Ist es nun ein Traum oder die Realität? Ist dies schon der Tod oder nur der Traum vom Tod? In Filmgeschichten sind die Grenzen zwischen Traum und Realität, zwischen Diesseits und Jenseits oft fliessend. Bereits im Weihnachtsfilmklassiker «It’s a wonderful life» (USA 1946, Regie: Frank Capra) wird der Figur des George Bailey, gespielt vom jungen James Stewart, durch den auf die Erde entsandten Schutzengel Clarence, der sich noch seine Flügel verdienen will, Einblick in das Leben aus göttlicher Perspektive gewährt: Wie sähe seine Stadt und das Leben der von ihm geliebten Menschen aus, wenn es ihn nicht gegeben hätte? Der Schutzengel wird zu George gesandt, als dieser beabsichtigt, sich das Leben zu nehmen, da er nicht nur sich, sondern scheinbar auch jede Menge Kleinanleger finanziell ruiniert hat. Dass der Wert des Lebens aber keinesfalls in wirtschaftlichen Dingen zu suchen ist, sondern vor allem durch Güte und liebevolles Miteinander bestimmt wird, zeigt dann die nachfolgende (Lebens-)Geschichte auf. Es ist ein Privileg, sozusagen von «oben» noch einmal das eigene Leben betrachten zu dürfen.
Was kommt danach?
Schon immer hat es Menschen fasziniert, hinter die Dinge zu schauen: Wie hängen Traum und Realität zusammen? Was passiert nach dem Tod? Wer oder was bestimmt unser Leben? Diese Fragen wurden in Film und Literatur in vielfältiger Art und Weise aufgegriffen. Im Fokus stand oft die Schwelle zwischen Leben und Tod. Was passiert, wenn Menschen diese Grenze überschreiten und wie sieht es dahinter aus? Kann man Einfluss auf die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Leben und Tod nehmen?
Traditionsgeschichtlich wird in solchen Geschichten zwischen Leben und Tod auf die theologische Lehre von den letzten Dingen zurückgegriffen: Der Mensch muss sich nach dem Tod für sein Leben verantworten (Ähnliches haben wir bereits bei George Bailey gesehen) und es fällt die Entscheidung, ob es noch der Läuterung bedarf, ob ewige Verdammnis droht oder aber Eingang in das Himmelreich gewährt wird. Klassischerweise beschäftigen sich die «letzten Dinge» mit den Ideen Gericht, Fegefeuer (besser: Purgatorium), Himmel und Hölle.
Erinnerungsarbeit
Filmerzählungen greifen aber selten explizit diesen Komplex der «letzten Dinge» auf, sondern widmen sich nur Teilaspekten, meistens in einer anthropologischen Perspektive. Interessanterweise spielt Bürokratie oft eine wichtige Rolle und die Verantwortung für das Leben gleicht der Steuererklärung beim Finanzamt. Schon in «It’s a wonderful life» wirkt der Engel Clarence wie ein Beamter auf Aussendienst, der die Bilanz wieder ins Reine bringen soll. Auch im Spielfilm «After Life» (Japan 1998, Regie: Hirokazu Kore-eda), der im Originaltitel auf Frank Capras Klassiker verweist, beginnt der Tag mit der Begrüssung des Mitarbeiterstabes durch den Vorgesetzten. Dieser weist darauf hin, dass in der vergangenen Woche alle 18 Verstorbenenfälle zufriedenstellend bearbeitet werden konnten, und gratuliert seinen Angestellten zur guten Arbeit. In dieser Woche seien es noch ein paar Fälle mehr, die man aber auch bewältigen werde. In der nächsten Szene sieht man Menschen durch eine Tür aus Licht treten. Sie werden in Einzelgesprächen darüber informiert, dass sie sich an diesem Ort eine Woche aufhalten werden, um sich ihren Erinnerungen zu widmen. Eine Erinnerung – die wertvollste und schönste – sollen sie bis Mitte der Woche auswählen. Mit dieser Erinnerung gehen die Menschen dann in die Ewigkeit ein. Die ganze erste Hälfte des Films sind nun Gespräche von Mitarbeitenden mit Verstorbenen unterschiedlichen Alters zu sehen. Sie erzählen von ihrem Leben und sprechen von Erinnerungen: ein kindlicher Tanz im Sonntagskleid, das Erlebnis eines Cessna-Fluges durchs Wolkenmeer oder das Gefühl eines sommerlichen Lufthauchs im Nacken. Während ein Mann darauf besteht, dass das schönste Erlebnis doch immer der Beischlaf mit einer Frau sei, erzählt ein junges Mädchen vom Besuch in Disney World. Ein älterer Herr entgegnet auf die Frage, ob seine Ehe glücklich gewesen sei, dass dies in Zeiten der arrangierten Ehen nicht die entscheidende Frage war. Er und seine Frau seien zufrieden gewesen und es hätte ihnen an nichts gefehlt. Der junge Mitarbeiter entgegnet: «Ja, so war das wohl in unserer Generation.» Auf den erstaunten Blick des alten Mannes sagt der Mitarbeiter, dass auch er im Jahre 1923 geboren sei, aber als junger Soldat 1945 im Krieg getötet wurde. Nun sei er für immer 22 Jahre alt.
