Weihwasser mit dem Aspergill.
... Kampf um die Seelen im Kirchenschiff
Das Kirchenschiff stammt aus der Renaissance und ist von einem weiten Tonnengewölbe überspannt. Seine Fresken stammen aus dem Jahr 1592 und aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Das ganze Gewölbe zeigt eine einzige imposante Darstellung des Himmels. Ein mächtiges Kreuz, das seinen Anfang im Fegefeuer nimmt, geht durch die Erde bis zum Himmel hinauf. Auf Erden und im Himmel stehen die Erlösten beim Kreuz, im Himmel sind auch die Engel und Heiligen zu sehen. In den Stichkappen des Gewölbes sehen wir die zehn klugen und törichten Jungfrauen.
Die Seitenwände sind in 12 Felder unterteilt, in denen das Leben Jesu von der Verkündigung bis zur Auferstehung dargestellt wird. Aus den Fensternischen schauen Heilige ehrfürchtig zu.
An der Rückwand der Kirche erblicken wir eine wahrlich furchteinflössende Darstellung des Jüngsten Gerichts, in der Mitte der Weltenrichter, umgeben von fürbittenden Engeln und Heiligen. Am unteren mittleren Bildrand steigen die Toten aus ihren Gräbern – und sofort kämpfen Teufel und Engel um die Seelen der Verstorbenen. Auf der linken Seite ziehen die Seligen in das Tor des Himmels, auf der rechten Seite werden die Verdammten von Teufeln in das Maul einer furchtbaren Höllenbestie geworfen.
An den Seitenwänden finden sich viele z.T. sehr alte Votivtafeln. Kurioses Detail: An einem Strebebalken hängen sieben Kanonenkugeln. Diese wurden von Soldaten der Muttergottes gebracht aus Dank dafür, dass sie im Krieg von ihnen nicht getroffen wurden.
Aussen an der Südseite der Kapelle ist eine kleine Vorhalle angebracht, in der sich ein Bild mit der Anbetung der Könige befindet. Auf der Westseite findet man eine Kreuzigungsgruppe. Die Kapelle des ältesten Wallfahrtsortes im Kanton Uri wurde 2003 letztmals restauriert.
Rosmarie Schärer