Zeit und Raum – der eigentliche Handlungsort ist ein schmuckloses altes Schulgebäude, das in einem Nirgendwo steht – scheinen aufgehoben und fliessen ineinander. Es bleiben Gefühle und Beziehungen, die prägend gewirkt haben. Die abgelegte Rechenschaft betrifft aber nicht das Gute oder Böse, sondern die Konfrontation mit den eigenen Erinnerungen.
Neubewertung des eigenen Lebens
Einen vergleichbaren Ansatz wählt auch der Animationsfilm «Soul» (USA 2020, Regie: Pete Docter). Ein New Yorker Pianist, Joe Gardner, der schon sein ganzes Leben vom grossen Bühneauftritt träumt und sich zwischenzeitlich als Musiklehrer verdingt, hat ausgerechnet an dem Tag einen tödlichen Unfall, als ein Jazz-Engagement zum Greifen nah ist. Joe findet sich plötzlich auf einer Art Laufband wieder, das hinein in gleissendes Licht führt. Er flüchtet in die entgegengesetzte Richtung, da er noch nicht bereit ist zu gehen – nicht am Tag vor seinem grossen Auftritt. Durch einen Sturz ins Bodenlose gerät er in eine fantastisch anmutende bunte und fröhliche Welt. Ein kubistisch-kunstvoll gestaltetes Strichmännchen-Wesen mit Namen Jerry erläutert ihm, er sei nun im «Davorseits». Dies sei jener Ort, an dem die noch ungeborenen Seelen ihre letzten Zugaben für das bevorstehende Erdendasein erhalten. Durch eine Verwechslung wird Joe zum «Mentor», er soll helfen, eine Seele auf ihre Erdenzeit vorzubereiten. Sein eigenes Leben dient dafür als Inspiration. Aber der Blick auf das eigene Leben wirkt ernüchternd, denn es erscheint als eine Zeit verpasster Chancen. Für Verwirrung sorgt derweil das Fehlen von Joe im Jenseits. Interessanterweise hat auch das «Davorseits» etwas von einer Behörde, denn es gibt einen Buchhalter, der penibel genau alle Seelen zählt, die ins Jenseits eingehen – und eine fehlt. Im «Davorseits» wiederum regeln die verschiedenen «Jerrys» (alle Mitarbeitenden tragen den gleichen Namen) die Vorbereitung und den Zugang der ungeborenen Seelen zur Erde.
Sowohl in «After Life» als auch in «Soul» spielen die Erinnerungen und die persönlichen Bewertungen des eigenen Lebens eine zentrale Rolle. Es gibt kein himmlisches Gericht, welches Urteile fällt, sondern es sind die Menschen selbst, die – mithilfe von Behörden und Mitarbeitenden – erkennen müssen, was in ihrem Leben wertvoll war. Auch Joe Gardner in «Soul» muss erst eine ungewöhnliche Erdenreise im Körper einer Katze absolvieren, um zu erkennen, dass er zahlreiche Kleinigkeiten übersehen hat, während er ständig seinem grossen Traum nachjagte. Mit dieser Erkenntnis kann er nicht nur als Mentor segensreich wirken, sondern beginnt am Ende des Films sein Leben von Neuem.
Einander erlösen
Es ist in den verschiedenen Geschichten immer das Vergangene, welches die Gegenwart bestimmt, und es sind die Personen selbst, die im Umgang mit dem vergangenen Geschehen nun den nächsten Schritt in eine unbestimmte Zukunft machen müssen. Die Kategorien «Himmel» oder «Hölle» sowie die Vorstellung eines Gerichtes werden selten explizit erwähnt oder dargestellt. Eine Ausnahme bietet der Film «Hinter dem Horizont» (Originaltitel: «What dreams may come», USA 1998, Regie: Vincent Ward). Eine amerikanische Bilderbuchfamilie (Vater, Mutter, Sohn und Tochter) erleidet nacheinander mehrere Schicksalsschläge: Zuerst sterben die beiden Kinder bei einem Autounfall, einige Jahre später stirbt auch der Mann, erneut durch einen Verkehrsunfall. Im Zentrum des Films steht vor allem die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Erzählung setzt ein, als Chris und Annie sich in romantischer Umgebung in der Schweiz kennenlernen. Sowohl der Ort als auch die Beziehung der beiden ist nun prägend für die Existenz des Mannes Chris in «seinem» Himmel, der gestaltet ist wie impressionistische oder romantische Kunstwerke. Irritierend ist jedoch, dass auch hier Gott nur eine Erwähnung findet als derjenige, der «da oben ist und über alle wacht», aber für das Geschehen selbst anscheinend keine Rolle spielt. Chris hat Sehnsucht nach seiner (noch lebenden) Frau Annie und möchte auch seine Kinder im Jenseits wiedersehen. Aber erst als auch Annie sich in ihrer Trauer das Leben nimmt, bricht Chris auf, um seine geliebte Partnerin aus der selbst gewählten Isolation zu befreien, gemeinhin als «Hölle» bezeichnet. Die impressionistisch-romantischen Hintergründe wechseln zu Bildwelten eines Hieronymus Bosch oder eines Pieter Bruegel. Der Film wird düster, aber auch spannender, da es nun um etwas geht, die Erlösung steht auf dem Spiel. Auch vergangene Konflikte mit den Kindern werden nun in den begleitenden Personen sichtbar und Chris muss sich seinen Erinnerungen schonungslos stellen. Schon einmal hat die Liebe zwischen Chris und Annie über den Verlust der Kinder hinweggeholfen und einen Neuanfang ermöglicht.
Das Jenseits in «Hinter dem Horizont» speist sich aus den Bildern, die das Leben von Chris und Annie, die als Restauratorin und Kuratorin tätig war, geprägt haben. Sicherlich stand neben der bildenden Kunst auch Dantes «Göttliche Komödie» Pate. Die Erlösung aus der «Hölle» gelingt, weil der selbstlos liebende Chris nicht bereit ist, seine geliebte Annie aufzugeben, und weil es ihm gelingt, sich mit seinen Kindern zu versöhnen. Einer Präsenz Gottes, wie es das Weltgericht nach Mt 25 vorsieht, bedarf es dafür nicht.
Abhängig von Lebenden
Auf dieser Linie ist es nur konsequent, wenn in der Serie «Upload» (USA 2020, Regie: Jeffrey Blitz) das Jenseits ein von Menschen gemachter virtueller, geschäftlich vermarkterer Raum ist, in welchem das Bewusstsein klinisch Toter weiter existieren kann – je nach gewählter «Upload-Class» eher luxuriös oder vergleichsweise ärmlich. Die Toten sind von den Kreditkarten der Lebenden abhängig.
Ein anderes Extrem stellen «faith-based movies» dar, denen daran gelegen ist, die Glaubensbotschaft einfach und unmissverständlich über jeden Zweifel hinweg als bestärkende Geschichte zu vermitteln. In «Den Himmel gibt’s echt» (USA 2014, Regie: Randall Wallace) wird daher das Nahtoderlebnis eines Vierjährigen zuerst zum Stolperstein für den Vater, der zugleich Pastor ist. Schliesslich werden aber durch den unerschütterlichen Glauben und das wundersame Handeln des Kindes der Pastor und seine Gemeinde zu neuem und stärkerem Glauben geführt. Zweifel sind dann nur noch etwas für Unverbesserliche.
George Bailey, der Held aus «It’s a wonderful life», hat noch Zeit, bis er ins Jenseits gelangt. Er erkennt durch den göttlichen Blick den Reichtum seines bisherigen Lebens. Die Erinnerungen an das kleine grosse Glück im Laufe seiner Biografie lassen ihn die Welt und die Menschen um ihn herum ganz neu sehen. Nicht die «letzten», sondern die entscheidenden Dinge führen zu Veränderungen. Vielleicht ist das eine der grossen Leistungen von Filmgeschichten: die Menschen und das Leben neu sehen lernen, noch bevor eine letzte Bilanz gezogen wird. Allerdings im Diesseits! Jetzt!
Martin Ostermann